Rezension über:

Johannes Hürter (Hg.): Notizen aus dem Vernichtungskrieg. Die Ostfront 1941/42 in den Aufzeichnungen des Generals Heinrici, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2016, 248 S., ISBN 978-3-534-26769-9, EUR 39,95
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Rezension von:
Dietrich Beyrau
Tübingen
Redaktionelle Betreuung:
Peter Helmberger
Empfohlene Zitierweise:
Dietrich Beyrau: Rezension von: Johannes Hürter (Hg.): Notizen aus dem Vernichtungskrieg. Die Ostfront 1941/42 in den Aufzeichnungen des Generals Heinrici, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2016, in: sehepunkte 18 (2018), Nr. 2 [15.02.2018], URL: https://www.sehepunkte.de
/2018/02/28965.html


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Johannes Hürter (Hg.): Notizen aus dem Vernichtungskrieg

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Der Historiker Johannes Hürter ist einem weiteren Publikum unter anderem durch seine Habilitationsschrift "Hitlers Heerführer" (2007) [1] und 2011 durch seine Kritik an den Autoren von "Das Amt" bekannt geworden. [2] Neben seiner Beschäftigung mit der Zeit des Zweiten Weltkrieges hat er zudem zum Terrorismus publiziert.

Die vorliegende Dokumentation ist eine erweiterte Neuauflage der bereits 2001 herausgegebenen Tagebücher und Briefe des Generals Gerhard Heinrici über den Winterfeldzug 1941/42 gegen die Sowjetunion. [3] Die Rechtfertigungen Heinricis in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg behandelte Hürter in einem eigenen Aufsatz. [4] Die hier publizierten Dokumente veranschaulichen die Fehlplanungen und Strapazen des Feldzuges aus der Sicht des Generals. Unter dem etwas merkwürdigen Titel "Weltbilder" hat Hürter weitere Briefe und Tagebuchaufzeichnungen Heinricis aus der Zeit zwischen 1918 bis 1945 hinzugefügt. Dieser Teil hat das Ziel, Weltanschauung und Wertorientierungen des Generals zu den jeweils aktuellen politischen und militärischen Konstellationen zu vertiefen.

In der Einleitung greift Hürter zur Kennzeichnung der politisch-moralischen Positionen Heinricis den von Ulrich Herbert geprägten Begriff der "Amalgamierung" auf: Gemeint ist die fatale Verbindung zwischen konservativ-nationalistischen, auch imperialistischen Grundeinstellungen, die Heinricis Denken bis 1933 prägten, mit nationalsozialistischem Gedankengut und Verhaltensweisen seither.

Heinrici entstammte einer ostpreußischen Pfarrersfamilie. Er wählte den Soldatenberuf, seine protestantisch-obrigkeitliche Gesinnung musste er deshalb aber nicht aufgeben. Manchmal brach sie durch, so, wenn er im deutschen Feldzug gegen die Sowjetunion auch eine Strafe Gottes für die Verwahrlosung oder Zerstörung orthodoxer Kirchen in der Sowjetunion sah (50) oder wenn er das Kriegsende als grausiges Gericht Gottes (238) deutete. Die Verhaftung von Pastoren der Bekennenden Kirche nahm er eher neutral zur Kenntnis, missbilligte aber grundsätzlich die Kampagnen der NS-Führung gegen die Kirchen.

Wichtiger und vorherrschend sind militärisch-strategische Einsichten und Überlegungen, die auch sein Verhalten bestimmten. 1933 und in den folgenden Jahren war er tief beeindruckt von den theatralischen Inszenierungen und Massenveranstaltungen der NSDAP, dem "Tag von Potsdam" oder den Parteitagen der NSDAP. Als Kommandant im französischen Bourges versuchte er sich an ähnlichen Inszenierungen, musste aber registrieren, dass die gute Gesellschaft der Stadt diesen Veranstaltungen fernblieb.

Wie viele konservative Nationalisten deutete er die Machtergreifung Hitlers als Revanche für 1918/19 - die vermeintliche Demütigung des Militärs - und begrüßte schon aus beruflichem Eigeninteresse die Militarisierung der deutschen Gesellschaft und den Aufbau der Wehrmacht. Manchmal bediente er sich auch des Jargons des 'Stürmers', wenn er hoffte, "der marxistisch-jüdischen Schweinerei" (168) nun endlich entkommen zu sein. Die ersten Maßnahmen gegen Juden und Linke bejubelte er als "Entlüftung" (169), die "Kristallnacht" fand er aber doch bedenklich. Den Umgang mit der SA ("Röhmputsch") kennzeichnete er als "Eisenbartkur" (176), die er lieber vermieden gesehen hätte. Die Schuld gab er aber der SA. Den Verleumdungen gegen den Oberbefehlshaber des Heeres, Werner von Fritsch, scheint er nicht geglaubt zu haben. 1937 glaubte er Himmler, dass in den Konzentrationslagern "ein fürchterliches Volk zusammengetrieben ist..." (179). (Von den seit 1940 eingerichteten Ghettos und den Massenmorden in Polen und der Sowjetunion ist weder in den Briefen noch in den Tagebucheinträgen die Rede!). Aber er fand nichts dabei, wenn sich die Deutschen im Osten als "Herrenvolk" etablierten und die Juden im Generalgouvernement, das er als "Kehrrichthaufen Europas" (37) bezeichnete, die Funktion moderner Sklaven übernommen hatten.

