Rezension über:

Thomas M. Krüger: Leitungsgewalt und Kollegialität. Vom benediktinischen Beratungsrecht zum Konstitutionalismus deutscher Domkapitel und des Kardinalkollegs (ca. 500-1500) (= Studien zur Germania Sacra. Neue Folge; 2), Berlin: de Gruyter 2013, VIII + 355 S., ISBN 978-3-11-027725-8, EUR 129,95
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Rezension von:
Werner Maleczek
Institut für Geschichte, Universität Wien
Redaktionelle Betreuung:
Ralf Lützelschwab
Empfohlene Zitierweise:
Werner Maleczek: Rezension von: Thomas M. Krüger: Leitungsgewalt und Kollegialität. Vom benediktinischen Beratungsrecht zum Konstitutionalismus deutscher Domkapitel und des Kardinalkollegs (ca. 500-1500), Berlin: de Gruyter 2013, in: sehepunkte 15 (2015), Nr. 9 [15.09.2015], URL: https://www.sehepunkte.de
/2015/09/24412.html


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Thomas M. Krüger: Leitungsgewalt und Kollegialität

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Die in Augsburg 2009 approbierte und seitdem kaum ergänzte Habilitationsschrift nimmt sich eines Bereiches der kirchlichen Verfassungsgeschichte an, der viele gemeinsame Züge mit der weltlichen Herrschaft aufweist. Autokratisches und dynastisch bestimmtes, uneingeschränktes Regieren ist im Mittelalter eigentlich die Ausnahme, denn der Normalfall ist eine Art dualer, durch ein Wahlverfahren übertragener oder konsensgeprägter Herrschaft, bei der die Gewichte im weltlichen Bereich meist nach dem freien Spiel der Kräfte verteilt sind. König/Fürsten, Fürst/adeliges Gefolge, Landesherr/Landstände, Bürgermeister/Stadtrat sind dem Verfassungshistoriker ebenso vertraut wie die kirchlichen Paarungen Papst/Kardinäle, Bischof/Domkapitel, Abt/Konvent und Rektor/Professoren der Universität. Dem Leitungsanspruch der hierarchisch Oberen standen die Forderungen nach Beratung und Mitbestimmung der Wähler und Beherrschten gegenüber. Dies gilt auch in modifizierter Weise in der Kirche, obwohl in ihr seit der Frühzeit die Tendenz zum allein vor Gott verantworteten Herrschen überwiegt, dessen Begründung schriftlich fixiert und in kanonischen Sammlungen tradiert ist. Die plenitudo potestatis, seit dem Frühmittelalter zur Kennzeichnung päpstlicher Herrschaftsbefugnis gebraucht, wird in der gregorianischen Reform des 11. Jahrhunderts zum lange fortwirkenden Schlagwort.

Krüger geht der korporativen Selbstbestimmung wahlberechtigter geistlicher Gemeinschaften jedoch nicht systematisch und kontinuierlich nach, sondern springt thematisch und chronologisch zumeist zwischen den (deutschen) Domkapiteln und dem Kardinalskollegium hin und her, wobei ein Schwerpunkt im Spätmittelalter liegt. Dabei kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass in den letzten zehn Jahren erschienene Aufsätze - besonders über Wahlkapitulationen - nicht fugenlos zusammengefügt wurden. In einem ersten Abschnitt (Ideen- und rechtsgeschichtliche Grundlagen, 13-63) werden handlungsleitende Prinzipien gesucht, bei denen die Regula Benedicti mit ihrer Beschreibung des Verhältnisses zwischen dem Abt und den ihm anvertrauten Mönchen das wirkmächtigste gewesen sein soll. (Dass sich die "Formierung der Domkapitel als exklusiver Wahl- und Ratskollegien wesentlich aus der benediktinischen Verfassungstradition heraus verstehen" lassen soll (64), müsste quellenmäßig doch genauer erläutert werden). Daneben wird die Aufmerksamkeit auf das spätantike Quod omnes tangit und die Lex Quisquis gelenkt, bei der der Senat und die Mitglieder des kaiserlichen Konsistoriums als Glieder des Kaisers bezeichnet und deshalb einem besonderen Schutz unterstellt werden. Durch die Aufnahme in kanonistische Sammlungen des Hochmittelalters hätten sie im kirchlichen Bereich ihre Wirkung entfaltet. Auch die organologische Metapher von den Gliedern des Körpers habe Mitbestimmungsansprüche gefördert. Die Art, wie Krüger diese Leitsätze bei Theoretikern des 12. bis 14. Jahrhunderts verarbeitet sieht, wirkt jedoch häufig beiläufig und eklektisch und beispielsweise sind die Sprünge von der Wahlkapitulation des Augsburger Kapitels von 1414 zum Kommentar des Hostiensis zu X 3.10 (27-29) nur schwer nachzuvollziehen. Besonders die theoretischen Begründungen der Rechte des Kardinalskollegiums vom 12. zum 14. Jahrhundert fügen sich nur schlecht in den Zusammenhang, und bei manchen Bezügen ist man sogar überrascht, wie bei der inneren Verfestigung des Kardinalskollegiums, das durch die römische Kommune von 1143 gefördert worden sein soll (32).

