Rezension über:

Armin Schopen: Tinten und Tuschen des arabisch-islamischen Mittelalters. Dokumentation - Analyse - Rekonstruktion (= Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen. Philologisch-Historische Klasse. Dritte Folge; Bd. 269), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2006, 264 S., ISBN 978-3-525-82541-9, EUR 76,90
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Rezension von:
Otfried Weintritt
Freiburg/Brsg.
Redaktionelle Betreuung:
Stephan Conermann
Empfohlene Zitierweise:
Otfried Weintritt: Rezension von: Armin Schopen: Tinten und Tuschen des arabisch-islamischen Mittelalters. Dokumentation - Analyse - Rekonstruktion, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2006, in: sehepunkte 9 (2009), Nr. 10 [15.10.2009], URL: https://www.sehepunkte.de
/2009/10/13052.html


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Diese Rezension ist Teil des Forums "Islamische Welten" in Ausgabe 9 (2009), Nr. 10

Armin Schopen: Tinten und Tuschen des arabisch-islamischen Mittelalters

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Das vorliegende Buch befasst sich mit der chemischen Technologie der farbigen und schwarzen Tinten und Tuschen des arabisch-islamischen Mittelalters bis zum 5./11. Jahrhundert, einer der für jede historische Manuskriptkultur unerläßlichen materiellen Voraussetzungen. Um ihre Zusammensetzung und Herstellung zu ermitteln, hat der Verfasser nicht nur die den einschlägigen kodikologischen, alchimistischen, technischen sowie auch unspezifischen Quellenmaterialien entnommenen Rezepte dargestellt und ausgewertet. Aufgrund des umfangreichen Quellenverzeichnisses (19-33) möchte man annehmen, dass der Verfasser die gesamte zum Thema aussagekräftige Literatur herangezogen hat. Als loci classici der Tintenherstellung seien daraus lediglich die 'Umdat al-kuttāb des nordafrikanischen Verfassers Ibn Badīs, gestorben 501/1108, und der spätere Ṣubḥ al-a'šā von al-Qalqašandī, gestorben 821/1418, genannt. [1]

In vorliegender Arbeit reicht die Herangehensweise an diesen Bereich der materiellen Kultur hingegen weit über die bloße Darstellung und Auswertung der Quellenbefunde hinaus. Dem Verfasser ging es darum, die Rezepte "mit den natürlichen Rohstoffen unter den Gegebenheiten des mediterranen Klimas und Laborbedingungen" (7) auszuführen. Die Ergebnisse dieser Beschäftigung mit insgesamt 165 Anweisungen zur Herstellung von Schreibflüssigkeiten - teilweise haben sie noch zusätzliche Varianten - sind im Rezeptteil - dem Hauptteil des Buchs (33-180) - dokumentiert. Sie geben Auskunft über die Durchführbarkeit und - von besonderer Wichtigkeit - die Farbe des Schriftzugs, die mit der hergestellten Tinte bzw. Tusche zustande kommt. Den Rezepten in deutscher Übersetzung hat der Verfasser in den meisten Fällen philologische, islamwissenschaftlich sachkundliche sowie vor allem stoffkundliche Erklärungen beigefügt. Im umfangreichen Glossar (181-235) werden sämtliche Stoffe botanisch, mineralogisch etc. klassifiziert und im Hinblick auf ihre Verwendung und Wirkung bei der Tinten- und Tuschenherstellung beschrieben. Die Resultate von 56 Rezepten sind als fotografierte Schriftproben zusammen mit Abbildungen von Rohstoffen und Arbeitsgeräten dem Buch beigefügt (265-287). Mit all diesen Ergebnissen gelingt dem Verfasser in der Einleitung (9-17) eine ungemein dichte Darstellung der "Entwicklung und Herstellung schwarzer und farbiger Tuschen und Tinten bis zum 5./11. Jahrhundert" (7). Es geht dem Rezensenten im Folgenden nicht darum, die umfangreichen zentralen Teile des Buches (Rezeptteil und Glossar) im Einzelnen durchzugehen. Er möchte es aber trotz der Schwierigkeit des Unterfangens um der Wichtigkeit des Gegenstands willen nicht unterlassen, die überaus kompakte, detailreiche und differenzierte Einleitung über die Rußtinten und Eisengallustinten zu resümieren.

