Rezension über:

Alexander Demandt: Über allen Wipfeln. Der Baum in der Kulturgeschichte, Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2002, 366 S., ISBN 978-3-412-13501-0, EUR 25,50
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Rezension von:
Martin Knoll
Universität Regensburg
Redaktionelle Betreuung:
Nils Freytag
Empfohlene Zitierweise:
Martin Knoll: Rezension von: Alexander Demandt: Über allen Wipfeln. Der Baum in der Kulturgeschichte, Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2002, in: sehepunkte 3 (2003), Nr. 9 [15.09.2003], URL: https://www.sehepunkte.de
/2003/09/2035.html


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Alexander Demandt: Über allen Wipfeln

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Noch in den Siebzigerjahren des 20. Jahrhunderts erzwang ein heiliger Baum beim Schrein der Göttin Vajresvari unweit der nepalesischen Hauptstadt Kathmandu - angeblich wundertätig - Änderungen an der Trassierung einer Umgehungsstraße. [1] Bäume säumen nicht nur die Wege und Straßen des Menschen, sie begleiten die Kulturgeschichte im religiösen Kult, in Philosophie, Literatur und bildender Kunst, im Aberglauben, in der Alltags- und Volkskultur und nicht zuletzt im Kontext regionaler und nationaler Identitäten und Erinnerungskulturen. Der Berliner Althistoriker Alexander Demandt ist angetreten, "die Haltung der Früheren zu den Bäumen, deren stets wechselnde und doch immer vorhandene Rolle im Bewusstsein, in der Phantasie [...]" (X) zu studieren. Ihm geht es "um die Bäume in den Köpfen".

In einem einführenden Kapitel "Bäume und Menschen" umreißt der Autor die facettenreiche Affinität zwischen Mensch und Baum auf einer allgemeinen Ebene. "Jede Zeit, jeder Glaube, jedes Volk", so der Schluss, habe "eine eigene Dendrosophie - entsprechend dem kulturell unterschiedlichen Verhältnis zur Natur insgesamt" entwickelt (17).

Einen weiten Bogen beschreibend, durchstreift Demandt Erzählstoffe der antiken Mythologie, der Bibel, der antiken, mittelalterlichen und neuzeitlichen Literaturgeschichte. Die atemberaubend breite Auswahl seiner Beispiele und Zitate stützt sich auf ein ebenso breites Repertoire an Quellen: vom antiken Geschichtswerk über das Opernlibretto und das Kartenspielblatt bis hin zur mündlichen Überlieferung eines Teppichhändlers auf dem Basar von Bagdad (59). Die Grenzen des im Buchtitel postulierten universalistischen Ansatzes liegen in einer merklichen Schwerpunktsetzung auf der europäisch-westlichen Welt und ihren kulturellen Wurzeln (griechisches und römisches Altertum, Judentum, Christentum).

Das dendrokulturelle Panoptikum Demandts beginnt mit der biblischen Unsicherheit über die Art und Frucht des paradiesischen "Baumes der Erkenntnis" (20f., Kapitel 2: "Juden und frühe Christen") und mündet in die Darstellung des Baumschutzes in der Naturschutzgeschichte seit dem 19. Jahrhundert sowie in Gedanken zur Schizophrenie urbaner Baumpflege der Gegenwart (277-280, Kapitel 9 "Von der Präromantik zur Postmoderne"). Kapitel 3 ("Der Orient") widmet sich dem nahen, mittleren und fernen Osten: Persien, Ägypten, islamische Welt, Indien, China und Japan. Kapitel 4 betrachtet den Baum in der griechischen, Kapitel 5 in der römischen Antike. Das sechste Kapitel skizziert die Rolle der Bäume für Kelten, Germanen und Slawen. Das siebte Kapitel handelt das christliche Mittelalter, das achte die Frühe Neuzeit ab. Das abschließende zehnte Kapitel ("Zeiten und Bäume") resümiert die Darstellung.

Viele interessante Aspekte werden beleuchtet, etwa die signifikanten regionalen Abstufungen im Dendroklasmus der christlichen Missionierung Europas (166-173) oder die selektiv-krude und tendenziell ins rechte Gedankengut weisende, dendrophile Traditionspflege in der Gegenwartsesoterik (147-149). Besonders instruktiv ist der immer wieder unterstrichene Befund einer herausragenden Dignität der Eiche in beinahe allen abendländischen Kulturen. Vor diesem Hintergrund macht gerade die symbolische Inbesitznahme dieses Baumes durch die deutsche Nationalbewegung des späten 18. und 19. Jahrhunderts deren hegemonialen Anspruch plausibel, wurde doch hier ein Baum zur "deutschen Eiche", der auch bei allen umgebenden Nachbarvölkern besondere Wertschätzung genoss (267). Zu den geglücktesten Passagen der Darstellung gehört die kurze Skizze der "Nazifizierung" des deutschen Waldes, die "mit Rückenwind aus der Romantik im Kielwasser der völkisch Bewegten" erfolgt sei (268). Demandt resümiert seinen kulturgeschichtlichen Überblick mit der Feststellung, dass sich bei allem Wechsel der Funktionen des Baumes in unterschiedlichen Epochen und für unterschiedliche Völker eine relativ gleichartige Dendrophilie als "anthropologische Konstante mit vergleichsweise schwacher Amplitude in kulturspezifischen Abweichungen" erkennen lasse (288).

