Geschenktipps (nicht nur) zu Weihnachten

Philipp Ther, Wien


Matthias Kaltenbrunner: Der Karabiner von Stalin. Ein sowjetisches Leben zwischen Bürgerkrieg, Konzentrationslager und Gulag, Frankfurt am Main: Campus 2023.
In der Weihnachtszeit empfehle ich gerne historische Bücher, die so gut geschrieben sind, dass man sie über die Feiertage in einem Zug auslesen kann. Bekanntlich schließt ein Schreibtalent wissenschaftliche Qualität nicht aus, ganz im Gegenteil, komplexe Themen und Gegenstände lassen sich besser verstehen, wenn sie gut dargestellt sind. Matthias Kaltenbrunner ist mit seiner biographischen Studie über einen beispielhaften Sowjetmenschen vom Bürgerkrieg bis zur Perestroika, dem "Karabiner von Stalin", ein solcher Wurf gelungen. Das Buch verbindet vorbildlich archivalische Forschungen, Oral History, Feldforschung und Familiendokumente, die der Autor in ganz Russland und der Ukraine zusammengetragen hat. Die Forschung führte ihn bis in ehemalige Arbeitslager am Polarkreis, in denen der Hauptakteur als Überlebender deutscher Konzentrationslager eingesperrt war. Man bereist als Leser wie in einem Road Movie alle wichtigen Stationen der sowjetischen Geschichte und versteht damit auch das heutige Russland besser.

Adam Soboczynski: Traumland. Der Westen, der Osten und ich. Stuttgart: Klett-Cotta 2023.
Diese tiefgründige und humorvolle Autobiographie beruht auf der Jugend und dem weiteren Erwachsenenleben eines polnischen Aussiedlerkindes in der Bundesrepublik. Im Gegensatz zu den meisten Selbstbekenntnis- und Selbsterfahrungsbüchern über Migration und in der akademischen Migrationsgeschichte geht es einmal nicht um Identitäten, Diskriminierungen und die in der Postmoderne omnipräsenten Opfernarrative. Stattdessen stellt der Literatur-Chef der ZEIT Klassenunterschiede in den Vordergrund und erschließt auf diese Weise die Geschichte der Aussiedler und anderer (Post)Migranten. Nebenbei kritisiert er die Selbstgefälligkeit des linksliberalen Milieus und die mittlerweile kontraproduktive Kritik an Defiziten des Sozialstaats, der Demokratie und der Menschenrechte und stellt dem die Lebensfreude des Kleinbürgertums gegenüber. Bei Andreas Reckwitz ist die alte Mitte ein Looser, bei Soboczynski geht sie beschwingt und meist glücklich durch das Leben. Vielleicht beginnt mit diesem Buch eine im positiven Sinne nostalgische Rückschau auf die alte Bundesrepublik, denn die autobiographisch angehauchten DDR-Romane erschöpfen sich langsam.

Christina Morina: Tausend Aufbrüche. Die Deutschen und ihre Demokratie seit den 1980er-Jahren. München: Siedler 2023.
Seltsamerweise wird die Revolution von 1989 in Deutschland immer noch als "Wende", einer Begriffsschöpfung von Egon Krenz, bezeichnet. Das liegt nicht zuletzt an der Containment-Strategie von Bundeskanzler Kohl, der wie ein Großteil der westdeutschen politischen und wirtschaftlichen Eliten der Ansicht war, dass sich in der alten Bundesrepublik möglichst wenig ändern sollte. Nach der Lektüre des Buches von Christina Morina weiß man, dass die Bezeichnung des Umbruchs in der DDR und im vereinigten Deutschland als "demokratische Revolution" doch die richtige ist ("friedlich" oder gewaltfrei verlief das Jahr 1989 in der DDR bekanntlich nicht). Die Bielefelder Zeithistorikerin erschließt darin das Denken und den Aufbruch zur Demokratie. Man versteht nach der Lektüre besser, warum manche Ostdeutsche mit der repräsentativen Demokratie der Bundesrepublik nicht warm wurden und wieso man die Vereinigung der beiden deutschen Staaten im Jahr 1990 leider auch als verpasste Chance betrachten muss.

Larry Wolff: The Shadow of the Empress. Fairy-Tale Opera and the End of the Habsburg Monarchy, Stanford: Stanford University Press 2023.
Larry Wolff gehört seit vielen Jahren zu den besten Erzählern und Osteuropahistorikern in den USA, wobei auch dieses Label nicht ganz passt, da seine einschlägigen Bücher über die venezianische Geschichte, die westeuropäische Aufklärung (und ihre Osteuropa- und Orientbilder) und das Habsburgerreich darüber hinaus reichen. Nun hat er ein Buch über die Frau ohne Schatten von Richard Strauss und die letzte Kaiserin Zita verfasst, das zwei Handlungsstränge verknüpft, die reale Geschichte des Ersten Weltkrieges mitsamt seinem für das Habsburgerreich fatalen Ende und die Entstehung und Uraufführung der Oper. Man staunt als Leser immer wieder, wie nahe die Opernfiguren an der Realität lagen, während die historischen Hauptakteure so wirken, als wären sie Opernfiguren. Dieses historisch-literarische Vexierspiel enthält en passant viele neue Erkenntnisse über Hugo von Hofmannsthal, seine Zusammenarbeit mit Strauss und über die Habsburger. Sollte Zita eines Tages vom Vatikan seliggesprochen werden wie ihr Gatte? (bei dem der Heilige Stuhl die Giftgasangriffe an der Ostfront übersehen hat). Warum sie das vielleicht verdient hätte, erfährt man ebenfalls in dieser köstlichen Monographie.

Kateřina Tučková: Bílá Voda, Praha: Host 2022.
Meine Liste an Empfehlungen enthält abschließend einen Weihnachtswunsch. Hoffentlich übersetzt und publiziert bald ein deutschsprachiger Verlag den großartigen historischen Roman von Kateřina Tučková über die massenhafte Internierung von Nonnen in den Grenzgebieten der kommunistischen Tschechoslowakei, die auf diese Weise das Ordensleben ausrotten wollte. Der Roman arbeitet mit teils erfundenen, teils historischen Figuren und entwickelt damit einen berührenden und sehr spannenden Plot, der an Umberto Ecos "Der Name der Rose" erinnert. Allerdings stehen bei Tučková überwiegend Frauen im Vordergrund und ihr harter Alltag im Kommunismus. Außerdem geht es um die Kollaboration der vom Geheimdienst unterwanderten Kirchenorganisation Pax Christi und die wegweisende Theologie der Untergrundkirche. Aus der Not heraus ermöglichte sie die Priesterweihe von Frauen und begründete dies mit mittelalterlichen Vorbildern, über die im 19. Jahrhundert unter anderem František Palacký geforscht hatte. Nach 1989 wurden alle diese Anläufe zu einem revitalisierten kirchlichen Leben von der Amtskirche kaltgestellt, mit entsprechenden Folgen für die katholische Kirche in Tschechien und in Europa.