Rezension über:

Elisabeth Vavra (Hg.): Virtuelle Räume. Raumwahrnehmung und Raumvorstellung im Mittelalter. Akten des 10. Symposiums des Mediävistenverbandes, Krems, 24.-26. März 2003, Berlin: Akademie Verlag 2005, X + 386 S., 72 Abb., ISBN 978-3-05-004129-2, EUR 59,80
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Rezension von:
Matthias Hardt
Geisteswissenschaftliches Zentrum Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas (GWZO) an der Universität Leipzig
Redaktionelle Betreuung:
Jürgen Dendorfer
Empfohlene Zitierweise:
Matthias Hardt: Rezension von: Elisabeth Vavra (Hg.): Virtuelle Räume. Raumwahrnehmung und Raumvorstellung im Mittelalter. Akten des 10. Symposiums des Mediävistenverbandes, Krems, 24.-26. März 2003, Berlin: Akademie Verlag 2005, in: sehepunkte 6 (2006), Nr. 10 [15.10.2006], URL: https://www.sehepunkte.de
/2006/10/8335.html


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Elisabeth Vavra (Hg.): Virtuelle Räume

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Der Band enthält die Beiträge, die im März 2003 im Institut für Realienkunde des Mittelalters und der Frühen Neuzeit der Österreichischen Akademie der Wissenschaften in Krems an der Donau während des 10. Symposiums des Mediävistenverbandes präsentiert wurden. [1] Thema war der "Raum", allerdings unter Ausklammerung des "geographische[n], mathematische[n] und physikalische[n] Raum[es] (Vorwort, IX). Übrig blieb der virtuelle Raum, ein Konstrukt, über dessen Definition, Inhalt und Vorstellung nur wenige der 21 Aufsätze Aufschluss geben konnten. So versuchten alle beteiligten Vertreterinnen und Vertreter der verschiedensten mediävistischen Fachrichtungen auf ihre Weise, sich einen Reim auf die Themenstellung zu machen, mit jeweils unterschiedlichem Erfolg.

Am ausführlichsten setzte sich Ralf Schlechtweg-Jahn ("Virtueller Raum und höfische Literatur am Beispiel des Tristan", 69-85) mit den Möglichkeiten einer Umschreibung dessen auseinander, was "virtuellen Raum" ausmachen soll. Aus dem Bereich der Computertechnologien übernommen, versteht man "unter virtueller Wirklichkeit [...] alle Projekte, die darauf abzielen, den Teilnehmer davon zu überzeugen, dass er sich an einem anderen Ort als dem befindet, an dem er sich tatsächlich befindet". "Der Körper wird also gleichsam digital verdoppelt, um dann in Kommunikation mit anderen, auf gleiche Weise verdoppelten Körpern einen virtuellen Raum zu schaffen" (71). Allerdings ist dieser nicht fiktional, "denn im virtuellen Raum agieren die kommunizierenden, virtualisierten Körper in Echtzeit und unmittelbar miteinander und nicht zeitverschoben und vermittelt über Erzähler und Figuren wie im fiktionalen Text" (72). Der virtuelle Raum ist "als ein Drittes zwischen fiktionalem und realem Interaktions- und Kommunikationsraum einzuordnen", er ist "ein Raumkonstrukt neben anderen" (73). Dementsprechend machten sich die Autorinnen und Autoren des Bandes auf verschiedenartigste Weise auf die Suche nach einem "Handlungsraum, der nur durch die Interaktion von Menschen entsteht, nur für die Dauer dieser Interaktion existiert, und während der Interaktion aufgrund einer virtuellen Verdoppelung von Identität eine gewisse Distanz zu Identitätsbildungen außerhalb dieses Raumes ermöglicht bzw. erfordert" (73). Schlechtweg-Jahn wird im Bereich der hochmittelalterlichen Höfe fündig, die er in der Zeit um 1200 in einer "Übergangssituation aus vor allem virtueller Existenz zu institutioneller Verfestigung" (85) sieht und an denen er der höfischen Literatur eine bedeutende Rolle bei der Konstruktion eines dortigen virtuellen Raumes beimisst, in dem durch Turniere, Spiele und Musik ein Miteinander hergestellt wurde, das außerhalb dieses Raumes kaum möglich gewesen sei.

Für Christina Lechtermann ("Körper-Räume. Die Choreographie höfischer Körper als Mittel der Raumgestaltung", 173-188) öffnet das Reden über virtuelle Räume "den Blick auf Fragen nach dem Bezug von Raum und Körper oder nach akustischer, haptischer oder olfaktorischer Raumwahrnehmung" (173); sie zeigt an verschiedenen Beispielen höfischer Literatur, wie "die hierarchische Struktur einer Hofgesellschaft auch räumlich immer wieder neu manifestiert und praktiziert" wurde (178). Ebenfalls mit Bezug auf den "Tristan" fragt Sebastian Baier ("Heimliche Bettgeschichten. Intime Räume in Gottfrieds Tristan", 189-202) nach dem "Verhältnis von Raum und intimer Interaktion" (190). Im "Tristan" sind Kemenate und "bukolische Naturorte" (193) Räumlichkeiten der Intimität, die durch ihren geheimen Charakter eine sonst nicht bestehende Kommunikationschance eröffnet. Den "Raum der Aventiure" als dem statischen Frauenraum Kemenate entgegengesetzt beobachtet Karina Kellermann ("Der Blick aus dem Fenster. Visuelle Aventiuren in den Außenraum", 325-341) und will unter anderem am Beispiel der 7. Aventiure des Nibelungenliedes (Brünhilt auf Isenstein) verdeutlichen, dass "der Blick aus dem Fenster der weibliche Modus der Aventiurefahrt" gewesen sein könne (341).