Am Anfang der Entwicklung stehen die Rußtinten oder Tuschen (arab. midād), die zum Beschreiben des noch ausschließlich in der frühesten islamischen Zeit gebrauchten Papyrus dienten. Bei diesen Kohlenstofftinten handelt es sich um "feste Stücke in Form von Pastillen oder Kügelchen, bestehend aus Ruß bzw. Pflanzenschwarz und einem Bindemittel (Pflanzengummi), die zum Gebrauch mit Wasser angerührt wurden, sich dabei aber nicht auflösten, sondern eine Suspension bildeten" (9). Diese schon in vorislamischer Zeit bekannten Rußtinten gehen zurück auf die um ihrer intensiven Schwärze willen geschätzte chinesische Tusche (midād ṣīnī). Da sie aber sehr teuer und schwer zu beschaffen war - Vergleichbares galt auch für die echte persische Rußtinte (midād fārisī), setzte eine eigene Tintenherstellung ein, die sich an der begehrten Eigenschaft der chinesischen Tusche orientierte. Der mit der Herstellung dieser Art von mehr oder weniger schwarz schreibenden Tinten gleichwohl verbundene Aufwand und ebenso die Kosten prädestinierte sie zu administrativen Verwendungen. Das Ergebnis dieser Anstrengungen "aus dem Ruß von Pinienharz sowie Fischleim bzw. Gummi" (10) brachte offensichtlich immerhin ein grauschwarzes Schriftbild, das aber keine adäquate Symbolisierung der Macht des Herrschers zu sein schien. Eine Möglichkeit, ein Schriftbild von kräftigerem Schwarz zu erzielen, schien darin zu bestehen, wertvollere Stoffe (wie die Harze Storax, Sandarak und Ladanum) zu verrußen und als Grundstoffe zu nehmen. Diese Stoffe garantierten auf jeden Fall, daß die Schreibflüssigkeit angenehm roch, was ein nicht gerade nebensächlicher Aspekt bei der Tinten-/Tuschenherstellung war. (Vgl. Rezept 4 einer Tinte (midād), die für die Könige hergestellt wird!) Ob diese nur in kleinen Mengen hergestellten teuren Schreibflüssigkeiten die vorrangig gewünschte Schwärze erbrachten, ist den Angaben zur Ausführung von Rezept 4 nicht zu entnehmen. Großen Wert legte man auf jeden Fall darauf, den Geruch der Tinten zu verbessern, wozu unterschiedliche Duftstoffe verwendet wurden (Moschus, Kampferöl, Weihrauch, Rosenwasser). Als letztem Schritt auf dem Weg, die Ruß- bzw. Kohlenstofftinten zu verbessern und die vorbildliche Schwärze der chinesischen Tusche zu erreichen, kam es dann zu Schreibflüssigkeiten, die auf Ölruß basieren. Man nahm dazu Lampenruß, für den regional variierend Oliven-, Lein- und Erdöl sowie die Öle von Sesam, Rettich-, Leinsamen und Kichererbsen zur Verfügung standen. Für diesen Zweck dienlicher Kohlenstoff fand sich auch als Ofenruß oder Ruß an Töpfen und Pfannen (10f.).

Mit dem Aufkommen der Kohletinte - einer einfachen Form der Rußtinte - beginnt ein neues Kapitel der Herstellung von Schreibflüssigkeiten im arabisch-islamischen Mittelalter. Sie entsprach den Erfordernissen der sich herausbildenden und etablierenden islamischen Wissenskultur, deren Schreibanlässe über diejenigen der Herrschaftsausübung bei weitem hinausgingen. Es entstanden im Irak "Gebrauchstuschen in fester Form" (11), deren Grundstoffe leicht zugänglich waren, wenig kosteten und deren Herstellung einfach war. Sie bestanden "aus verkohlten aber auch gerösteten oder unvollständig verbrannten Vegetabilien und Bindemitteln" (11). Ein bevorzugter Grundstoff waren Dattelkerne. Man nahm auch getrocknete Granatapfelschalen, Galläpfel, Palmrispen, Stoffreste, Kürbisschalen oder Weizenkörner für diesen Zweck. Mit welcher Vielfalt der Veranlassungen etwas zu schreiben, zu rechnen war, zeigt die Tinte für Sufis und Kinder. Es erübrigt sich zu sagen, daß man mit diesen Flüssigkeiten nicht schwarz, sondern eine anthrazitschwarze bis silbergraue Farbe erzielte.

