Geschenktipps zu Weihnachten

Wolfram Siemann, München



Johannes Fried: Der Schleier der Erinnerung. Grundzüge einer historischen Memorik. München: C. H. Beck 2004.

"Ich bin mein Gedächtnis" - dieser Eröffnungssatz liest sich anders als Thomas Nipperdeys berühmter Introitus "Am Anfang war Napoleon" und ist deshalb ungewöhnlich aus der Hand eines Historikers. Hier wagt ein Autor, über die engen Schranken der Fachwissenschaft hinaus zu greifen und die Hirnforschung zu einer Nachbarwissenschaft seines Faches zu erklären. Er will die revolutionären Fortschritte in den Neurowissenschaften auf ihre Tauglichkeit und Bedeutsamkeit für eine neuartige Historik befragen. Der Frankfurter Historiker Johannes Fried entwickelt als Erster in einem großartigen Entwurf eine eigenständige Memorik der Geschichtswissenschaft. Nach dem linguistic turn und dem spacial turn sind nicht mehr Sprache oder Raum letzter Bezugspunkt, sondern die Gedächtnisleistung des menschlichen Gehirns. Als Weihnachtslektüre sei dieses bedeutsame Buch empfohlen, weil es den Historiker und die Historikerin aus den engen Kammern ihrer Disziplin heraushebt und sie ermuntern, sich (wieder) einmal in die luftigeren Höhen assoziativen, das heißt kombinatorischen Reflektierens zu erheben, und das verlangt Muße und den Verlust allgegenwärtiger Zweckorientierung. Der geschichtlich denkende und arbeitende Leser wird auf den Pfad gelockt, der Frage nach den Grundlagen und Grenzen seiner Erkenntnis zu folgen. Er taucht ein in die spannenden Verzweigungen zwischen individuellem, kollektivem und kulturellem Gedächtnis und gerät dabei vielfach in die Gefilde der Kulturanthropologie und Ethnologie.

Das Buch variiert auf originelle zeitgemäße Weise die methodologische Grunderkenntnis: "Gegenwart pur zu erfassen ist uns schlechthin unmöglich. Sie ist genau genommen eine Fiktion" (S. 18); Immanuel Kant, in dessen Nachfolge Arthur Schopenhauer, Max Weber und unter den Historikern Johann Gustav Droysen hatten bereits auf das subjektiv Konstrukthafte menschlichen Wissens und historischen Erkennens hingewiesen. Der 'Stoff' Geschichte wird bei Fried zum Exempel für das Problem jeglicher Wissensverwaltung und jeglichen 'Wissensmanagements'. Das Buch provoziert, weil es den Geschichtsforschern, unter denen manche etwas säuerlich reagieren, die Klippen und Schwächen ihrer Arbeit vor Augen hält und postuliert, durch diese Art der "systematischen Gedächtnisforschung" besser und mehr erkennen können. Wenn man auch nicht allen kritischen Schlussfolgerungen Frieds folgen mag (für ihn als Mediävisten ist die mündlich erworbene Überlieferung dominant), muss seine eindringliche Auseinandersetzung mit der "deformierenden Veränderungsdynamik der Erinnerung" (S. 24) sehr ernst genommen werden. Dass dies dank vielen historischen Beispielen auf plastische und stellenweise unterhaltsame Weise geschieht, empfiehlt dieses Buch außerdem als Lektüre abseits der Diensträume, obwohl es in diesen stehen sollte.


Manfred Spitzer: Lernen. Gehirnforschung und die Schule des Lebens. Heidelberg, Berlin: Spektrum, Akademie Verlag 2002, korrig. Nachdr. 2003.

Während Fried die Konsequenzen der Hirnforschung für die kulturorientierten Wissenschaften auseinandersetzt, zeigt Spitzer noch elementarer die Folgen für Erziehung, Lernen und Lehren. Jeder Einzelne ringt immer mehr mit der geradezu explodierenden Wissensflut, im Alltag ebenso wie in den Regalen der wissenschaftlichen Neuerscheinungen. Nicht Anhäufung von Wissen, sondern dessen Auswahl erweist den Könner. Diese inzwischen triviale Erfahrung lässt sich besser meistern, wenn man die Eigenart des menschlichen Gehirns als "Regelextraktionsmaschine" (S. 75) beachtet. Der Ulmer Psychiater und Neurologe Manfred Spitzer erläutert anschaulich und auch dem Laien höchst verständlich, wie das Lernen und Verarbeiten von 'Wirklichkeit' durch die Kräfte und Eigenarten des Gehirns funktioniert. Da jeder als dauernd Lernender für sich darauf angewiesen ist, viele aber auch als amtlich Lehrende in der Schule und Hochschule, verdient das Buch allgemeine Aufmerksamkeit. Wer es kennt, lehrt künftig mit anderen Augen und möglicherweise auch mit mehr Phantasie.