Essayistisch-versiert und mit plaudernder Leichtigkeit steckt Demandt den kulturgeschichtlichen Pfad ab, den zu wandern er den Leser einlädt (18). Als Autor, forschendes und schreibendes Subjekt, tritt Demandt dabei sehr deutlich in Erscheinung. Immer wieder begegnen persönliche, durch die erste Person Singular markierte Bemerkungen. Gerade hier liegt freilich der Grund für einige Irritation des Lesers. Welche thematische Relevanz besitzt etwa des Autors Wertung, es sei "unritterlich", einen alten Baum mit Eisenwerkzeug, vor allem mit der Kettensäge, zu fällen (10)? Was soll die Anspielung auf das Schicksal der Maulbeerbäume Usama bin Ladins im Zuge der Bombardierung Kandahars im Herbst 2001 (59)? Was will der Hinweis auf die über Demandts eigener Haustüre angebrachte, zum Gedenken an die Opfer der Mauer geflochtene Dornenkrone aus Stacheldraht der DDR-Grenzanlagen (177) ausdrücken? Und schließlich - bei aller Berechtigung ökologisch motivierter Sorge - trägt, am Ende des Bandes, die Vision Demandts von Buchen beschatteter Autobahnen, deren Teerschicht der Löwenzahn sprengt, nachdem der Mensch längst vom Planeten verschwunden ist (312), doch topische Züge konservativer Zivilisationskritik.

Essayistische "Kür" statt akademische "Pflicht" prägt auch die Gliederung, das Belegsystem, die grafische Gestaltung und die Ausstattung des ästhetisch anspruchsvollen Bandes. Auf das Korsett eines Fuß- oder Endnotenapparats wird verzichtet, Belege erfolgen in Kurztiteln im Fließtext. Nicht immer führt dies zu ausreichender Transparenz. Woher etwa nimmt Demandt die von ihm angegriffene Herleitung des Wortes "Baum" aus dem Verb "biegen", die man im "Kluge" nicht findet (5)? An anderer Stelle erörtert er das Motiv des "Dürren Baums" in der mittelalterlichen Apokalyptik. Er stellt das Titelbild einer nicht näher benannten, an Kaiser Maximilian I. gerichteten Schrift des oberrheinischen Juristen und humanistischen Schriftstellers Sebastian Brant aus dem Jahre 1495 vor (183). Weder ein Beleg noch das Literaturverzeichnis weisen diese Schrift (wohl: "De origine et conversatione bonorum Regum et laude civitatis Hierosolymae [...]"), die von Demandt verwendete grafische Vorlage oder etwaige Editionen von Text und Illustration aus. Der Baumgarten zu Rhense als Ort der deutschen Königswahl im Jahre 1308 und späterer Jahre wird mit einem Zitat aus "Benker, S. 58" belegt (188). Handelt es sich um Sigmund Benkers Ausstellungskatalog "Paradies und Garten" (1984)? Das Literaturverzeichnis verrät es uns nicht.

Demandts Studie ergänzt eine Reihe jüngerer Arbeiten, die sich jenseits einer rein materiellen Ebene mit der Schnittstelle zwischen menschlichen Kulturen und ihrer natürlichen Umwelt beschäftigen. [2] Der von ihm gestellte Beitrag hätte an Ertrag noch gewinnen können, wenn weniger narrative Breite und mehr methodische Diskussion sowie analytische Arbeit an den Beispielen (zum Beispiel hinsichtlich der Quellenkritik oder der kulturgeschichtlichen Differenzierung des Verhältnisses von Hoch- und Volkskultur) erfolgt wäre. Mit "Über allen Wipfeln" liegt eine Monografie vor, die über zwei zentrale Qualitäten verfügt: Sie ist einerseits anregendes kulturhistorisches Lesebuch, andererseits stellt sie über ihr hervorragendes Register ein pralles Repertorium zur Kulturgeschichte des Baumes dar. Dass der US-Präsident am Weißen Haus alle Jahre wieder nicht irgendeinen Christbaum entzündet (252), sondern den dort längst verwurzelten "National Christmas Tree", wäre in einer zweiten Auflage zu ergänzen. Und die Feststellung, dass der süddeutsche Kirmesbaum wohl der Vergangenheit angehöre (7), muss auf den entschiedenen Protest des bayerischen Rezensenten stoßen, aus dessen dörflichem Küchenfenster man ein stattliches Exemplar des "Kiartabaams" bewundern kann.

Anmerkungen:

[1] Axel Michaels: Sakralisierung als Naturschutz? Heilige Bäume und Wälder in Nepal, in: Rolf Peter Sieferle / Helga Breuninger (Hg.): Natur-Bilder. Wahrnehmungen von Natur und Umwelt in der Geschichte, Frankfurt am Main 1999, 117-136, hier: 122f.

[2] Vergleiche etwa den in Anmerkung 1 zitierten Sammelband oder Peter Gerlitz: Mensch und Natur in den Weltreligionen. Grundlagen einer Religionsökologie, Darmstadt 1998; Aloys P. Hüttermann / Aloys H. Hüttermann: Am Anfang war die Ökologie. Naturverhältnis im Alten Testament, München 2002; Peter Dinzelbacher (Hg.): Mensch und Tier in der Geschichte Europas, Stuttgart 2000.

Martin Knoll