Rezension über:

Alexander Kraus / Martina Winkler (Hgg.): Weltmeere. Wissen und Wahrnehmung im langen 19. Jahrhundert (= Umwelt und Gesellschaft; Bd. 10), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2014, 253 S., 11 Abb., 5 Karten, ISBN 978-3-525-31713-6, EUR 49,99
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Rezension von:
Tobias Huff
Historisches Seminar, Johannes Gutenberg-Universität, Mainz
Redaktionelle Betreuung:
Nils Freytag
Empfohlene Zitierweise:
Tobias Huff: Rezension von: Alexander Kraus / Martina Winkler (Hgg.): Weltmeere. Wissen und Wahrnehmung im langen 19. Jahrhundert, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2014, in: sehepunkte 14 (2014), Nr. 10 [15.10.2014], URL: https://www.sehepunkte.de
/2014/10/24714.html


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Alexander Kraus / Martina Winkler (Hgg.): Weltmeere

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Die Publikationen der Reihe Umwelt und Gesellschaft, herausgegeben aus dem Umfeld des Rachel Carson Center München, stehen für eine hochwertige und innovative Umweltgeschichtsschreibung. Während die Mehrzahl der bisherigen Bände den Schwerpunkt im 20. Jahrhundert hatte, lässt der hier besprochene Band "Weltmeere" eine stärkere Akzentuierung des 19. Jahrhunderts erhoffen. Eben dieses Jahrhundert, das Jürgen Osterhammel als eine Zeit der Transformation umriss, das relativ unverbunden zwischen der Frühen Neuzeit und den vielen Spielarten der Moderne steht, rückt in jüngster Zeit wieder verstärkt in das Interesse der Forschung. [1] Leider teilt der Sammelband auch die ebenfalls zu bemerkende Schwerpunktbildung der Forschung auf die zweite Jahrhunderthälfte und der Untertitel vom langen 19. Jahrhundert dient dazu, die teilweise weit ins 20. Jahrhundert reichenden Beiträge einzufangen. Acht der elf Aufsätze befassen sich mit einem Untersuchungszeitraum der nach 1850 liegt. Sie bearbeiten damit einen Zeitraum, in dem die Verwandlung der Welt entweder sehr weit fortgeschritten oder bereits weitgehend abgeschlossen ist.

Gleichwohl folgen die Beiträge in ihrer Mehrheit einer spezifischen "Entdecker-Erzählung" und nehmen die Areale des Globus in den Blick, die sich dem Zugriff von Industrialisierung und erwachsender westlicher Moderne noch entzogen: die Tiefsee und die Polarregionen. Die heldenhaften Akteure machten sich auf, die letzten weißen, respektive blauen Flecken des Globus zu erforschen. Doch auch wenn sie das Werk der Weltumsegler der Frühen Neuzeit in gewisser Weise fortsetzen, brechen sie auch mit deren Traditionen und stellen sich und ihr Tun in den Dienst des Nationalstaates. Lars Schladitz illustriert dies in treffender Weise mit den Fotografien japanischer Walfänger im Südpolarmeer. Als Individuen sind die dargestellten Personen nicht erkennbar, es gehe primär darum, die Leistungsfähigkeit japanischer Walfangschiffe in der lebensfeindlichen, antarktischen Umwelt zu beweisen, auch und gerade im Vergleich zu den "alten" Industrienationen Großbritannien und Norwegen. Damit gelingt Schladitz auch eine Annäherung an eine der Grundfragen der Umweltgeschichte, nämlich die Rolle der Natur in historischen Prozessen zu erfassen: Der verspätete japanische Imperialismus musste sich seiner Leistungsfähigkeit im Wettstreit mit anderen in einer menschenfeindlichen Umgebung versichern, um im nächsten Schritt eine Beherrschung des mittelpazifischen Raumes in Angriff zu nehmen. Tendenziell in die gleiche Richtung, allerdings weniger pointiert, weisen auch die Beiträge von Franziska Torma, Pascal Schillings sowie - mit leicht anderer Schwerpunktsetzung - Jens Ruppenthal. Die von breiter nationaler Aufmerksamkeit begleiteten Expeditionen in die Polarregionen dienen ebenso dem internationalen Renommee wie die Kartierung des Meeres und die Erziehung der Deutschen zu guten Seemännern, die dem Deutschen Reich einen Vorteil im Wettstreit der Nationen sichern soll. Doch der von Winkler und Kraus herausgegebene Sammelband möchte mehr, als die großen Erzählungen des 19. Jahrhunderts vom Glauben an die technische Machbarkeit, von Imperialismus und Kolonialismus um eine maritime Note bereichern. In ihrem einleitenden Aufsatz entwerfen sie ein recht ambitioniertes Programm. In ihrer Vorstellung sind Ozeane "belebte Räume, welche mit Sinn zu füllen nun die Aufgabe der Menschen und damit des historischen Agierens sei" (9). Historizität wird damit untrennbar mit dem Menschen verknüpft. Dieser sei, geprägt von einem 'terrozentrischen' Weltbild und einem Territorialisierungsparadigma, in eine erzählerische Falle gelaufen. Um dem geschichtslosen, sich jedem menschlichen Kultivierungsversuch entziehenden Meer Herr zu werden, sei die See in einen othering-Diskurs gepresst worden, der in der Meistererzählung kulminiere, das Verhältnis zwischen Mensch und Meer sei von je her von Angst und Distanz bestimmt gewesen. Als Ausweg bringen Winkler und Kraus den oceanic turn ins Gespräch. Daraus solle jedoch keine Meeresgeschichtsschreibung erwachsen, die ihre raison d'être aus der Alterität beziehe, sondern eine Geschichtswissenschaft, die maritime Kategorien inkorporiere. Die Herausgeber haben es auf die, in ihren Augen konstruierte, Dichotomie der Kollektivsingulare Mensch und Meer abgesehen. Dem könnte man grundsätzlich entgegenhalten, dass das Meer im gleichen Maße Geschichtsmächtigkeit gewinnt, wie das "Landtier" Mensch in der Lage ist, sich mittels technischer Hilfsmittel weitgehend gefahrlos darauf oder auch zunehmend darin zu bewegen.

