Geschenktipps zu Weihnachten

Johannes Paulmann, Bremen



Wer denn auch zu Weihnachten partout nicht von der Geschichte lassen möchte, dem seien die folgenden Bücher empfohlen: zu genießen in umgekehrter Reihenfolge und mit zunehmenden Abstand zum Heiligen Abend.

C.A. Bayly: The Birth of the Modern World, 1780-1914. Global Connections and Comparisons (= The Blackwell History of the World), Oxford: Blackwell Publishers 2004.

Ein Buch mit weitem Horizont: Christopher Bayly reflektiert über die Entstehung der modernen Welt während des langen 19. Jahrhunderts. Entlang mehrerer Wendezeiten - von der revolutionären Krise 1780-1820 bis zur großen Beschleunigungsphase 1890-1914 - behandelt der Autor zentrale Themen wie den Aufstieg des modernen Staates, den Fortschritt der Industriewirtschaft, den Nationalismus oder die "Weltreiche" der Religionen. Weltgeschichte wird dabei nicht mit dem Bügeleisen der Globalisierung geglättet. Bayly erzählt weder eine Geschichte der Logik des Industriekapitalismus noch eine der Rationalität, die sich modernisierend von Europa und Nordamerika aus verbreitete. Vielmehr erläutert er durchgehend die wechselseitigen Verbindungen zwischen verschiedenen Weltregionen und -kulturen; er vergleicht immer wieder, um Gemeinsamkeiten, aber auch fortbestehende und neue Unterschiede hervorzuheben. Die Transformation von den alten Regimen zur Moderne sieht der Autor als einen Wandel, der von verschiedenen, eben auch nichteuropäischen Zentren ausging, und der auf dem Zusammenwirken von Ökonomie, Ideologie und Staatsorganisation beruhte. Bayly zeigt überzeugend, dass eine Geschichte, die Beziehungen, Austausch und Netzwerke in den Vordergrund rückt, dennoch nicht die Frage von Macht ausklammern muss. Die westliche Vorherrschaft erscheint dann aber weniger der Singularität Europas oder der Vereinigten Staaten geschuldet, als vielmehr dem glücklichen Zusammentreffen verschiedener Umstände. Zugleich erlaubt eine solche Perspektive ohne zentralen, europäischen Fluchtpunkt, Widerstände nicht nur als letztendlich zum Scheitern verurteilte ehrenhafte Aktionen zu feiern. Betont werden vielmehr die Brüchigkeit der Vorherrschaft auf der einen und die Anpassungsleistungen auf der anderen Seite. Das Buch ist keine leichte Lektüre für den Einsteiger, macht sich aber gut auf dem Gabentisch und liest sich dann wohl besser am Schreibtisch. Wer sich, in welchem Bereich auch immer, für das 19. Jahrhundert interessiert, der sollte zumindest nach Weihnachten in dem Buch lesen. Der weite Horizont schärft den Blick auch für das Naheliegende.


Andreas W. Daum: Kennedy in Berlin. Politik, Kultur und Emotionen im Kalten Krieg, Paderborn: Schöningh 2003.

Ein Buch über eine historische Inszenierung, das Horizonte aufreißt: Der Besuch John F. Kennedys in Berlin im Juni 1963 war ein weltpolitisches Theaterstück auf der West-Berliner Lokalbühne. Andreas Daum hat das Drehbuch, die Inszenierung und den dramatischen Höhepunkt wie auch die Reaktionen auf die Vorstellung intensiv aus den Quellen erforscht. Seine Darstellung ist sehr gut geschrieben, sie liest sich spannend - auch durch den bewussten Gebrauch des Präsens an bestimmten Stellen -, ohne die ordnende Analyse des rückblickenden Historikers vergessen zu lassen. Die Politik der Sichtbarkeit und die Rolle der Medien, die emotionalen Zuschreibungen, aber auch das gesprochene Wort kennzeichneten das historische Ereignis. Das Werk Daums beschränkt sich jedoch nicht auf eine erläuternde und Vergessenes rekonstruierende Erzählung einer Episode aus dem Kalten Krieg. Gekonnt bettet er den Präsidentenbesuch in die transatlantischen Beziehungen der Nachkriegszeit ein. Die Mikrogeschichte zeigt die makrohistorischen Bedingungen der Epoche. Anhand der besonderen Beziehungen Amerikas zu Berlin, die der Autor im Begriff von Amerikas Berlin fasst, wird verdeutlicht, dass die (west)deutsche Entwicklung nach 1945 nicht allein aus der deutschen Geschichte erklärt werden kann. Sie war vielmehr mit Politik und Kultur anderer Länder - hier der USA - verflochten. Der kulturgeschichtliche Ansatz des Autors ermöglicht eine wesentliche Erweiterung unseres Verständnisses der Westbindung. Verdichtete Kommunikation, gesellschaftliche Netzwerke und wechselseitige politische Erwartungen, die in Kennedys symbolischer Politik im Juni 1963 einen besonders erinnerungswerten Ausdruck fanden, ermöglichten erst den Erfolg der Ankoppelung der Bundesrepublik an die westliche Welt. Daum erweitert mit seinem Buch schließlich auch den historiographischen Horizont der Geschichte internationaler Beziehungen. Modellhaft führt er vor, wie wir transnationale Erlebnisse der Vergemeinschaftung untersuchen können und welche Rolle sie für die Beziehungen zwischen demokratischen Gesellschaften spielen. Dieses Anliegen ist unaufgeregt, aber eindringlich vorgetragen: ein ernsthaftes Buch, das man jederzeit, auch an Weihnachten im Sessel sitzend, mit Gewinn lesen kann.


