Rezension über:

Jochen Böhler: Auftakt zum Vernichtungskrieg. Die Wehrmacht in Polen 1939 (= Die Zeit des Nationalsozialismus), Frankfurt/Main: Fischer Taschenbuch Verlag 2006, 279 S., ISBN 978-3-596-16307-6, EUR 12,95
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Rezension von:
Peter Lieb
Sandhurst
Empfohlene Zitierweise:
Peter Lieb: Rezension von: Jochen Böhler: Auftakt zum Vernichtungskrieg. Die Wehrmacht in Polen 1939, Frankfurt/Main: Fischer Taschenbuch Verlag 2006, in: sehepunkte 6 (2006), Nr. 10 [15.10.2006], URL: https://www.sehepunkte.de
/2006/10/8940.html


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Jochen Böhler: Auftakt zum Vernichtungskrieg

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Jochen Böhler ist etwas gelungen, was nur ganz wenige Historiker schaffen: Bereits vor der Veröffentlichung fand sein Erstlingswerk erhebliche Beachtung - nicht nur in Fachkreisen. Durch eine von ihm konzipierte Wanderausstellung [1], Fernsehberichte und Zeitungsartikel erreichte er eine große Öffentlichkeit. So war es dann nur folgerichtig, wenn der Fischer-Verlag seine Dissertation gleich als Taschenbuch publizierte. Diese Wirkung ist in der Kernthese Böhlers begründet: Nicht erst das Unternehmen "Barbarossa" 1941 sei der große Bruch in der deutschen Kriegführung gewesen, sondern bereits der Polenfeldzug 1939 habe "alle wesentlichen Merkmale des Vernichtungskrieges" aufgewiesen (247). Nach all den Vorschusslorbeeren für den am Deutschen Historischen Institut in Warschau tätigen Historiker durfte man also gespannt auf sein Buch sein, das diese These wissenschaftlich untermauern soll. Nach der Lektüre bleibt aber - gelinde gesagt - ein sehr zwiespältiger Eindruck.

Positiv hervorzuheben ist Böhlers differenzierter Ansatz, mit dem er die Massenexekutionen von polnischen Zivilisten durch Wehrmachtseinheiten in den ersten Tagen und Wochen des Zweiten Weltkriegs zu erklären sucht. Anders als Alexander Rossino beschränkt sich Böhler nicht nur auf ideologische Beweggründe für diese Kriegsverbrechen. [2] Vielmehr sieht er in ihnen ein "Zusammenspiel motivativer, situativer und psychologischer Faktoren" (97), das eine ungehemmte Gewaltbereitschaft unter den Wehrmachtssoldaten begünstigt habe. Die im Kampf noch unerfahrene und häufig physisch erschöpfte Truppe wähnte sich bei Beschuss durch versprengte polnische Soldaten überall von zivilen "Franktireuren" umgeben. Dieser von Böhler so bezeichnete "Freischärlerwahn" [3] grassierte bei vielen deutschen Einheiten in den heißen Septembertagen des Jahres 1939. Mehrere Tausend Zivilisten - so Böhler - fielen den Kugeln deutscher Wehrmachtssoldaten bei anschließenden "Repressalien" zum Opfer, hunderte von Dörfern wurden niedergebrannt. Mit dieser Deutung lehnt sich Böhler eng an die Erkenntnisse von John Horne und Alan Kramer über Grausamkeiten an, die deutsche Truppen zu Beginn des Ersten Weltkriegs in Belgien und Nordfrankreich verübten. [4]

Allerdings wirft Böhlers Deutung des "Freischärlerwahns" auch einige Probleme auf. Ganz sicher gab es - und hier ist dem Autor zuzustimmen - 1939 keinen organisierten zivilen Widerstand. Doch handelte es sich bei den polnischen "Franktireuren" wirklich nur um ein Produkt der Einbildung, um eine Chimäre? Den fehlenden Nachkriegsmythos eines zivilen bewaffneten Widerstands im Spätsommer 1939 als stichfesten Beweis anzuführen, erscheint etwas gewagt (57 f.). Das Gleiche gilt für den Hinweis auf die niedrigen Verluste auf deutscher Seite (60-75), denn schließlich verfügen Zivilisten in der Regel über keine militärische Ausbildung.

