Geschenktipps (nicht nur) zu Weihnachten

Stefanie Middendorf, Jena


Charles Maier: The Project-State and Its Rivals. A New History of the Twentieth and Twenty-First Centuries, Cambridge, Mass./London 2023: HUP 2023
In seinem Buch über den Staat als Projekt bietet Charles Maier nicht nur Anstöße für eine intensivere Beschäftigung mit Fragen von Macht, Regierung und Herrschaft in liberalen Gesellschaften. Er zeigt auch, wie sich die Geschichte seit der Wende zum 20. Jahrhundert bis zur Gegenwart anhand dieser Fragen neu erzählen lässt, in einer globalen und verflochtenen Perspektive. Damit führt Maier frühere Überlegungen zur Geschichte von Imperien und Ausnahmestaatlichkeit fort, rückt aber nun die ressourcenintensiven Ordnungsansprüche moderner Staaten und die dafür notwendige Mobilisierung von Gesellschaften gegen die Eigenmacht von Märkten in den Fokus. Dabei geraten die Eigenarten autoritärer und diktatorischer Regime und die Katastrophen des 20. Jahrhunderts zwar nicht völlig aus dem Blick, dominieren aber - anders als in früheren Meistererzählungen über dieses Zeitalter - nicht die Analyse. Die Geschichte von Kapitalismus, Imperialismus und Populismus wird so verschränkt, verbunden mit dem Argument, dass demokratische und soziale Staatlichkeit wieder zu einem eigenen Projekt gemacht werden müsse. Zugleich ein programmatischer Impuls für eine Weltgesellschaft, die sich eine Zukunft zutraut.

Walter Mehring: Nazi-Führer sehen Dich an. 33 Biographien aus dem Dritten Reich. Mit einem Nachwort von Martin Dreyfus, Darmstadt: wbg 2023 (frz. Orig. Paris: Éditions du Carrefour 1934)
In 33 satirischen Skizzen zeichnete Walter Mehring, bedeutender Lyriker, Bühnenautor und Dadaist der Weimarer Jahre, 1934 ein hellsichtiges Gruppenporträt der nationalsozialistischen Führungsriege. Die Schrift erschien anonym im Pariser Exilverlag von Willi Münzenberg, und Mehring antwortete damit auf die propagandistische Hetzschrift "Juden sehen Dich an", die 1933 in Berlin veröffentlicht worden war. Es sind keine "großen Männer", die hier vorgestellt werden, sondern es zeigt sich ein Ensemble zwielichtiger, gewissenloser und machtgieriger Überzeugungstäter. Bei aller Verachtung, die aus Mehrings messerscharfer Sprache hervordringt, zeigt er zugleich wesentliche Mechanismen der Herrschaft im jungen NS-Regime auf, vor allem die innere Zerstrittenheit und die Konkurrenz unterschiedlicher Machtzentren. Fast beiläufig räumt er die "Hohenzollern-Debatte" ab und verweist darauf, dass die Kaiserfamilie im Aufstieg der NS-Bewegung "ihre Rollen gut verteilt" hatte. Und auch die kolonialen Kontexte, die über einzelne Biografien in die nationalsozialistische Gewaltherrschaft eingingen, hat diese frühe Schrift im Blick. Ein Plädoyer dafür, genau hinzuschauen, wenn sich Systeme verschieben - und ein Plädoyer dafür, uns die Aufklärungsbemühungen der Gegner der nationalsozialistischen Diktatur wieder mehr in Erinnerung zu rufen, gegen die apologetischen Wendungen der Vordenker und Verteidiger à la Carl Schmitt. Nach 1945 kehrte Mehring aus der Emigration nach Europa zurück, fand dort aber keine Heimat mehr.