Mark Roseman: In einem unbewachten Augenblick. Eine Frau überlebt im Untergrund. Aus dem Englischen von Astrid Becker, Berlin: Aufbau-Verlag 2002.

Ein Buch über verborgene Vergangenheit und historische Spurensuche: Mark Roseman hat die Biographie einer Frau geschrieben, die - Tochter einer jüdischen Familie aus Essen - das 'Dritte Reich' ab 1943 im Untergrund überlebte. Der vordergründige Reiz der Geschichte ist offensichtlich: Wir möchten natürlich erfahren, welchen gefährlichen Situationen die "Heldin" ausgesetzt war, wie sie diese bewältigte, wer ihr half und wer nicht. Die Lebensgeschichte von Marianne Strauß bietet damit zugleich einen Zugang zur deutschen Gesellschaft in der Zeit des Nationalsozialismus, insbesondere während der Kriegsjahre. Roseman nutzt diese Möglichkeit und kann so manche allgemeine Einsicht vermitteln. Für wirklich herausragend halte ich das Buch allerdings, weil der Autor die Verantwortung eines Historikers im Umgang mit vergangenen Menschenleben durch seine Darstellung bewusst macht und ausdrücklich immer wieder reflektiert. Der Doppelsinn des englischen Originaltitels "The Past in Hiding" verweist auf die tieferen Dimensionen des Buchs. Es ist keineswegs nur die detektivische Arbeit, die damit gemeint ist und der es immer bedarf, um die Vergangenheit aus Gesprächen, Briefen, Tagebüchern, Zeugnisses von Zeitgenossen und Akten zu rekonstruieren. Die Vergangenheit ist nämlich auch von Marianne selbst (un)bewusst verborgen worden, die jene schlimmen Jahre nicht nur überlebte, sondern auch danach mit ihrer Vergangenheit leben musste. Sie hat ihre Geschichte dem neugierigen Forscher nur allmählich und nie ganz gezeigt. Roseman respektiert dies, einfühlsam nähert er sich dem Verborgenen. Ebenso behutsam korrigiert er die Erinnerung seiner Hauptperson, die an zentralen Punkten offensichtlich nicht stimmt - oder besser formuliert: er beleuchtet die Erinnerung, die nicht mit dem Geschehenen übereinstimmt, die aber das Selbsterlebte und das eigene Handeln stimmig gemacht hat, damit Marianne weiterleben konnte. An diesem beispielhaften Leben wird nicht nur allgemein die Brüchigkeit der Erinnerung von Zeitzeugen deutlich, sondern ihre unvermeidliche Veränderbarkeit: ein bewegendes Buch, das Historikerinnen und Historiker zur selbstkritischen Reflexion mahnt und damit uns professionellen Besserwissern vielleicht einen guten Vorsatz für das nach Weihnachten anbrechende Neue Jahr bereit hält.


Iain Pears: An Instance of the Fingerpost, London: Vintage 1998.