Völlig außer Acht lässt Böhler die chaotischen polnischen Kriegsvorbereitungen in den letzten Augusttagen, als die Generalmobilmachung ausgerufen, kurz darauf widerrufen und anschließend erneut ausgerufen wurde. Das Resultat war, dass nicht mobilisierte Polen unorganisiert an die Front drängten, um sich am Kampf zu beteiligen. Zudem waren in den Wochen zuvor Zivilisten zum Bau der Verteidigungsstellung eingesetzt worden. [5] An diesem Punkt wäre eine eingehendere Untersuchung notwendig gewesen.

Auch wenn Böhler die deutschen und polnischen Überlieferungen miteinander vergleicht, so fällt doch auf, wie sorglos er mit der kommunistischen Nachkriegsliteratur umgeht - obwohl er in der Einleitung eingesteht, dass diese "stark ideologisch gefärbten" Berichte "nicht ungefiltert zur Erhellung der Abläufe vor Ort herangezogen werden" können (16).

Von den zeitgleichen polnischen Verbrechen, die einige tausend Opfer unter den "Volksdeutschen" forderten, ist bei Böhler so gut wie keine Rede. Dabei ist es offensichtlich, dass nicht nur die Wehrmacht, sondern auch die zutiefst anti-deutsch eingestellte polnische Armee überall eine "Fünfte Kolonne" witterte und selbst zu brutalen Überreaktionen neigte. Nach Böhler aber waren diese polnischen Verbrechen - nicht nur der propagandistisch aufgeladene Vorfall des "Bromberger Blutsonntags" - eine Reaktion auf den realen Widerstand von "Volksdeutschen" und von Agenten aus dem Reich (135-141). Eine solche Schwarz-Weiß-Deutung kann wenig zu einer wirklichen Klärung der sehr komplexen Vorgänge beitragen.

Wie wenig sich Böhler im Grunde in seine Thematik eingearbeitet hat, offenbaren schon die vielen Mängel in der militärischen Terminologie - "3. Bataillon der I. Kompanie" (102), "Kommandeur der 2. Kompanie" (140), "von der Wehrmacht verabschiedete [!]'verbrecherische Befehle'" (152), "verantwortlichen Offizier als einen Feldwebel [!] der Wehrmacht" (172, Fn 747), "2. Leutnant d.R." (196) - sowie einige Sachfehler, z. B. die Bezeichnung "Reichswehr" für die Kontingente des deutschen Heers 1914 (160) oder die Datierung der Haager Landkriegsordnung auf das Jahr 1906 (137).

In Kapitel 7 "Misshandlung und Tötung von Kriegsgefangenen" (169-180) und Kapitel 9 "Antisemitisch motivierte Ausschreitungen und Morde" (188-200) wird man Böhler den Vorwurf der Lesermanipulation nicht ersparen können. Beide Kapitel behandeln Verbrechenskomplexe, die später im Unternehmen "Barbarossa", einem wirklichen Vernichtungskrieg, eine zentrale Rolle spielten. Böhler kann nicht viel mehr als einige - zum größten Teil sogar noch ungesicherte - Einzelfälle liefern. Dennoch scheut er nicht davor zurück, daraus eine große These zu schmieden.

Hinzu kommen falsche Interpretationen und inhaltliche Fehler. So schreibt Böhler, dass "nur wenige hundert der im September 1939 in deutsche Gefangenschaft geratenen Mannschaftssoldaten jüdischen Glaubens" den Zweiten Weltkrieg überlebten (178). Hier hätte der Autor bekannte Standardwerke zur Rate ziehen sollen [6], aus denen zu erfahren ist: Diese Massenmorde geschahen nicht - wie Böhler suggeriert - unter der Verantwortlichkeit der Wehrmacht, sondern der Zivilverwaltung. Die polnischen Gefangenen jüdischen Glaubens waren bereits im Winter 1939/40 wieder nach Hause entlassen und dort in Gettos gesperrt worden. Bis heute fehlt jeder Nachweis, dass die Wehrmacht sich der Konsequenzen dieser Entlassungen bewusst gewesen wäre oder diese gar intendiert hätte. Hingegen blieben die polnischen Offiziere jüdischer Herkunft sowie jene jüdischen Soldaten, deren Abstammung im Herbst 1939 nicht festgestellt worden war, bis 1945 im Gewahrsam der Wehrmacht, ohne dass irgendetwas auf eine erhöhte Sterberate in dieser Gruppe hindeutet. Auch die übrigen polnischen Kriegsgefangenen wurden in der Regel karg, aber doch ausreichend versorgt. Es gab also weder "Aussonderungen" mit anschließender "Sonderbehandlung" jüdischer Kriegsgefangener oder gar ein Massensterben der polnischen Kriegsgefangenen, wie das bei den gefangenen Rotarmisten der Fall war. Schon allein in dieser Hinsicht unterschied sich das Verhalten der Wehrmacht im Jahr 1939 gewaltig vom Vorgehen im Jahr 1941.