Daher ist auch der Beitrag von Werner Tschacher als der paradigmatischste des Sammelbandes zu nennen. Tschacher dechiffriert Jules Vernes 20.000 Meilen unter den Meeren als eine Art Schlüsselroman des 19. Jahrhunderts, als ein Amalgam aus technischem Machbarkeitsglauben, Zukunftsoptimismus, Erzählungen von Kolonialismus und Freiheitskampf von Anarchie und dem letztendlichen Obsiegen der bürgerlichen Ordnung. Neben Tschacher sind es Winkler und Kraus selbst, die in ihren jeweiligen Beiträgen das Geforderte am konsequentesten umsetzen. Winkler gelingt es, eine spezifisch russische Wahrnehmung des Meeres herauszustellen. Diese unterscheide sich markant von westlich-europäisch geprägten Darstellungen der See als gefährlich und unwirtlich. Die russische Interpretation des Nordpazifiks als räumliche Einheit von Inseln und Meer stehe vielmehr in der Tradition der "diskursive[n] Domestizierung", wie sie auch zuvor für Sibirien zu beobachten gewesen sei. Kraus bedient sich eines soundhistorischen Ansatzes, um sich seinem Ziel, einer Beschreibung der Entzauberung der Arktis, anzunähern. Kollidierende Eisfelder und die damit verbundenen Eispressungen bedeuteten für die Schiffe eine erhebliche Gefahr. Die mit den Pressungen verbundenen Geräusche verdeutlichten den Besatzungen ihre Machtlosigkeit gegenüber den Naturgewalten und wurden überwiegend als beklemmend beschrieben. Erst als es Fritjof Nansen gelang, mit der Fram ein Schiff zu konstruieren, das den Eismassen widerstand, habe das Geräusch des Nordpolarmeers seinen Schrecken verloren.

Neben den bereits erwähnten Beiträgen, die sich in Hinblick auf Ort oder Gegenstand zusammenfassen ließen, stehen noch vier weitere Beiträge, die sich einer Gruppierung entgegenstellen. Im Allgemeinen gibt der Sammelband leider keine Auskunft darüber, ob er das Ergebnis eines Call for Papers oder das Produkt einer wissenschaftlichen Tagung ist. Der von Winkler und Kraus geforderten Pluralisierung der Meeresforschung trägt die Einbindung der Kulturwissenschaftlerinnen Julia Heunemann und Mareike Vennen Rechnung. Während Heunemann sich mit den Methoden der Wissensgenerierung bezüglich Meeresströmungen befasst, stellt Vennen in ihrem lesenswerten Beitrag das Aquarium in den Mittelpunkt. Neben der geglückten Verquickung des zentralen Untersuchungsgegenstandes Meer mit bürgerlicher Gelehrsamkeit entwickelt Vennen eine interessante agency-Konstruktion des Aquariums. Weniger überzeugend ist jedoch der Versuch von Schillings, dem Meer Akteursqualität zuzuschreiben. Die Herleitung erscheint eine Spur zu beliebig und ließe sich in dieser Form auf jede Naturgewalt übertragen.

Am Ende bleibt die Frage offen, was vom Wissen und Wahrnehmung der Weltmeere wie es in den Beiträgen geschildert wurde, exemplarisch für das 19. Jahrhundert war. Die Aufsätze tragen dazu bei, das fortschrittsoptimistische und technikgläubige Bild dieses Jahrhunderts zu verdichten. Dies kann an der zeitlichen Schwerpunktsetzung liegen, schimmert aber auch bei der geographischen Verortung durch. Gerade angesichts des postulierten Zieles, Dichotomien aufzulösen, wären mehr Beiträge wünschenswert gewesen, die sich mit dem sich wandelnden Bild des Meeres auseinandersetzen - und zwar nicht mit dessen extremer Spielart, sondern mit dem Meer "vor der Haustür".


Anmerkung:

[1] Jürgen Osterhammel: Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts, München 2013, 84-116.

Tobias Huff