Rezension über:

Gabriele Dürbeck / Bettina Gockel / Susanne B. Keller (Hgg.): Wahrnehmung der Natur - Natur der Wahrnehmung. Studien zur Geschichte visueller Kultur um 1800, Dresden: Verlag der Kunst 2001, 319 S., 62 Abb., ISBN 978-90-5705-167-8, EUR 29,80
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Rezension von:
Uta Kornmeier
Lutherhalle, Lutherstadt Wittenberg
Redaktionelle Betreuung:
Hubertus Kohle
Empfohlene Zitierweise:
Uta Kornmeier: Rezension von: Gabriele Dürbeck / Bettina Gockel / Susanne B. Keller (Hgg.): Wahrnehmung der Natur - Natur der Wahrnehmung. Studien zur Geschichte visueller Kultur um 1800, Dresden: Verlag der Kunst 2001, in: sehepunkte 2 (2002), Nr. 12 [15.12.2002], URL: https://www.sehepunkte.de
/2002/12/3509.html


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Gabriele Dürbeck / Bettina Gockel / Susanne B. Keller (Hgg.): Wahrnehmung der Natur - Natur der Wahrnehmung

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"Jedermann will ein Naturalienkabinet", beobachtete der Theologe Johann Samuel Schröter 1776. Tatsächlich fand die Wahrnehmung von Natur im 18. Jahrhundert zu großen Teilen in solchen Sammlungsräumen statt, wo Dinge der Naturgeschichte in Schränken und Regalen aufbewahrt wurden. Doch unterschied sich eine Sammlung am Anfang dieses "Kabinetseculums" von ihrer Schwester an dessen Ende sehr, wie Anke Te Heesen im ersten und zugleich dichtesten Beitrag des Sammelbandes zum Verhältnis von Wahrnehmung und Natur nachweist: Besuchte man zum Beispiel 1725 das Naturalienkabinett des Arztes und Naturforschers Johann Christian Kundmann, so konnte man Stücke sehen wie ein Hahnenei, "welches kaum die Größe einer Muskatnuß und in sich einen Klapperstein hat" (Kundmann). Das 1795 veröffentlichte Mineralienkabinett des Berghauptmanns Friedrich Wilhelm von Trebra dagegen wartete mit Hunderten von Gesteinsbrocken und Mineralproben auf, die alle zusammen eine differenzierte klassifikatorische Ordnung des Erdinneren wiedergaben. Kundmanns Größenvergleich mit der Muskatnuss - er benutzt nicht etwa eine nachprüfbare Maßeinheit - zeigt den "barocken" Charakter seiner Sammlung: Es ging ihm um die Einzigartigkeit des Stückes (Kleinheit), das durch seine Ungewöhnlichkeit (Klapperstein) nicht in ein System passt. Trebra, beeinflusst von der Aufklärung, suchte aber gerade die Einordnung eines jeden Spezimens in die Systematik des Sammlungsgebietes.

Konkreten Ausdruck dieses gewandelten Verständnisses von Sammlungen findet man in der Möblierung. Te Heesen beschreibt einleuchtend die Kabinettschränke des 18. Jahrhunderts als "Werkzeuge der Wissensgewinnung": Der "Sammlungsschrank war nicht nur schützendes Behältnis fragiler Objekte, als materiale Grundlage eines Kabinetts war er zugleich auch Instrument der visuellen und haptischen Aneignung der Natur" (19-20). So führen die unterschiedlichen Schrankentwürfe die Wandlung des geschlossenen-universellen Kabinetts am Anfang zu einem transparenten, auf vornehmlich visuelle Erfassung abzielenden Kabinett am Ende des 18. Jahrhunderts vor: Folgte man bei der Einrichtung einer Sammlung der Anweisung des Architekten Leonhard Christoph Sturm von 1707, so brauchte man eine Art Maschinen-Möbel, das in viele verschiedene Fächer und Schübe aufgeteilt war. Die Sammlung war darin vollständig verborgen und verwahrt. Nur der Besitzer oder der Sammlungsaufseher, der mit der Mechanik des Schrankes und mit den darin verborgenen Schätzen vertraut war, konnte die Dinge zum Vorschein holen. "Der Sehvorgang war hierbei an das Entbergen des Objektes gekoppelt. Die Stücke wurden einzeln hervorgeholt, individuell betrachtet, erklärt und mit Anekdoten angereichert." (28-29) Es herrschte ein "Ritual des Herausnehmens und Weitergebens", bei dem ein Zeremonienmeister die soziale Hierarchie des Wissens garantierte.

Anders dagegen die Möblierung von Trebras Mineralienkabinett. Sein Sammlungsschrank war in drei Zonen geteilt: das Dach, auf dem große Gesteinsbrocken abgestellt werden konnten, ein Mittelteil, wo hinter verglasten Türen die Gesteinsproben auf Schüben lagen, und ein Sockel mit Schubladen, in denen Dubletten und Ergänzungsstücke aufbewahrt wurden. Schon im "Vorbeyspazieren" könne man die Sammlung besehen und sich darüber unterhalten, ohne die Türen öffnen zu müssen, rühmte der Sammler. "Nicht das Öffnen und Schließen stand also im Vordergrund, als vielmehr eine lehrhafte Unterhaltung frei von begleitendem Auspacken und Präsentieren der Objekte." (Heesen, 32) Bei Bedarf konnte man die Schübe aber leicht aus dem Schrank herausziehen und sich einen Überblick über bestimmte Aspekte der Ordnung der Natur verschaffen. In einem solchen Sammlungsschrank war die Natur ein "funktionierendes, geordnetes Gefüge, in dem jeder Stein und jede Pflanze ihren Platz besaßen" (34). Hier konnte sie nach dem Ideal der Aufklärer als beste Erzieherin des Menschen wirken, weil sie - so glaubte man - "selbst" zum Betrachter sprach.