Der Gebrauch des im Gegensatz zum Papyrus vorteilhafteren Pergaments ab der Mitte des 2./8. Jahrhundert führte zur Verwendung der schon seit dem 3. Jahrhundert v. Chr. bekannten flüssigen Eisengallustinte (ḥibr aswad). Der Grund ist darin zu sehen, daß sie im Gegensatz zur Rußtinte/Tusche auf dem nunmehr verwendeten Pergament haftete und nicht abgewaschen werden konnte. Mit ihr beschrieb man auch das bald danach in Gebrauch gekommene Papier (Ende des 2./8. Jahrhundert). Die Eisengallustinten -die bis in die heutige Zeit gebräuchlichen Schreibtinten - sind aus Gerbsäure und Eisen(II)Sulfat (12) hergestellt. Nach dem Eintrocknen der Schriftzüge wird die Gallussäure durch den Sauerstoff der Luft oxydiert, wodurch der für die Schwärze der Schrift verantwortliche schwer lösliche Farbstoff entsteht. Eisengallustinten werden in zwei Schritten hergestellt. Der erste Schritt besteht in der Extraktion der Gerbstoffe von Gallen (Eichen-, Terebinthen-, Tamarisken-), Früchten, Blättern, Holz und Rinde (Glossar, 189ff.). Die verschiedenen Extraktionsarten gaben den Tinten ihre Namen: Sonnentinten, weil die Gallen in der Sonne eingeweicht wurden, Feuertinten, weil sie gekocht wurden und ausgepreßte Tinten. Der zweite besteht in der Mischung - nach Möglichkeit im richtigen Verhältnis - der so entstandenen dunkelrot-braunen reinen Gerbstofftinte mit dem Eisensulfat, das die Tinte dunkel und im günstigsten Fall schwarz machte. Auch hier gab es verschiedene Methoden, mit denen unerwünschte Nebenwirkungen vermieden werden sollten. Nicht anders als bei den Rußtinten ging es jedoch auch bei diesen Tinten darum, die "optimale Eisengallustinte" herzustellen, die sich durch Schwärze und Glanz auszeichnete. Daß sie außerdem gut riechen und vor Schimmel sowie Fäulnis geschützt sein sollten, vermag das chemotechnologische Wissen insgesamt und den mit der Herstellung verbundenen Aufwand illustrieren. Mit der "Idealtinte" wurden Korane und der Befehl des Herrschers geschrieben, die mit weniger Aufwand hergestellten vom idealen Schwarz entfernten Varianten fanden Verwendung als "Behörden-, Gelehrten- und Lohnschreibertinten" (13f.).

Neben der aufwendigen Herstellung der Sonnen- und Feuertinten kannte man auch einfachere Verfahren. Sie lieferten die flüssigen Sofort- oder Schattentinten und die Trockentinten. Letztere dienten vor allem für Reisezwecke (vgl. "Rezept einer Reisetinte (ḥibr safarī), die kalt, ohne Feuer hergestellt", Rezept 82, 113). Diese Kategorie der einfach herzustellenden Tinten war mutmaßlich weit davon entfernt, die ideale Schwärze zu liefern. Um so mehr konnten sie aber dazu dienen, den großen Bedarf an Schreibflüssigkeit der "Gelehrten und Kopisten" zu decken. Der Verfasser vermutet in ihnen daher auch "die Tinten für die Allgemeinheit" (14).