Als Befehlshaber, der die meiste Zeit im Krieg an der Ostfront eingesetzt war, sind seine Überlegungen zum Krieg gegen die Sowjetunion von besonderem Interesse: Wie viele andere Generale hatte er Bedenken gegen Hitlers abenteuerliche Politik seit 1938. Er erwartete zu Kriegsbeginn im September 1939 im Westen "sinn- und zwecklose Menschenschlachten" (188), war dann aber begeistert von den Operationen gegen Dänemark und Norwegen. Er war unsicher, ob die Sowjetunion ein "ehrlicher Verbündeter" (188) sein könne. Das 'Unternehmen Barbarossa' war auf seiner Seite dennoch eher von Ängsten und Sorgen begleitet. Zunächst zog er Parallelen zu Napoleon: Auch dieser habe, da er England nicht bezwingen konnte, zuerst Russland gefügig machen wollen. Dass Hitlers Krieg gegen die Sowjetunion einen ganz anderen Charakter trug, ist ihm trotz der Erfahrungen vor Ort wohl nie voll zum Bewusstsein gekommen. Dabei fand er nichts dabei, wenn ihm ein SS-Führer für die Zeit nach dem Krieg ein Rittergut "im Osten" in Aussicht stellte; er war von der "Heimtücke" der Rotarmisten und besonders der politischen Kommissare überzeugt.

Als anerkannter und vielfach ausgezeichneter Meister in der Abwehr sowjetischer Angriffe im Herbst/Winter 1941/42 hatte er dennoch viele Gründe, strategische und taktische Fehlplanungen, die Unterschätzung des militärischen Potentials der Sowjetunion und die Überdehnung der Fronten zu beklagen. Noch beklemmender war für ihn, dass spätestens seit der Kriegserklärung gegen die USA nun drei Viertel der Welt gegen Deutschland stünden. Trotz seines Hasses auf den Bolschewismus - ("Er ist ein widerliches Tier, das sich wütend wehrt..." (54)) - und tief sitzender Überlegenheitsgefühle gegenüber den Völkern im Osten Europas sah er spätesten 1942/43 ein, dass sich deutsche Herrschaft nur mit der Unterstützung wenigstens von Teilen der sowjetischen Bevölkerung und nicht gegen diese realisieren ließe. Daher beklagte er auch in Eingaben die Misshandlung der sowjetischen Kriegsgefangenen und der Bevölkerung und nicht zuletzt die Politik der verbrannten Erde bei den deutschen Rückzügen. In der Praxis setzte er allerdings im rückwärtigen Heeresgebiet unter der Kontrolle der Wehrmacht Männer und Frauen zur Zwangsarbeit ein, organisierte Deportationen nach Deutschland und "räumte" Partisanengebiete. Die sowjetische Seite setzte ihn auf eine Liste von Kriegsverbrechern (212), verantwortlich für Gräuel an der sowjetischen Bevölkerung.

Unter Gesichtspunkten von Politik, Kämpfen und politischen Einstellungen enthalten die Tagebucheintragungen und Briefe nichts, was nicht bereits bekannt wäre und was Anlass geben würde, die allgemeine Einschätzung der Involvierung der militärischen Elite in die Politik Hitlers zu revidieren.

Der Reiz der Briefe und Tagebucheintragungen liegt darin, die Ambivalenzen einschließlich der Verblendungen eines Angehörigen der militärischen Elite anschaulich zu machen. Darüber hinaus gewinnen die Aufzeichnungen, auch als Grundlage für spätere Memoiren gedacht, ihren Reiz aus der Darstellung des Alltags eines Generals, der sich auch um die Nöte und das Leiden seiner Soldaten an der Front kümmerte: Insbesondere die Unterversorgung im Winter 1941/42, die Wirkung der sowjetischen Artillerie, der sogenannten Stalinorgeln, der Kampf mit Läusen, Wanzen, Ratten und Wölfen, die Wegelosigkeit im Frühjahr und Herbst, die Bedeutung der Panjewagen im unwegsamen Gelände sind Gegenstand seiner Beobachtungen. "Die Natur hat die Technik besiegt" (83). Er zeigte viel Mitgefühl für die unglaublichen Anstrengungen, sich im Schlamm, in Kälte und Schneestürmen der sowjetischen Angriffe zu erwehren. "5 Monate fast, flutete Angriff auf Angriff gegen unsere Linien. Immer wieder und immer von neuem, wie die Wellen des Meeres gegen das Ufer, laufen die Russen gegen unsere Stellungen an. Leichenfelder liegen an den Hauptbrennpunkten der Kämpfe." (Eintrag vom 8. Mai 1942; 153).

