Rezension über:

Daniela Münkel (Bearb.): Die DDR im Blick der Stasi 1961. Die geheimen Berichte an die SED-Führung, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2011, 322 S., 6 s/w-Abb., eine CD-ROM, ISBN 978-3-525-37503-7, EUR 29,95
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Rezension von:
Elke Stadelmann-Wenz
Freie Universität Berlin / Leuphana Universität, Lüneburg
Redaktionelle Betreuung:
Dierk Hoffmann / Hermann Wentker im Auftrag der Redaktion der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte
Empfohlene Zitierweise:
Elke Stadelmann-Wenz: Rezension von: Daniela Münkel (Bearb.): Die DDR im Blick der Stasi 1961. Die geheimen Berichte an die SED-Führung, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2011, in: sehepunkte 12 (2012), Nr. 1 [15.01.2012], URL: https://www.sehepunkte.de
/2012/01/20274.html


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Daniela Münkel (Bearb.): Die DDR im Blick der Stasi 1961

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1961 war für die deutsch-deutsche Geschichte ein besonderes Jahr. Die Grenzsperrung am 13. August, als heimlicher Gründungstag der DDR interpretiert, war für den Einzelnen, aber auch für die gesamte Gesellschaft im ostdeutschen Teilstaat - zum Teil auch in der Bundesrepublik - eine zutiefst prägende Zäsur, deren Auswirkungen sogar über die friedliche Revolution von 1989 hinaus spürbar waren. Die Mauer in Berlin, das Symbol für den Kalten Krieg, zementierte die deutsche Teilung. Sie war der Höhepunkt einer politischen und wirtschaftlichen Legitimationskrise des SED-Regimes im Übergang von den 1950er zu den 1960er Jahren. Ökonomisch resultierten die Probleme aus den Folgen des Zweiten Weltkriegs, den weitreichenden gesellschaftlichen Transformationsprozessen und den erheblichen Defiziten des Planungssystems in der DDR. Darüber hinaus hatten die repressiven Strukturen eines Regimes mit absolutem Führungsanspruch seit 1949 zu einer sich steigernden Fluchtbewegung in Richtung Westen beigetragen. Nachdem bereits in den 1950er Jahren die innerdeutsche Grenze zunehmend gegen Fluchtversuche abgesichert worden war, bot nur noch die Sektorengrenze in Berlin ein Schlupfloch in die Freiheit. Die Sperrung der innerstädtischen Grenze im August 1961 demonstrierte die scheinbar unbegrenzte Machtfülle der SED-Führung, bedeutete jedoch auch die Bankrotterklärung eines Regimes, das die eigene Bevölkerung nur noch durch Mauer und Stacheldraht im Land halten konnte.

Diesem Jahr widmet sich der kürzlich erschienene dritte Band eines Editionsprojekts aus der Behörde des Bundesbeauftragten für die Unterlagen der Staatssicherheit in der ehemaligen DDR, das die Veröffentlichung der geheimen Berichte der "Zentralen Auswertungs- und Informationsgruppe" (ZAIG) des Ministeriums für Staatssicherheit an einen wechselnden Kreis in der Partei- und Staatsführung zwischen 1953 und 1989 in 36 Bänden vorsieht. Für die Jahre 1976 und 1988 liegen bereits die entsprechenden Publikationen vor. Nun stehen 50 Jahre nach der Absperrung der Sektorengrenze in Berlin auch die überlieferten 260 geheimen Berichte des MfS aus dem Jahr 1961 zur Verfügung. Wie in den bereits veröffentlichten Bänden sind eine Auswahl der Berichte in gedruckter Form sowie der komplette Jahrgang als Datenbank auf einer beiliegenden CD-Rom enthalten. Damit wird dem Leser ein schneller und bequemer Zugriff auf die Texte durch die Stichwortsuche ermöglicht.

Vorwort und Einleitung führen zunächst in die Struktur und die Aufgaben der ZAIG von 1953 bis 1989, in den historischen Kontext und in die thematischen Schwerpunkte, auf die sich die Berichte beziehen, ein. Wie die Herausgeberin der Gesamtedition und Bearbeiterin des vorliegenden Bandes, Daniela Münkel, konstatiert, war die Grenzsperrung das "bestimmende Thema" in den Berichten der Staatssicherheit des Jahres 1961 (12). Daher widmet sich die Mehrzahl der Informationen den Reaktionen nach dem Mauerbau. Hier lag die besondere Herausforderung für die Mitarbeiter des MfS, galt es doch über die Stimmung unter der Bevölkerung an die Partei- und Staatsführung lückenlos zu berichten.

