Rezension über:

Alexander Kraus / Birte Kohtz (Hgg.): Geschichte als Passion. Über das Entdecken und Erzählen der Vergangenheit. Zehn Gespräche, Frankfurt/M.: Campus 2011, 348 S., ISBN 978-3-593-39409-1, EUR 29,90
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Rezension von:
Detlev Mares
Institut für Geschichte, Technische Universität, Darmstadt
Redaktionelle Betreuung:
Michael Kaiser
Empfohlene Zitierweise:
Detlev Mares: Rezension von: Alexander Kraus / Birte Kohtz (Hgg.): Geschichte als Passion. Über das Entdecken und Erzählen der Vergangenheit. Zehn Gespräche, Frankfurt/M.: Campus 2011, in: sehepunkte 12 (2012), Nr. 1 [15.01.2012], URL: https://www.sehepunkte.de
/2012/01/19724.html


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Alexander Kraus / Birte Kohtz (Hgg.): Geschichte als Passion

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"Witterung aufnehmen" - so charakterisieren Alexander Kraus und Birte Kohtz in der Einleitung zu den Gesprächen, die sie mit jeweils fünf renommierten Historikerinnen und Historikern geführt haben, den Schritt im wissenschaftlichen Arbeitsprozess, der sie am meisten interessiert: Wie entwickelt sich aus einer zunächst möglicherweise noch vagen Vorstellung eines vielversprechenden Untersuchungsobjekts ein Forschungsvorhaben und schließlich ein Resultat? Antworten auf diese Frage suchen sie - trotz substantieller Erörterungen in der Einleitung - nicht in geschichtstheoretischen Erwägungen, sondern in der Reflektion über empirische Arbeitsprozesse. Für jedes Interview sind sie durch eine intensive Lektüre der Werke des entsprechenden Gesprächspartners gewappnet (gelegentlich zu dessen Erstaunen, dass auch entlegen publizierte Aufsätze angesprochen werden). Auf diese Weise erhalten alle Gespräche eine persönliche, an der jeweiligen Forschungsbiographie orientierte Note. Zugleich gewährleistet die geschickte Gesprächsführung, dass die angesprochenen Werke stets in den übergeordneten Fragehorizont eingeordnet werden.

Welches Bild der praktischen Bedingungen von "Geschichtswissenschaft" entsteht aus den Gesprächen? Zum einen tritt deren individuelle Färbung deutlich hervor. Wiederholt ist die Rede von der Faszination, die die Quellen auf die Forscher ausüben, aber auch von ihrer Widerständigkeit gegenüber der Formulierung wissenschaftlicher Hypothesen. Auch der Zufall spielt bei allem Bemühen um methodisch abgesicherte Verfahren eine nicht unerhebliche Rolle, vor allem wenn es um die Inspiration zur Niederschrift der Arbeitsergebnisse geht.

Alle Interviewpartner legen großen Wert auf die Anschaulichkeit der eigenen Texte. Fragen nach der intendierten Leserschaft werden zwar unterschiedlich beantwortet, doch die Auseinandersetzung mit Sprache und das Ringen um die angemessene Ausdrucksform zwischen wissenschaftlicher Präzision und Allgemeinverständlichkeit kommen in fast allen Interviews zur Sprache, darunter - z.B. bei Ulrike Klöppel - das Anliegen, ein nicht-wissenschaftliches Publikum zu erreichen. Um Anschaulichkeit geht es allerdings nicht nur bei der Formulierung der Forschungsergebnisse, sondern sie kommt schon in der Quellenauswahl zum Tragen. So berichtet Julia Voss über ihre Beschäftigung mit visuellen Quellen zu Darwin, während Anke te Heesen Fragen zur Arbeit mit gegenständlichen Quellen und deren musealer Präsentation beantwortet.

Die individuellen Erfahrungen verbinden sich in der Lektüre der Gespräche zum anderen zu kollektiven Forschungsunterfangen. Explizit konstatiert der Mediävist Valentin Groebner eine Art "Generationenprojekt" der in den 1970er und 1980er Jahren ausgebildeten Wissenschaftler, die häufig ein Interesse dafür teilen, welche "Wirkungen Fiktionen und Imaginationen entfalten" (216). Im weitesten Sinne lässt sich zu diesem Generationenprojekt sicherlich auch die Überschreitung hergebrachter konzeptioneller Grenzen zählen. Diese Perspektive ist unter anderem repräsentiert durch die Umweltgeschichte Christof Mauchs, die Diskursgeschichte Philipp Sarasins oder die Migrationsforschung Simone Blaschka-Eicks.