Am Ende der Entwicklung steht die Verbesserung der Eisengallustinte, die ab dem frühen 4./10. Jahrhundert einsetzt. Indem man sie mit Ruß mischte, gelang es zahlreiche ihrer Nachteile zu beseitigen. Die Grundsubstanzen der Kohle- und Rußtinten wurden dann im Weiteren auf verschiedene Weisen mit denjenigen der Eisengallustinten kombiniert. Die Entwicklung dieser sog. Mischtinte (murakkab) fand ihren Abschluß am Ende des 4./10. Jahrhunderts in der flüssigen Eisengallus-Rußtinte (ḥibr duḫānī) oder Papiertinte (ḥibr al-kāġiḏ). Als Ergebnis dieser Entwicklung und zugleich deren Abschluß ("Höhepunkt ... der Tintenentwicklung überhaupt") war sie die "ideale Schreibflüssigkeit" (14), deren Eigenschaften (Dauerhaftigkeit, Wasserfestigkeit, Schwärze, Glanz) gerade auch den kalligraphischen Anforderungen genügen konnten.

Aber es mußte auch farbig gehen: Um Überschriften, Lemmata in Lexika und Kommentarwerken auszuzeichnen, Korane und andere Handschriften mit Zierlinien und Ornamenten zu illuminieren und bildliche Darstellungen in verschiedenen Gattungen des Schrifttums (schöne Literatur, technische Schriften) anzufertigen. Für diese Zwecke gab es Farbtinten und Farbtuschen. Zu ihnen sei nur allgemein erwähnt, ohne auf die Ergebnisse der Rezeptausführungen einzugehen: Die Grundfarben Rot, Gelb, Blau und Weiß wurden aus den Farbmitteln Zinnober (zunǧufr), Gelb mit Auripigment (zarnīḫ aṣfar; müßte es nicht zirnīḫ heißen, S.15?), Blau mit Indigo (nīl) und Weiß mit Bleiweiß (isfīdāǧ) hergestellt. Durch ihre Mischung ließen sich die Spektralfarben wiedergeben. Das Kitāb as-Sab'īn von Ǧābir b. Ḥaiyān gilt dafür als frühes Beispiel (spätes 9. Jahrhundert). Es enthält eine "'Farbtafel'", der die Mischungsverhältnisse entnommen werden konnten. (15). Der Verfasser kann dieses Thema mit der sicher bedeutsamen Feststellung abschließen, dass gerade die Herstellung der farbigen Schreibflüssigkeiten nicht allein auf alchemistischem und pharmakologischem Sach- und Erfahrungswissen beruhte. Bei ihr kamen Erkenntnisse, Erfahrungen und chemische Prozesse ins Spiel, die zur "praktischen Seite der arabischen Alchimie" (7, 16) gehören.

Soweit der Rezensent die einschlägige Forschungsliteratur über die Schreibflüssigkeiten im arabisch-islamischen Mittelalter überblicken kann, ist der vom Verfasser gezeigte Entwicklungszusammenhang bisher noch nicht in vergleichbarer Deutlichkeit zum Vorschein gekommen. Es handelte sich eher um die Beschreibung und Inventarisierung der im Schrifttum erwähnten unterschiedlichen Schreibflüssigkeiten. Erst die aus der Durchführung der Rezepte und der Rekonstruktion der vor allem schwarzen Tuschen und Tinten gewonnenen Ergebnisse geben den Blick frei auf die kontinuierlichen Veränderungen der Schreibflüssigkeiten, die nicht zuletzt am Ende des 4./10. Jahrhundert zur qualitativ nicht mehr steigerbaren Eisengallus-Rußtinte oder Papiertinte führten.

Über die höchst differenzierte Technologie der Schreibflüssigkeiten hinaus werden kulturhistorische Dimensionen sichtbar, die der Verfasser unterstellt und teilweise auch anspricht, aber nicht Gegenstand seiner Arbeit sind. Unter diesen lohnt es sich abschließend, folgende Phänomene hervorzuheben.

1. Es besteht ein unmittelbarer prozessualer Zusammenhang zwischen den kulturellen Gegenständen Schreibmaterialien und Schreibflüssigkeiten. Die Ersetzung des Papyrus durch die neuen Schreibmaterialien Pergament und Papier führte zu Veränderungen in der Technologie der Schreibflüssigkeiten. In einem relativ kurzen Zeitraum von der Einführung des Papiers um 800 bis zum Ende des 4./10. Jahrhunderts gelingt es, die Schreibflüssigkeiten zu optimieren (s. o. "ideale Schreibflüssigkeit"), wobei die stofflichen und herstellungstechnischen Entwicklungsmöglichkeiten ausgeschöpft werden und es auf diesem Gebiet bis zur Einführung des Buchdrucks im 19. Jahrhundert keine nennenswerten technologischen Veränderungen mehr gibt.