Ein Buch, das glaubhaft vier verschiedene Versionen zu ein und demselben Ereignis präsentiert: Das Geschehen spielt in Oxford in den sechziger Jahren des 17. Jahrhunderts. Im Mittelpunkt steht eine junge Frau, die des Mordes an einem Fellow von New College bezichtigt wird. Der historische Roman ist eine spannende Kriminalgeschichte und eine genauso spannende Einführung in die unruhige Zeit der englischen Restauration nach dem Bürgerkrieg. Fast beiläufig und nie ablenkend oder gar ermüdend führt Iain Pears, seines Zeichens ausgebildeter Kunsthistoriker, mit Hilfe der Handlung und der Figuren in die umwälzenden, krisenhaften Vorgänge der Epoche ein. Die bewegenden Fragen der Zeit zu Wissenschaft, Religion und Politik sind geschickt mit den Problemen von Verrat, Lust und Mord verwoben. Bei den Romanfiguren handelt es sich zum Teil um historische Persönlichkeiten, teilweise sind sie nach bestimmten Vorbildern konstruiert oder realitätsnah erfunden. Vier Zeugen, die tatsächlich alle auf irgendeine Weise in die Angelegenheit involviert waren, berichten nacheinander, was sie über den Fall zu wissen meinen: zunächst der venezianische Kaufmannssohn und Scholar Marco da Cola, der sich in seinem Manuskript zugleich rühmt, der eigentliche Erfinder der Bluttransfusion zu sein. Dann hat John Prescott, Sohn eines angeblichen Verräters der royalistischen Partei aus der Bürgerkriegszeit, das Wort und erklärt, wie der Fall mit der Geschichte seines Vaters und dessen tatsächlicher Unschuld zusammenhängt. Anschließend deckt John Wallis die Vorgänge auf, wozu er sich als Mathematiker, Theologe und Chefentschlüsseler geheimer Nachrichten unter Cromwell wie unter Charles II. besonders berufen fühlt. Am Ende erzählt Anthony Wood, berühmter Historiker Oxfords, was er mit Hilfe der voranstehenden Zeugenberichte und durch Aktenstudium herausgefunden hat. Der Historiker wird von allen gleichermaßen als Langweiler und Pedant geschildert, und er bekennt selbst auch, dass seinem Leben der äußere Glanz fehle. Doch dahinter verbergen sich emotionale Höhen und Tiefen ungeahnter Art! Unterhaltsamer als mit diesem Buch - das in jeder Lage, auch unter dem Weihnachtsbaum liegend, weitergelesen werden muss, sobald man es einmal begonnen hat - kann man wohl nicht in zentrale Probleme des 17. Jahrhunderts eingeführt werden. Die eigentlich spannende Frage, die am Ende bleibt, ob der Historiker Wood mit seiner Version recht hat, müssen die Leserinnen und Leser selbst entscheiden.


Und wem auch das letztgenannte Buch noch zu nahe am Ernst der Geschichte liegt und zu wenig Kontrast zum Fest bietet, der schaue sich doch die folgende, mit einem Oscar ausgezeichnete Dokumentation an:

When We Were Kings (1996; DVD 1999); Starring: Muhammed Ali, George Forman; Director: Leon Gast; Soundtrack Featuring: James Brown, B.B. King et al. (ca. 84 Min.)

Vor 30 Jahren kämpften Muhammed Ali und George Forman in Kinshasa, Zaire, um die Weltmeisterschaft im Schwergewicht. Die schon 1974 geschossenen Aufnahmen konnte Leon Gast erst mehr als zwanzig Jahre später zu einer Dokumentation zusammenfügen. Der Film vermittelt einen bewegten Einblick in die Geschichte afro-amerikanischer Identitätssuche. Ein Werbeplakat für das Ereignis verkündete damals die Fortschrittsdevise "From Slaveship to Championship". Konkret hieß dies, dass zwei schwarze Amerikaner im autoritären Zaire Mobutus nach allen Regeln der Kunst aufeinander einschlugen. Ali verstand es, sich als der emanzipierte, wirkliche Afrikaner darzustellen, während Foreman mit seinem Schäferhund in die Nähe der ehemaligen belgischen Kolonialherren gerückt wurde. Der Boxkampf ist fast nebensächlich - die Kombattanten mussten aufgrund unvorhergesehener Widrigkeiten mehrere Wochen warten, bis sie in den Ring steigen durften. In der Zwischenzeit flog der Promoter bekannte Musiker wie James Brown und B.B. King ein, die zusammen mit afrikanischen Musikern auftraten. Man kann sich den Film also sehr gut auch anschauen, wenn man wie der Schreiber dieser Zeilen für Boxen wenig übrig hat. Ali kämpft ohnehin viel mit Worten, in und außerhalb des Rings, und ist wenn nicht hinreißend, so doch mitreißend. Norman Mailer kommentierte 1974 und wieder 1996 im Rückblick den sogen. "Rumble in the Jungle". Alle Assoziationen mit Weihnachten sind freie Verknüpfungen. Fröhliche Feiertage!