Werner Zillig: Die Festschrift. Ein Roman. Tübingen: Klöpfer & Meyer 2004.

Wer sich allerdings nicht so sehr mit sich selbst beschäftigen möchte, insbesondere mit seinen Hirnfunktionen, kann die Geschichtswissenschaft aus satirischem Abstand als Ort der Selbstinszenierung von Geltungsbedürfnis, Hierarchisierung, Eitelkeiten, Empfindlichkeiten und würdevollen Zeremonien erleben. Er beginne mit dem Satz: "Professor Fischkirner, der bekannte Tübinger Theologe, wurde in diesem Jahr, im Jahr 1999, sechzig Jahre alt" und greife deshalb zu Werner Zillig, der durch seinen Werdegang von der studentischen zur wissenschaftlichen Hilfskraft, vom promovierten Assistenten, habilitierten Hochschuldozenten zum Gastprofessor für Linguistik an der Universität Innsbruck dafür bürgt, Authentisches aus dem akademischen Milieu verraten zu können. Er bietet mit seinem Campus-Roman eine in Deutschland kaum etablierte literarische Gattung; er erreicht darin vielleicht auch (noch) nicht Höhe, Dichte und Fabulierfülle eines David Lodge, schreibt aber subtiler als der hierzulande auf diesem Feld bekannte Dietrich Schwanitz. Zillig vermittelt einen tiefen Blick in die Eingeweide des akademischen Alltags, der hier auf unterhaltsam-aufhaltsame Weise eine Festschrift gebiert. Man muss nicht selbst an einem solchen Unternehmen mitgewirkt haben, um die Lektüre mit Schmerz oder Schmunzeln zu begleiten.


Christian v. Ditfurth: Mann ohne Makel. Stachelmanns erster Fall. Köln: Kiepenheuer & Witsch 2002, 2. Aufl. 2004.

Christian v. Ditfurth: Mit Blindheit geschlagen. Stachelmanns zweiter Fall. Köln: Kiepenheuer & Witsch 2004.


Wer es letztendlich aber vor allem spannend mag und trotzdem nicht vom akademischen Milieu der Historiker und dem Stoff der Historie lassen kann, widme sich den beiden Kriminalromanen von Christian von Ditfurth, einem freischaffenden Schriftsteller und Lektor aus der Nähe Lübecks, der als studierter Historiker den wissenschaftlichen Assistenten Dr. Josef Maria Stachelmann erfunden hat. Der Leser erfährt, wie der am Lehrstuhl von Prof. Hasso Bohming in Hamburg beschäftigte Mitarbeiter zwar nicht mit seiner Habilitationsschrift voran kommt, dagegen aber zweimal in Mordfälle verwickelt wird, die dem Leser Spannung und Unterhaltung bereiten. Nun kann hier nicht der Plot verraten werden, denn den Täter bei einem Kriminalstück gleich anfangs mitgeteilt zu bekommen, ertragen nur eingefleischte Columbo-Fans. Dass es sich jeweils nicht um eine belanglose 'Story' handelt, mag der Hinweis auf "Stachelmanns ersten Fall" verdeutlichen: Hier ringen - und das ist ein Stück heikler deutscher Nachkriegsgeschichte überhaupt - gehobene Hamburger Bürger erheblich damit, ihren profitablen Opportunismus und ihre Kollaboration während der NS-Zeit zu verdrängen. Der Plot ähnelt in der Anlage Jurek Beckers Roman "Bronsteins Kinder". In Stachelmanns zweitem Fall leben DDR und Stasi in verhängnisvollen bundesrepublikanischen Unterströmungen der Nach-Wende-Zeit munter fort. Ob Historiker die besten Berufsperspektiven als Kriminalisten haben, muss man nach der Lektüre beider Bücher deshalb nicht glauben. Es befriedigt allerdings den historisch versierten Leser: In seiner Branche scheint ein kriminalistisch durchdringender Spürsinn heimisch zu sein, der - wenn es denn einmal bei Geschichtsforschenden besonders fiktional zugeht - verhindert, dass so unsägliche Erzeugnisse wie die historischen Romane von Tanja Kinkel allein den Markt beherrschen.