2. Die Tinten unterschieden sich je nach kostenabhängiger Qualität der verwendeten Substanzen und des Herstellungsaufwands durch ihre Schwärzegrade. Ihre Hierarchie abwärts vom glänzenden Schwarz bis zu schwächeren Ausführungen kopierte die gesellschaftliche Hierarchie. Über die "Idealtinte" sollte nur der Herrscher als Spitze der hierarchischen Ordnung gebieten und seine Macht symbolisieren. Sie war darüber hinaus dazu bestimmt, das die Hierarchie des Wissens krönende göttliche Wort zu materialisieren (Koranexemplare). In Abhängigkeit von ihrer Schwärze rücken die Schreibflüssigkeiten auf diese Weise an die unterschiedlichen sozialen Orte in der gesellschaftlichen Hierarchie (bis hin zur Einfachtinte für Sufis und Kinder, 9, 11).

3. Im Zusammenhang mit der zunehmenden Verbreitung des Papiers spricht der Verfasser von der "Öffentlichkeit" (11, Anm. 10), die sich dieses neuen Schreibmaterials bemächtigte. Die grauschwarz schreibenden Sofort- und Trockentinten werden als die Schreibflüssigkeiten der "Allgemeinheit" apostrophiert (14). Obwohl die Begriffe etwas unglücklich gewählt sind, weil sie eine nicht hierarchisierte Gesellschaft und eine die ganze Gesellschaft umfassende Schreibkundigkeit voraussetzen würden, verweisen sie auf gesellschaftliche Veränderungen. Diese lassen sich als die Herausbildung der islamischen Gesellschaftsordnung zusammenfassen; in ihr war das Schreiben keineswegs nur mehr auf die Erfordernisse der Herrschaftsausübung beschränkt. Zum einen hielt die proliferierende Wissenskultur mit ihrem spezifischen religiösen Übergewicht ihr Wissen auch schriftlich fest, so daß zahllose Manuskripte entstanden. Zum anderen brachte der städtische Lebensraum eine Verschriftlichung des sozialen resp. ökonomischen Lebens mit sich (Verträge, Urkunden etc.). Unter diesen Bedingungen gehörten Schreibflüssigkeiten gewissermaßen zum Alltag. Für ihre Verwendbarkeit genügte die Lesbarkeit, ohne daß ein besonderer Schwärzegrad erforderlich war.

4. Am hohen Maß der Zweckbestimmtheit der Tinten werden die spezifischen Bedürfnisse der mittelalterlichen islamischen Gesellschaft erkennbar. So brauchte man z. B. Tinten, die fast immer einsetzbar waren, also auch auf Reisen mitgenommen werden konnten. Sie lassen sich als eine direkte Funktion der für das arabisch-islamische Mittelalter typischen Mobilität auffassen.

5. Des Weiteren war die Tintenherstellung - diesen Eindruck erhält man aus der 'Umdat al-kuttāb von Ibn Badīs (gestorben 501/1108) - vermutlich keine Tätigkeit im Sinne einer spezifischen Berufskompetenz. Jeder der schrieb, stellte sich seine Tinten wahrscheinlich selber her. Das ist auch leicht zu erklären: Wer höchste Anforderungen an seine Schreibflüssigkeiten stellte - wie die Kalligraphen, wird sie ohnehin selbst hergestellt haben, um aus eigener Erfahrung mit den Substanzen und Prozeduren zweckbezogene Verbesserungsmöglichkeiten einschätzen zu können. Das dürfte cum grano salis auch für alle gelten, die regelmäßig und viel schrieben (Gelehrte, Kopisten). Anders mag es sich im Kanzleibetrieb am Hof des Herrschers verhalten haben, wo ausreichende Ressourcen vorhanden waren (Materialien, Arbeit), um die Schreiber mit den erforderlichen Schreibflüssigkeiten auszustatten.

