Geschenktipps (nicht nur) zu Weihnachten

Jürgen Dinkel, Leipzig/München


Kendra T. Field: The Privilege of Family History, in: The American Historical Review, Vol. 127, Issue 2, June 2022, S. 600-633.
Autobiographische Erzählungen boomen. Auch Historiker:innen machen ihren persönlichen Hintergrund immer häufiger transparent und leiten ihre Forschungsinteressen aus ihrer Familiengeschichte ab. Was sagt dieser autobiographische turn nun über unsere Gegenwart aus? Einen lesenswerten Beitrag hierzu hat Kendra T. Field vorgelegt. Darin beschreibt sie, wie sich Stil und Form afroamerikanischer Familiengeschichten wandelten: von mündlichen Erzählungen über fiktionalisierte Autobiographien bis hin zu akademischen Studien aus den Geschichtsdepartments. Zentral für diese Entwicklung war, dass es einer marginalisierten Gruppe gelang, Wissen über ihre eigene (Familien-)Geschichte zu sammeln, die Scham über die eigene Herkunft zu überwinden und individuelle Betroffenheit zu einer anerkannten Ressource akademischen Arbeitens umzudeuten. Familiengeschichte zu schreiben, ist ein Privileg und eine Chance für die Geschichtswissenschaft - so ihre These. Das ist alles mit Blick auf inneramerikanische Debatten formuliert, aber auch als Einladung zu verstehen, die neue Präsenz des Autobiographischen in Europa zu historisieren.

Kim Stanley Robinson: The Ministry for the Future, Orbit Books 2020.
Zeitgemäßer kann Science-Fiction kaum sein. Robinsons Geschichte beginnt im Jahr 2025 mit einer extremen Hitzekatastrophe in Indien. Anschließend imaginiert er, wie unterschiedlich weltweit gesellschaftliche Gruppierungen, Staaten und internationale Organisationen zuerst auf die tödliche Hitzewelle und dann allgemeiner auf die Herausforderungen der Klimakrise reagieren. Zunächst in apokalyptischen und beängstigenden, später in hoffnungsvoll stimmenden Tönen und Szenarien, entwirft Robinson ein breites Panorama möglicher naher Zukünfte. Denn je nachdem, in welcher Region eine Person wohnt, welcher sozialen Klasse sie angehört und wie sie auf die Krise reagiert, fällt ihre Zukunft anders aus. Damit hat mich das Buch gefesselt, zum Nachdenken angeregt und Interesse am Genre der Cli-fi (climate fiction) geweckt.

George Saunders: A Swim in a Pond in the Rain (in which four Russians give a Master Class on Writing, Reading and Life), Bloomsbury 2022 (Original 2021).
Eines der besten Bücher über das (kreative) Schreiben und eine wunderbare Hommage an die fantastischen Erzähler des Zarenreichs (von Gogol über Tschechow und Turgenjew bis hin zu Tolstoi). Selten hat es ein Autor geschafft, mir so unterhaltsam und transparent an konkreten Beispielen - die analysierten Kurzgeschichten sind alle im Buch abgedruckt - zu erklären, wie gute Erzähler Spannung aufbauen und diese steigern ("always escalate"), so dass am Ende fesselnde und einen menschlich tief berührende Geschichten entstehen. George Saunders Interpretationsfähigkeiten sind beeindruckend, ebenso wie die der untersuchten Autoren, denen es gelingt, ihre Leser:innen auf wenigen Seiten in eine geschaffene Welt hineinzuziehen.

Jessica Abel: Out on the Wire: the Storytelling Secrets of the New Masters of Radio, Crown Publishing Group 2015.
Um Storytelling geht es auch in "Out on the Wire". In diesem Graphic Novel illustriert Jessica Abel ihre Interviews mit bekannten und erfolgreichen US-amerikanischen Podcastredaktionen. Schritt für Schritt beschreibt sie, wie diese von Ideen zu Themen kommen, die sie durch Recherchen und "Editing" zu Geschichten verdichten, um sie dann im Radio zu erzählen. Abel gewährt tiefe Einblicke in die Arbeitsroutinen und konkreten Tätigkeiten professioneller Podcaster, die auch als Einführung und Anleitung in das serielle und gesprochene Erzählen funktionieren. Das Ergebnis ist klug, witzig und inspirierend. Von den interviewten Redaktionen seien abschließend ein paar meiner Lieblingsfolgen empfohlen: Von This American Life: Three Miles (über Ungleichheiten im Bildungswesen), 129 Cars (über den Arbeitsalltag von Autoverkäufern), und White Haze (über die Anfänge der Proud Boys) oder zuletzt von Radio Lab: Dolly Parton's America (über Dolly Parton).

Mila Turajlić: NON-ALIGNED & CINÉ-GUERRILLAS: Scenes from the Labudović Reels (zwei Filme: 100 Minuten, 94 Minuten), 2022.
Schließlich der Hinweis auf die ausgezeichneten Filme von Mila Turajlić (z.B. The Other Side of Everything, Cinema Komunisto) sowie insbesondere ihr Dokumentarfilmprojekt über Titos Kameramann Stevan Labudović. Basierend auf Interviews mit Labudović, dessen Tagebuchaufzeichnungen und umfangreichem Filmmaterial erinnert sie mit dem Projekt an eine weitgehend vergessene Dimension des Kalten Krieges: Der jugoslawische Filmemacher Labudović dokumentierte die Konferenzen bündnisfreier Staaten, begleitete Tito bei seinen Auslandsreisen und bildete in den 1950er und 1960er Jahren Kameraleute und Filmemacher in Algerien aus. Er war Augenzeuge der Unabhängigkeitskämpfe, verantwortlich für deren filmische Inszenierung und ihr Archivar. Sein Leben erzählt Turajlić nun facettenreich. Dabei zeigt sie eindrucksvoll auf, wie reflektiert und gewinnbringend Dokumentarfilme Geschichte ausleuchten und vermitteln können.

Ich wünsche Ihnen allen ein Frohes Fest!