Während sich geteilte Frageperspektiven ausmachen lassen, scheint die Erklärungskraft gesellschaftswissenschaftlicher Großtheorien skeptisch gesehen zu werden. Zwar beschreibt nur Carsten Goehrke den theoretischen Gehalt seiner Werke ausdrücklich als Resultat des Schreibprozesses, doch die meisten Autorinnen und Autoren betonen die flexible Wechselbeziehung von Quellen und Theorieangeboten, die oft in jeweils spezifisch angelegte Forschungsdesigns mündet.

Besonders aufschlussreich sind die Gespräche mit Vertretern der Wissenschaftsgeschichte, die von den Fragestellern dazu angeregt werden, ihre Erkenntnisse über die Produktionsbedingungen von Wissenschaft in eine Reflektion über die eigene Arbeit umzumünzen. So wendet Hans-Jörg Rheinberger seine Charakterisierung des Experimentalsystems als "Spinnennetz", in dem sich das Neue verfängt, im Fall der Geisteswissenschaften auf den Schreibprozess an, bei dem "Dinge sozusagen an ihren Platz fallen" (279). Wer allerdings erwartet, dass sich aus der Beschäftigung mit wissenschaftlichen Ordnungssystemen ein Patentrezept zur Ordnung auf dem eigenen Schreibtisch destillieren lasse, wird eines Besseren belehrt. Kaum einer der Interviewpartner bezeichnet das eigene Ordnungssystem als vorbildlich, übersichtlich oder auch nur zielführend. Das verzweifelte Ringen um die nie erreichte angemessene Sortierung der eigenen Unterlagen scheint die produktive Urkatastrophe jeglicher historischen Forschung zu sein. Die Offenheit, die die Gesprächspartner bei der Erörterung nicht nur dieser Frage zeigen, gibt den Gesprächen einen durchweg sympathischen Grundzug. Sofern hier eine Selbststilisierung der befragten Wissenschaftler vorliegt, inszenieren sich diese zumindest nicht als allwissende Großordinarien, sondern eher als nimmermüde Nachfolger des Sisyphos.

Beim Lesen begegnet man Ausführungen zu den institutionellen Organisationsformen von Wissenschaft, zur Wahrnehmung der Nachwuchssituation, zu speziellen weiblichen Erfahrungen im Wissenschaftsbetrieb oder - wie im Fall Lorraine Dastons - zum Potential interdisziplinärer Kooperationen, aber auch zu Brüchen in den einzelnen Biographien. Eher gelegentlich zählt dazu auch das Scheitern wissenschaftlicher Ambitionen oder von Karriereaspirationen. En passant werden zahlreiche Länder, Institutionen und Personen gestreift, darunter auffallend häufig Charles Darwin. Noch mehr hätte man vielleicht gerne erfahren zu den Veränderungen, die neue Datenbankangebote für die Arbeitspraxis der Geschichtswissenschaftler haben. Das Thema wird angesprochen in der Unterhaltung mit Philipp Sarasin, doch zur Bedeutung von Online-Nachschlagewerken oder digitalen Quellensammlungen für die alltägliche historische Arbeit ließe sich sicher noch mehr sagen.

Insgesamt gelingt es durch die Interviewform, komplexen Theorie- und Praxisfragen eine ausgesprochen zugängliche Form zu geben. Entstanden ist ein lesenswerter, gleichermaßen anspruchsvoller und doch unterhaltsamer Blick hinter die Kulissen der Produktion von Wissenschaft. Trotz der lockeren Verbindung intellektueller und arbeitstechnischer Fragen wirkt das Ergebnis niemals beliebig. Zu verdanken ist dies den sorgfältigen Fragestellern, die bei allen Details stets die Leitfrage im Blick behalten, sobald sie "Witterung aufgenommen" haben.

Detlev Mares