Geschenktipps (nicht nur) zu Weihnachten

Felix Lüttge, Basel


Cyril Schäublin: Unrueh (Schweiz 2022; DVD/VOD Grandfilm 2023)
Cyril Schäublins Film Unrueh findet die Anfänge der wissenschaftlichen Betriebsführung im Jahr 1877 in einem Schweizer Uhrmacher:innendorf. Mit der Stoppuhr steht der Direktor der Uhrenfabrik in Saint-Imier neben den Arbeiterinnen, misst Weg- und Montagezeiten und entlässt die, die zu langsam schraubt oder zu lang pausiert. In dieses Dorf kommt der junge Pjotr Kropotkin, der an einer anarchistischen Karte arbeitet, die lokale Ortsbezeichnungen und damit mehr Bedeutung enthalten soll als die staatliche Ordnung des Raumes. Bald macht er gemeinsame Sache mit den anarchistischen Gewerkschaften, die sich gegen die Rationalisierung in der Uhrenfabrik auflehnen. Doch mit «Unrueh» ist im Titel dieses sehr ruhigen Films nicht der Arbeitskampf benannt, sondern ein kleines Rad im Gehäuse mechanischer Uhren, das die Arbeiterin Josephine einmal als das Herz der Uhr bezeichnet. Unrueh ist ein Brecht'scher und sehr lustiger Film über moderne Standardisierung, die verlangt, dass Orts-, Fabrik- und Telegrafenzeit aufeinander abgestimmt werden. Mit einer Vorliebe für Totalen und fast ohne Kamerabewegungen zeigt er den Kampf der Anarchist:innen gegen die wachsende Macht des Kapitals über Raum und Zeit.

Evelyn Fox Keller: Das Leben neu denken. Metaphern der Biologie im 20. Jahrhundert (München: Kunstmann 1998)
Die Biologiegeschichte hat in diesem Jahr drei wichtige politische Denker:innen verloren: Garland Allen, in dessen Arbeit die frühe marxistische Tradition der Wissenschaftsgeschichte fortlebte und an dessen Aktivismus man sich genauso erinnert wie an seine Forschung; Everett Mendelsohn, der Pazifist, der bis zuletzt als «mostly retired professor» (Mendelsohn über Mendelsohn) mit Doktorand:innen in Harvard diskutierte; und die feministische Wissenschaftsphilosophin Evelyn Fox Keller, die zu den Pionierinnen der Lehr- und Forschungsfeldes gender and science gehört und erst in diesem Jahr eine Autobiographie vorgelegt hat. Wer ein bisschen recherchieren will, sollte Gar Allens Texte in Science for the People nachlesen; Everett Mendelsohns Bemühungen um weltweite Abrüstung und um einen Frieden in Nahost sind heute traurige Erinnerungen an eine Zukunft, die nicht eingetreten ist. Evelyn Fox Keller ist die Einzige von ihnen, die Bücher geschrieben hat, die sich zum Verschenken eignen. Das Leben neu denken. Metaphern der Biologie im 20. Jahrhundert zeigt in aller Kürze, wie weit man kommt, wenn man sich nicht um Disziplinengrenzen schert.

Mark Arax: Risse in der Erde. Auf den Spuren von Wasser und Staub durch Kalifornien (Berlin: Matthes & Seitz Berlin 2023)
Der Text in The White Album, den Joan Didion ihrer Ehrfurcht vor dem Wasser widmet, ist kaum zehn Seiten lang. Dieselbe kalifornische Ehrfurcht prägt auch dieses Buch, dessen 734 Seiten sich nicht nur für die Grossklempnerei (Didion) der Wasserpumpen und -leitungen interessieren, sondern auch für Geschichte und Politik dahinter. In Mark Arax' Text, der irgendwo zwischen Memoir und Reportage oszilliert, steckt deshalb auch eine Umweltgeschichte Kaliforniens. Arax' Kalifornien ist noch mehr als dasjenige Didions nicht das Kalifornien von Los Angeles oder San Francisco, sondern das des größten Agrarstaats der Vereinigten Staaten. Arax erzählt von der undurchsichtigen Wassergesetzgebung, die Schleusen öffnet und schließt; von Landwirten, die längst nicht mehr im Central Valley wohnen, wo ihre Mandelbaumplantagen stehen, sondern in Beverly Hills; und vom Städtchen Fairmead, einem abgelegenen Außenposten der Great Migration, wo die Brunnen versiegten, als die Agrarbetriebe begannen, das Grundwasser abzuschöpfen.

Matthew Daniel Eddy: Media and the Mind. Art, Science, and Notebooks as Paper Machines, 1700-1830 (Chicago: The University of Chicago Press 2023).
Aus diesem reich illustrierten Buch ist zu lernen, dass die Metapher der tabula rasa für die menschliche Seele, die wie ein leeres Blatt beschrieben werden muss, einen medienhistorischen Grund hat. Matthew Daniel Eddy findet ihn in den Kulturtechniken des Notizbuchs, die Schülerinnen und Studenten im 18. Jahrhundert erlernen mussten, um lernen zu können. Sein Buch führt vor, wie Schüler und Studentinnen durch Routinen des Schreibens, Zeichnens, Faltens und Bindens leere Blätter in funktionierende Papiermaschinen und damit das Denken in einen praktischen, an Papier gebundenen Prozess verwandelten. So wird aus seiner Geschichte des Lernens in der Schottischen Aufklärung auch eine Mediengeschichte der Vernunft.

Matana Roberts: Coin Coin Chapter Five. In The Garden... (Constellation Records 2023)
Coin Coin ist Matana Roberts' auf zwölf Teile angelegtes Projekt einer Geschichtsschreibung mit den Mitteln von Jazz und Spoken Word. Das fünfte Kapitel In The Garden… erzählt der Geist von Roberts' Urgroßmutter, die 1925 an den Folgen eines illegalen Schwangerschaftsabbruchs starb. In der Familie vertuscht, von den Frauen aber heimlich als Warnung über Generationen weitergegeben, wird daraus bei Roberts die Geschichte einer Stimmfindung: «They didn't know I was electric, alive, spirited, fire and free.» Wie in den vorangegangenen Kapiteln von Coin Coin gehen Klänge und Geschichten, Archivrecherche und Familienerzählung ineinander über, schlägt ein altes Wiegenlied, das auf Plantagen gesungen wurde, in Free Jazz um. Den jüngsten Angriffen auf Frauen- und Reproduktionsrechte in den USA verdankt sich, dass auch Geschichte und Gegenwart kaum zu unterscheiden sind; dass Geschichten, die ein Jahrhundert zurückliegen, klingen, als könnten sie heute geschehen.