Heinricis Beobachtungen für die Jahre 1941 bis 1943 vom Nebeneinander "fanatischen" Einsatzes der sowjetischen Soldaten einerseits und Defätismus andererseits ist auch ein großes Thema der Literatur über das Verhalten der sowjetischen Soldaten. [5] Für den hartnäckigen und rücksichtslosen Einsatz der Rotarmisten wurden laut Aussage von Kriegsgefangenen die politischen Kommissare verantwortlich gemacht, andererseits dämmerte auch der deutschen Seite die Einsicht, dass die Generation, in der Sowjetunion aufgewachsen, nicht mehr dem vermeintlich unbedarften Soldaten des Ersten Weltkrieges entsprach, sondern erfolgreich "indoktriniert" war. Den materiellen Beweis hierfür lieferte in der Beobachtung Heinricis der vergleichsweise gute Zustand sowjetischer Schulen und Bildungseinrichtungen, ein Beleg für die intensiven Erziehungs- und Sozialisierungsleistungen auf sowjetischer Seite. Heinrici und andere registrierten die Unverhältnismäßigkeit der Opferzahlen auf sowjetischer und deutscher Seite. Er ging in der Regel von einem Verhältnis 1 zu 3 aus, ein Verhältnis, das nicht nur den Positionen zwischen Angreifer und Verteidiger geschuldet sei, sondern auch der Bedenkenlosigkeit und unsinnigen Angriffsoperationen der sowjetischen Befehlshaber. Die Schonung der eigenen Soldaten gehörte bekanntlich nicht zum Tugendkanon sowjetischer Kommandeure.

Als Befehlshaber in der Heeresgruppe Mitte, deren Front bis zum Zusammenbruch Mitte 1944 vergleichsweise stabil blieb, hatte es Heinrici mit den sowjetischen Partisanen zu tun. Ihm blieb nicht verborgen, dass ihr Erfolg im besetzten Gebiet ganz wesentlich mit der deutschen Politik zu tun hatte. Dies galt spätestens seit Stalingrad, als die militärische Initiative ganz auf die sowjetische Seite übergegangen war. Die Härte und die Grausamkeiten des Partisanenkrieges erlebte er aus nächster Nähe. Sein eigener Dolmetscher profilierte sich im Kampf gegen sie und hängte Partisanen 100 Meter vor Heinricis Fenster auf, was "kein schöner Anblick" war (88).

Der Partisanenkrieg war offensichtlich für Heinrici eine traumatische Erfahrung, welche neben der "Heimtücke" des Bolschewismus die "Hässlichkeit" des Krieges im Osten ausmachte: "In diesem Kampf spielt die Nacht, der Hinterhalt, der Überfall die Hauptrolle. Überall haben die Banditen ihre Zuträger und Nachrichtenquellen, selten gelingt es, sie zu überraschen. Unter der Oberfläche, nicht erkennbar, läuft hier in Russland ein Nachrichtensystem, dem wir nichts gleichartiges entgegenzusetzen haben. [...] So fließt und arbeitet unter uns, um uns, gegen uns eine überall verbreitete Organisation, mit primitivsten und modernsten (Funk) Mitteln, bestrebt, den "Fritzen" zu schaden" (213-214).

Die Tagebucheintragungen und Briefe liefern keine grundsätzlich neuen Einsichten in den Krieg gegen die Sowjetunion, aber sie veranschaulichen manchmal durchaus beeindruckend den Krieg aus der mild gefilterten Sicht eines Generals, der selber nicht im Schützengraben liegen musste, wohl nur selten fror und nicht hungern musste und sich nur im letzten Moment unsinnigen Befehlen entzog. Immerhin quälte ihn schon 1943 die Einsicht: "Alle hassen uns abgrundtief. Wir hausen ja auch in den Ländern, dass Gott erbarm. Unsere Leute bilden sich noch ein, verdienstvoll zu handeln, wenn sie alles vernichten. Aber sie sind wie die Verrückten" (223).


Anmerkungen:

[1] Johannes Hürter: Hitlers Heerführer. Die deutschen Oberbefehlshaber im Krieg gegen die Sowjetunion 1941/42, München 2007.

[2] Johannes Hürter: Das Auswärtige Amt, die NS-Diktatur und der Holocaust, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 59 (2011), 167-192.

[3] Johannes Hürter: Ein deutscher General an der Ostfront. Die Briefe und Tagebücher des Gerhard Heinrici 1941/1942, Erfurt 2001.

[4] Johannes Hürter: Die Wehrmachtsgeneralität und die "Bewältigung" ihrer NS-Vergangenheit, in: Forum für osteuropäische Ideen- und Geistesgeschichte 18 (2014), 17-30.

[5] Siehe die Beiträge von Mark von Hagen und Robert W. Thurston, in: Robert W. Thurston / Bernd Bonwetsch (eds.): The People's War. Responses to World War II in the Soviet Union, Urbana / Chicago 2000.

Dietrich Beyrau