Interessant sind zunächst jene Informationen, die sich mit der Durchführung der Grenzsperrung am 13. August und den Reaktionen in den Tagen danach befassen. Dazu gehören bislang unbekannte Berichte, die erst im Zuge der Recherche in einem noch unerschlossenen Teilbestand gefunden wurden. Bereits am 14. August deutete das MfS beispielsweise in einem Bericht an, Gegenmaßnahmen durch die westlichen Alliierten seien nicht zu erwarten. Die Informationsquellen für diese Meldung reichen bis in die oberen Ebenen der alliierten Westmächte, der Bundesregierung und des West-Berliner Senats. Die Abriegelung der Berliner Sektorengrenze stoppte zwar die massenhafte Fluchtbewegung, konnte jedoch nicht verhindern, dass weiterhin Menschen versuchten, die Absperrungen zu überwinden. So nimmt auch nach dem 13. August die Berichterstattung über Fluchtversuche einen breiten Raum ein. Neben der Rekonstruktion konkreter Fälle ging es hierbei vor allem um das zunehmende Problem der Fluchthilfe aus West-Berlin, um die Verbesserung der Grenzsicherung sowie um die Beobachtung und Verhinderung von potenziellen Fluchtplänen.

Darüber hinaus enthalten die Berichte Informationen über unterschiedliche Problemfelder, die, wie während der gesamten SED-Herrschaft, auch im Jahr des Mauerbaus in allen politischen, ökonomischen und gesellschaftlichen Bereichen vorhanden waren. So hatte beispielsweise im Agrarsektor die Zwangskollektivierung die bereits vorhandenen Defizite noch weiter verschärft. Die anhaltende Verweigerung der gemeinsamen Bodenbewirtschaftung und die zahlreichen Austritte aus den Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften zu Beginn des Jahres 1961 belegen die Unzufriedenheit, aber auch den eigenwilligen Umgang der ländlichen Bevölkerung mit den Zwängen des Kollektivierungsprozesses. Anfang Juni 1961 erhoben die Berichterstatter des MfS deutliche Vorwürfe gegenüber den für die Landwirtschaft zuständigen Behörden auf Kreis- und Bezirks- sowie auf nationaler Ebene. Grundlage dieser Vorwürfe seien fehlerhafte Zahlen und Daten, die nicht dem tatsächlichen Zustand der Genossenschaftsarbeit entsprochen hätten. Die Kritik bezieht sich ebenso auf die zentrale Staats- und Parteiebene und somit auch auf den zuständigen ZK-Sekretär, Gerhard Grüneberg, der diese Information laut "Verteiler" ebenfalls erhalten hat (Information 278/61). Die Staatssicherheit erschien in diesem Bericht, wie in vielen anderen auch, gleich in doppelter Funktion, als Kontrolleur und Überwacher, der Fehler und Mängel im Partei- und Staatsapparat aufdeckte und benannte. Für die vorhandenen Probleme in der Landwirtschaft bot das MfS Lösungen an und setzte diese dann auch durch den Einsatz von Mitarbeitern vor Ort durch.

Bemerkenswert ist, dass die Edition 64 Berichte enthält, die nicht an führende Funktionäre im Partei- und Staatsapparat weitergegeben wurden. Die überwiegende Mehrheit davon entstand nach dem 13. August 1961. Münkel geht davon aus, dass zumindest Ulbricht und Honecker in diesen Fällen von Mielke informiert wurden. Ebenso belegt sie, dass diese Berichte als Grundlagen für Entscheidungen im Politbüro der SED sowie im Zentralen Einsatzstab für die Durchführung der Grenzsperrung benutzt wurden, was ihre herausragende Bedeutung innerhalb des Partei- und Staatsapparates unterstreicht.

Wenn auch die Berichte keinen Anlass zu einer grundlegenden Neubewertung der Staatssicherheit bzw. des Jahres 1961 bieten, so liefert die Quellenedition doch zentrale Einsichten in das Selbstverständnis der Staatssicherheit und in den Umgang des Ministeriums mit verschiedenen Problembereichen in der DDR. Zusammen mit den noch zu erwartenden Jahrgängen wirft die gesamte Quellenedition vor allem Fragen auf zu den Beziehungen zwischen MfS und SED bzw. dem Staatsapparat - beispielsweise im Hinblick auf die Verteilung dieser Berichte an die Partei- und Staatsführung. Lassen sich hier eventuell Konjunkturen einer Beziehung feststellen? Auf jeden Fall ist die vorliegende Publikation, wie auch die bereits erschienenen und noch zu erwartenden Bände, für die politische Bildung und die wissenschaftliche Forschung unverzichtbar.

Elke Stadelmann-Wenz