Auch in kunstgeschichtlichen Überlegungen werden Konzepte virtueller Räume deutlich. So ist zwar "jeder gemalte, gezeichnete oder im Relief wiedergegebene Raum" als virtuell denkbar, Katja Kwastek zeigt jedoch an Beispielen der italienischen Frührenaissance ("Raum im Bild - Traum im Raum. Gemalte Räume und gemalte Träume in der italienischen Malerei des Tre- und Quattrocento", 149-172) eine Technik des Bildes, "das gleichzeitig materiellen Raum darstellt und sich in diesem befindet, gleichzeitig Handlungsbezüge visualisiert und in solche einbezogen ist und zwischen verschiedensten inner- und außerbildlichen Realitätsebenen vermittelt" (151). Alfons Zettler ("Der Himmel auf Erden ... Raumkonzepte des St. Galler Klosterplans", 35-46) macht deutlich, dass der karolingerzeitliche Idealplan eines Benediktinerklosters nicht als Ganzes konzipiert wurde, sondern nach und nach von innen nach außen wuchs und dass sich dabei auch das zunächst "stark an der realen monastischen Lebenswelt orientiert[e]" Raumkonzept hin zu einer "theologisch-spekulative[n], virtuellen, jenseitigen" Paradiesdarstellung änderte (44). Sakrale Architektur als Medium verschiedenster Inhalte an reale und virtuelle Empfänger skizziert auch Michael Viktor Schwarz am Beispiel der böhmischen Metropolitankirche ("Kathedralen verstehen. St. Veit in Prag als räumlich organisiertes Medienensemble", 47-68).

Die "soziale Produktion von Raum" "durch menschliches Handeln, Wahrnehmen, Denken oder Sprechen" (216) offenbart sich besonders im Rahmen der spätmittelalterlichen Herrscheradventus. Gerrit Jasper Schenk ("Heiltümer und geraubte Himmel. Virtuelle Räume bei spätmittelalterlichen Herrschereinzügen im Reich", 216-237) verdeutlicht, dass diese Inszenierungen den Einzug Christi in Jerusalem imitieren und die Baldachine, unter denen sich die Könige und Kaiser bewegten, dieses zum himmlischen Jerusalem überhöhen sollten (224). Antje Fehrmann ("Quasi castrum pulcherimum: Englische spätmittelalterliche Festarchitektur im Spiegel ihrer zeitgenössischen Inszenierung und Beschreibung", 281-304) beschreibt am Beispiel von Herrschereinzügen des 14. und 15. Jahrhunderts in London die dabei unter Verwendung von hölzernen Gerüsten und bemalter Leinwand aufgebaute, häufig Burgen symbolisierende Scheinarchitektur und sieht darin "Teile einer neuartigen und höchst geschickten Inszenierung und Selbstdarstellung des Königs" (303). Im beeindruckendsten aller in diesem Band vereinigten Beiträge schildert Christina Lutter ("Klausur zwischen realen und spirituellen Entwürfen. Handlungsspielräume und Identifikationsmodelle der Admonter Nonnen im 12. Jahrhundert", 305-323) auf der Grundlage eines Berichtes des Abtes Irimbert über einen Brand des Klosters Admont im Jahr 1152 die gemeinsame Kommunikation von Mönchen und Nonnen des Doppelklosters unter Berücksichtigung der Vorgaben der vita apostolica. Die Klausur der Nonnen war dabei einerseits "realer Raum", der sich aber gleichzeitig mit anderen sozialen Räumen überschnitt, die durch überwiegend schriftliche Kommunikation innerhalb adeliger Netzwerke, Klosterfiliationen und Gebetsverbrüderungen geschaffen wurden.

Virtuelle Räume schließlich konnten auch durch moderne Historiografie geschaffen werden. Michael Jucker stellt am Beispiel der Schweizer Eidgenossenschaft dar, dass vor allem durch Editionsprojekte "eine Diskrepanz zwischen imaginierten und historisch feststellbaren Räumen" (13) als Rückprojektion moderner Staatlichkeit entstehen konnte, die schließlich der Konstruktion einer nationalen Identität Vorschub geleistet habe (Michael Jucker, "Kommunikation schafft Räume: die spätmittelalterliche Eidgenossenschaft als imaginärer und realer Ort", 13-34).

Die notwendigerweise unvollständige Vorstellung einzelner Beiträge dieses Sammelbandes zeigt dessen heterogenen Charakter, der noch verstärkt wird durch die unsystematische inhaltliche Abfolge der Aufsätze, die weder nachvollziehbar nach Disziplinen, in chronologischem Sinne oder etwa nach geografischen Kriterien vorgenommen worden ist. Da auf ein Register verzichtet wurde, fehlt eine weitere Möglichkeit, die Menge der in diesen "Akten" verschütteten Informationen zu erschließen. "Virtuelle Räume" scheinen im Mittelalter in vielfältiger Weise erdacht worden sein; ob sie aber nicht letztendlich doch eine postmoderne Erfindung sind, bleibt auch nach dem 10. Symposion des Mediävistenverbandes offen.


Anmerkung:

[1] S. hierzu auch die kunstgeschichtliche Rezension von Tina Klippel, in: sehepunkte 6 (2006), Nr. 4 [15.04.2006], URL: http://www.sehepunkte.de/2006/04/10421.html.

Matthias Hardt