Auch in der Abhandlung über die Ermordung jüdischer Zivilisten (194-197) stellt Böhler vorschnell Thesen auf. Insgesamt kann er in diesem kurzen Kapitel lediglich drei Fälle nennen, wobei in einem die Umstände unklar bleiben und die beiden anderen Fälle durch Akten der deutschen Kriegsgerichte (!) belegt sind. Mangels weiterer Beweise für seine "Vernichtungskriegs-These" führt der Autor dann aber vorsorglich an, es lasse sich kaum mehr sagen, "in welchem Umfang sich Wehrmachtssoldaten im September 1939 an antijüdischen Gewaltmaßnahmen beteiligten oder sie selbstständig durchführten" (194). Interessant wäre es gewesen, die vom Autor aufgeworfene Behauptung weiter zu verfolgen, Juden seien bevorzugt als Geiseln ausgewählt worden (194). Den Nachweis eines Befehls seitens der Wehrmacht kann der Autor aber nicht erbringen, obwohl einschlägige Akten deutscher Behörden doch reichlich vorhanden sind. Bezeichnenderweise muss Böhler schließlich eingestehen, dass "manche jüdische Überlebende" nach dem Krieg "von einem guten Verhältnis zu den militärischen Behörden" berichteten (191)!

Einige neue Einzelerkenntnisse kann der Autor zur Kooperation der Wehrmacht mit den "Einsatzgruppen" bieten (201-240), doch wird man hier weiterhin auf die viel ausgewogenere ältere Studie von Krausnick/Wilhelm [7] zurückgreifen müssen.

Sicherlich ist Böhler zuzustimmen, dass "der Vernichtungskrieg im Sommer 1941" nicht in einer "Art Urknall über Ost- und Südosteuropa hereinbrach" (11). In der Tat spielte das Verhalten der Wehrmacht in Polen 1939 eine wichtige Rolle für die Radikalisierung der Gewalt knapp zwei Jahre später. Allerdings ist es Böhler nicht gelungen, den Nachweis zu erbringen, die Wehrmacht habe schon 1939 in Polen einen Vernichtungskrieg geführt. Man fragt sich schon, warum diese Studie mittlerweile selbst von der Bundeszentrale für Politische Bildung gedruckt wurde. Eine flotte These scheint heute wichtiger als eine profund recherchierte und ausgewogene Arbeit.


Anmerkungen:

[1] Vgl. den Begleitband Jochen Böhler (Red.), "Größte Härte...". Verbrechen der Wehrmacht in Polen, September/Oktober 1939. Ausstellungskatalog, Osnabrück 2005.

[2] Vgl. Alexander B. Rossino, Hitler strikes Poland. Blitzkrieg, Ideology, and Atrocity, Kansas City 2003.

[3] Böhler ersetzt hier den bisher für dieses Phänomen gebrauchten Begriff "Freischärlerpsychose" mit dem sachlich richtigen "Freischärlerwahn".

[4] Vgl. John Horne / Alan Kramer, Deutsche Kriegsgreuel 1914. Die umstrittene Wahrheit, Hamburg 2004.

[5] Vgl. Józef Garliński, Poland in the Second World War, Basingstoke / London 1985, 12 f.

[6] Vgl. Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg, hrsg. v. Militärgeschichtlichen Forschungsamt, Band 9/2, Stuttgart 2005 (Beitrag Rüdiger Overmans).

[7] Vgl. Helmut Krausnick / Hans-Heinrich Wilhelm, Die Truppe des Weltanschauungskrieges. Die Einsatzgruppen der Sicherheitspolizei und des SD 1938-1942, Stuttgart 1981, v.a. 32-107.

Peter Lieb