Im zweiten großen Abschnitt - Formierung der Wahlkollegien (10.-13.Jahrhundert) (65-163) - wird die Technik des häufigen Themenwechsels von den Domkapiteln zum Kardinalskollegium beibehalten. Leider konnte Krüger das von Dendorfer und Lützelschwab herausgegebene Handbuch zur Geschichte des mittelalterlichen Kardinalates (2011) nicht mehr benützen, denn damit wären ihm nicht wenige schiefe Beurteilungen zur Verfassungsgeschichte des Kardinalates im 12./13. Jahrhunderts erspart geblieben. (Unterblieben wäre wohl auch, was er über das Konsistorium unter Coelestin III. und Innocenz III. schreibt, denn die zitierten Seiten der Arbeit des Rezensenten enthalten etwas ganz Anderes und über ein consilium communis [sic!] habe ich mich nie geäußert, 155 mit Anm. 346).

Der dritte große Abschnitt (Zwischen Schein und Zusammenbruch der zentralistisch-hierarchischen Kirchenordnung [ca. 1289-1409], 163-221) beginnt mit einer gerafften Darstellung der Pontifikate Coelestins V. und Bonifaz' VIII. unter dem Aspekt der kardinalizischen Mitwirkung, wobei aber weitgehend Fehlmeldung zu erstatten ist. Es folgen Überlegungen zu päpstlichen Provisionen und dem konstitutionellen Wandel der Wahlkollegien, wobei diesmal die Domkapitel von Konstanz, Trier, Mainz und Köln zu Beginn des 14. Jahrhunderts als Beispiele herhalten. Die päpstlichen Einflussnahmen waren mehr theoretischer Natur und zielten auf eine Steigerung der Einkünfte der Kammer in Avignon (181-206), was übrigens schon seit langem bekannt ist. Diese Auseinandersetzungen kamen dem Selbstbewusstsein der Kapitel zugute. Dass gerade die Konflikte um das Mainzer Domkapitel das Kardinalskollegium in Avignon veranlassten, "ihren eigenen Rechtstatus mit demjenigen von Domkapitularen zu vergleichen [...], wodurch sie sich entschieden [...], nach dem Vorbild des Mainzer und anderer Domkapitel ihr Wahlrecht zur Vermehrung ihrer konstitutionellen Rechte zu gebrauchen und eine Wahlkapitulation aufstellten" (200f.) halte ich für eine Vermutung, die besser durch Quellen belegt sein müsste. Auch die Aussage, "dass der Ausbruch des Großen Abendländischen Schismas 1378 aus verfassungsgeschichtlicher Perspektive [...] als eine verspätete Antwort auf die von Innocenz VI. verweigerte Anerkennung formalisierter Mitbestimmungsrechte der Kardinäle" erscheint (207), ist wohl eine stark verengte Optik, die sich aus der Krüger'schen Themenstellung erklärt.

Überzeugender als die ersten drei Teile wirkt der vierte große Abschnitt (Formalisierung der Mitbestimmung und Etablierung fürstlicher Dominanz [15. Jahrhundert], 223-285), denn in ihm werden die Reformanstöße des Konstanzer Konzils zur rechtlichen Stellung des Kardinalskollegiums, besonders aber die Reihe der päpstlichen Wahlkapitulationen seit 1431 und bis 1484 behandelt. Zum Teil zielten sie auf Festlegung kardinalizischer Mitbestimmung in rechtlich weicher Form, zum Teil hatten sie die Befriedigung "schamloser Habgier" (283) zum Ziel. Den Domkapiteln kam im 15. Jahrhundert ihre korporative und vermögensrechtliche Autonomie entgegen.

Das Buch hinterlässt einen zwiespältigen Eindruck. Vielleicht wäre es besser gewesen, den Grundgedanken von dem Streben der geistlichen Wählerkollegien nach Mitbestimmung in einem engeren zeitlichen Rahmen zu verfolgen, statt bei Sprüngen durch die Jahrhunderte und die geistigen Grundlagen und die punktuelle Realisierung notgedrungen oberflächlich oder repetitiv zu wirken. Sicher wäre es besser gewesen, das Manuskript einer genauen Kontrolle zu unterziehen, denn die stehengebliebenen Ungenauigkeiten stimmen nicht wohlwollender (21 Anm. 32, 22: Codex Theodosiani - 31: Heinrich von Segusia - 33: im mittleren Absatz blieb ein Halbsatz stehen - 35 Anm. 89: Der Brief Innocenz' III. an den Katholikos kann nicht von 1109 sein - 37 Anm. 98, und Literaturverzeichnis: der Autor heißt Amari und nicht Armari - 83 Anm. 76: es ist wohl nicht nötig, das Register Gregors VII. nach der Signatur im Vatikanischen Archiv zu zitieren - 88 Anm. 95: Johannes VIII. regiert bis 882 - 97: Das Zweite Laterankonzil von 1135 - 104: Coelestin III. stirbt 1198 und nicht 1197 - 119ff.: Papsturkunden zwischen 896 und 1046 sollte man nach der Edition von Harald Zimmermann zitieren - 121: Bischof Hezilo von Hildesheim stirbt 1079 - 125: Papst Honorius IV. (1285-1287) kann 1283 keine Urkunde ausstellen - 131: Der Liber Extra erscheint 1234, nicht 1239 - 151: Das zitierte Werk von Spinelli fehlt im Literaturverzeichnis - 155: Coelestin III., nicht Coelestin IV. - 157: Honorius III. ist kein Savelli - und so fort).

Werner Maleczek