Klara Blum: Der Hirte und die Weberin. Mit einem Essay von Julia Franck, Berlin: Aufbau 2023 (Die Andere Bibliothek, 463)
In ihrem autofiktionalen Roman erzählt die Feministin und Sozialistin Klara Blum - geboren 1904 in Czernowitz, Bukowina, gestorben 1971 in Guangzhou - anhand der chinesischen Legende von den Sternbildern des Hirten und der Weberin die Geschichte einer unglücklichen, da flüchtigen Liebe, vor allem aber die Geschichte einer weiblichen Suche nach politischer Identität im 20. Jahrhundert, die von weltpolitischen Konfliktlinien ebenso abhängig ist wie von (meist) männlichen Entscheidungen. Der durch Verfolgung bedrohte Wunsch nach Zugehörigkeit und Daseinsberechtigung, der Umgang mit Verlusterfahrungen und die individuellen Ursprünge internationalen Denkens werden hier verhandelt. Ein kosmopolitisches Leben wird in romantischen Formen erzählt - die Autorin selbst konnte vor der nationalsozialistischen Gewalt in das Moskauer Exil fliehen und ihr Leben retten, blieb jedoch im kommunistischen China, wohin sie nach jahrelangen Bemühungen 1947 ausreisen konnte, eine Fremde. In der DDR wurde der Roman drei Tage nach seinem Erscheinen im November 1951 verboten, zu kritisch gegenüber der Sowjetunion, zu zionistisch und zu "gefühlsmäßig" sei der Text.

Germaine Tillion: Les ennemis complémentaires. Guerre d'Algérie, Paris: Éditions Tirésias 2005
Der sogenannte Historikerstreit 2.0 wird gegenwärtig mehrheitlich von Männern ausgetragen, und seine Sprengkraft basiert auf der Behauptung, das 20. Jahrhundert sei von der unversöhnlichen Konkurrenz von Erinnerungen und Erfahrungen geprägt. Kolonialgewalt und Holocaust, so die Forderung, müssten daher endlich vom Tabu des Vergleichs befreit und in multiperspektivische Relationen eingeordnet werden - wobei im Kampf gegen den "deutschen Katechismus" allerdings gleich eine neue, postkolonial legitimierte Hierarchie des Gedenkens errichtet wird. Wie geschichtsvergessen diese Position ist, zeigt in eindrücklicher Weise die Biografie Germaine Tillions, französische Ethnologin, Überlebende des Konzentrationslagers Ravensbrück, linke Intellektuelle und Kritikerin der stalinistischen Herrschaft, Verbündete des algerischen antikolonialen Kampfes. In ihrem erstmals 1960 erschienenen Band, 2005 von der Association Germaine Tillion neu aufgelegt, wird Tillions eindrückliche Sensibilität für die Verschränkung historischer Erfahrungen sichtbar, die in der gegenwärtigen Aufgeregtheit von "Erinnerungskämpfen" vielleicht den Blick wieder auf diejenigen lenken kann, die diese Erfahrungen wirklich gemacht und die entsprechenden Erinnerungen tatsächlich lebenslang mit sich getragen haben.

Ari Folman: Waltz with Bashir, DVD, 2008
Der neue Krieg im Nahen Osten wird in der europäischen Öffentlichkeit und an Universitäten unterdessen auch als Krieg um koloniale, imperiale oder andere "Kontexte" geführt, die für oder gegen eine Seite in Anspruch genommen werden. Ari Folmans semiautobiografischer Doku-Trickfilm von 2008 erinnert daran, dass der Krieg in der Region zwar schon seit Jahrzehnten ein Dauerzustand ist, die Fähigkeit zur Kontextualisierung und das Bewusstsein für das Leiden der Anderen aber trotzdem nicht verschwunden waren. Angesichts der offensichtlichen Traumatisierung, die aus Folmans Bildern spricht, liegt in ihnen vielleicht eine Möglichkeit, aus den selbstgewissen Stellvertreterkriegen, die gegenwärtig über Israel und Gaza auch in der Geschichtswissenschaft geführt werden, für einen Moment auszubrechen.