Auch der Umstand, daß man zur Tintenherstellung weder zahlreiche noch spezielle Gerätschaften wie in anderen Berufen brauchte, sich also - w. o. gezeigt - einfache Tinten ohne großen Aufwand herstellen ließen, gibt im übrigen der Vermutung Plausibilität, daß es sich weitgehend um eine unspezialisierte Tätigkeit handelte. (Vgl. Monique Zerdoun Bat-Yehouda, Les Encres noires au moyen age (jusqu'à 1600), Paris 1983, 127.) Was aber nicht heißen muss, dass es nicht auch eine berufsspezialisierte Tintenherstellung gegeben hätte. Maya Shatzmiller verzeichnet zumindest in Labour in the Medieval Islamic World, Leiden 1994, 103, den ḥibrī bzw. ḥabārī (ink maker and/or seller) für den Irak, Ägypten und Syrien vom 8. bis 11. Jahrhundert Die Hindernisse bei der Tintenherstellung mögen eher in der Beschaffbarkeit der Ingredienzien und der Verfügbarkeit ausreichender finanzieller Ressourcen bestanden haben, so daß nicht jeder, der etwas schrieb, sich die Herstellung der z. B. teuren Rußtinten leisten konnte.

6. Welche große Bedeutung die Verschriftung des Wissens in der arabisch-islamischen Wissenskultur hatte, illustrieren zwei Prophetenüberlieferungen. Der ersten zufolge gelangen die schreibenden Gelehrten schließlich am Jüngsten Tag sogar in eine Vorrangposition gegenüber den Märtyrern, weil die verschriebene Tinte dann schwerer wöge als deren Blut (9). Der zweiten zufolge hat die nunmehr im Diesseits angesiedelte Hochschätzung der Gelehrten ihren Grund darin, daß die Tinte "das Parfüm im Kleid des Gelehrten" sei (9). Dieser hyperbolische Ausdruck könnte indessen auch eine euphemistische Beschreibung des Umstands sein, daß die Tinten aufgrund ihrer organischen Ausgangsstoffe zuerst einmal alles andere als wohlriechende Flüssigkeiten waren. Der Schluß liegt zumindest nahe, wenn man an die häufigen Hinweise des Verfassers auf die wohl eher kostspieligen Duftstoffe denkt, die den Tinten zugesetzt wurden. Es erscheint zweifelhaft, daß dies immer möglich, d. h. aufgrund des stets zu berücksichtigenden Kosten-Nutzen-Verhältnisses durchführbar war. Das Idiom hatte daher vermutlich eher eine entschuldigende Stoßrichtung: Demjenigen, der mit Tinte zu tun hat, soll der unangenehme Geruch nachgesehen werden, vor allem wenn es sich um einen Gelehrten im Dienste des im Islam für bewahrenswert erachteten Wissens handelte.

In den vorangegangenen kulturhistorischen Überlegungen zeigt sich bereits die Bedeutung der Tinte als Medium unter anderen bei der zeit- und gesellschaftsspezifischen Übermittlung von Wissen, d. h. bei der Arbeit am kulturellen Gedächtnis. So gesehen könnte man das Buch, das vor allem die materiellen Aspekte fokussiert, zum Ausgangspunkt einer mediologischen Untersuchung nehmen. Im Sinne von R égis Debray müßte diese dann den materiellen Pol des Mediums mit seinem sozialen Pol verbinden, denn "Auf der einen Seite haben wir organisierte Materie, auf der anderen materialisierte Organisationen", (Vgl. Einführung in die Mediologie, Bern 2003, Originaltitel: Introduction à la Médiologie, Paris 2000, 52).

Das überaus verdienstvolle Buch ist ein Muss für jeden, der mit den Manuskripten der islamischen Kultur befasst ist.


Anmerkung:

[1] Eine Darstellung dieser Art findet sich beispielsweise in Monique Zerdoun Bat-Yehouda, Les Encres Noires au Moyen Age (jusqu'à 1600), Paris 1983, 123-141. Hinweise auf weitere derartige Arbeiten gibt auch Gerhard Endress in seinem instruktiven Artikel über die materiellen Voraussetzungen der islamischen Manuskriptkultur im Allgemeinen: Kap. 9: Handschriftenkunde, und im Besonderen: 9.2.2: Die Tinte, in: Geschichte der Arabischen Philologie, Band I: Sprachwissenschaft, herausgegeben von Wolfdietrich Fischer, 271-296, 276f.

Otfried Weintritt