Tatsächlich ist aber nicht nur die Wiedergabe, sondern bereits die Wahrnehmung der Außenwelt ein Konstrukt. Sehen ist immer körperlicher Vorgang und mentale Aktivität zugleich, wie Jutta Schickore in der Einleitung beschreibt (7). Diese mentale Aktivität, die dem körperlichen Eindruck einen Sinn verleiht - "bei jedem aufmerksamen Blick in die Welt theoretisieren" wir, schrieb Goethe in seiner Farbenlehre 1810 - wandelte sich gerade in dem langen Zeitraum "um 1800". Gleichzeitig begann man auch, die Aufnahme von Sinneseindrücken als anfällig für Störungen und Fehlinterpretationen zu begreifen und sich für die "Bedingtheit der Beobachtung durch die Eigenaktivität des Sehorgans" zu interessieren (Schickore über Mikroanatomie, 171).

Die Beschäftigung mit dieser Eigenaktivität wirkte sich auch auf die Einrichtung von Museen aus. Ausgehend von der Frage, warum "ein Zeitalter die Ausstellungswände lückenlos mit Bildern zu pflastern bevorzugt, ein anderes dagegen eine einzeilige Hängung mit großen Abständen zwischen den einzelnen Ausstellungsgegenständen" (180), weist Charlotte Klonk diesen Zusammenhang für die Londoner National Gallery nach. Gegen Ende des 18. Jahrhunderts wurde in Kunstgalerien die flächendeckende dekorative Hängung, die sich an Symmetrien und zentralen Prunkstücken orientierte, in eine kunstwissenschaftliche nach Schulen und Künstlern verändert: Der "ältere Bezugsrahmen [wurde] durch einen neuen ersetzt, der sich nicht auf den Herrscher [und zugleich Sammler, U.K.], sondern nun auf die Kunst an sich bezog" (183). Beispiele sind die Habsburger Gemäldegalerie in Wien (1781) oder die Sammlung des Marquis von Stafford im Cleveland House, London (1806). Gleichzeitig begann man, die Einzigartigkeit der Gemälde mehr zu schätzen, sie weit lockerer über die Wände zu verteilen und ihnen mehr Freiraum um die Rahmen zu lassen.

Als die National Gallery 1824 durch den Staatsankauf einer Privatsammlung gegründet wurde, waren auch hier die Wände noch dicht mit Meisterwerken behängt. Erst mit der Errichtung des Neubaus am Trafalgar Square (1838 eröffnet) setzte eine Diskussion um die beste Präsentation der Bilder ein. Seit 1843 forderte der Leiter der National Gallery, der Maler Charles Eastlake, eine Neuhängung für den Neubau, welche die individuelle Wirkung der Bilder stärker zum Ausdruck bringen sollte. Eastlake hatte sich intensiv mit der Physiognomie des Auges beschäftigt, denn er hatte 1840 Goethes Farbenlehre ins Englische übersetzt und mit den neuesten Forschungsergebnissen kommentiert. Daher wusste er, dass der sinnliche Eindruck der Dinge nicht nur durch deren direkte Erscheinung bestimmt war, sondern dass das Auge auch ihre farbliche Umgebung in den Sehvorgang mit einbezieht. Besonders wichtig war für den Museumsdirektor, dass Komplementärkontraste Farben brillanter erscheinen lassen konnten, sodass der Farbe der Galeriewände bei einer angestrebten einreihigen Hängung große Bedeutung zukommen musste.

Waren diese Wände bisher überwiegend von einer als neutral empfundenen graugrünen Farbe, wählte Eastlake für die Neuhängung der National Gallery, die er erst 1855 durchsetzen konnte, ein Farbschema aus verschiedenen Braun-, Rot-, Grün- und sogar Gelbtönen (letzterer wurde jedoch nicht verwendet). Er war der Ansicht, dass "ein Gemälde besonders vorteilhaft [vor einem Hintergrund] zur Geltung kommt, [...] der heller als seine dunklen Töne und dunkler als seine hellen Töne" ist. Wurde Gelb im Einklang mit Goethes Farbtheorie als ein heller Farbwert angesehen und Blau als ein dunkler, war gerade das Rot eine ideale Hintergrundfarbe von mittlerem Helligkeitswert. Außerdem glaubte man, durch einen rötlichen Hintergrund auch die braune Altersverfärbung der Firnisse neutralisieren zu können. Während aber Eastlakes Farbschema dem Charakter der einzelnen Schulen entsprechend noch differenziert werden sollte, setzte sich vor allem der kastanienrote Farbton als Galerieton des 19. Jahrhunderts durch. Im Angesicht von Eastlakes feinsinnigem Ausstattungskonzept bezeichnet Klonk die "Rekonstruktionsversuche" der letzten zwanzig Jahre, in denen Museumsräume mit roten Tapeten, mehrreihiger Bilderhängung, historischen Möbeln und Topfpflanzen in ihre Gründungszeit zurückversetzt werden sollten, als "Ironie der Geschichte" (197).

Der Sammelband besteht aus fast zwanzig angenehm konzisen Aufsätzen, die als Vorträge einer Tagung am Hallenser Interdisziplinären Zentrum für die Erforschung der Europäischen Aufklärung im Juni 1998 entstanden sind. Die Autorinnen und Autoren stellen Persönlichkeiten des 18. und 19. Jahrhunderts vor, die in ihren Betätigungen als Naturforscher, Künstler, Sammler, Systematiker und Erfinder wohl höchstens speziellen Fachrichtungen bekannt sind. Ihnen gemeinsam ist, dass sie bei ihrer Beschäftigung mit der menschlichen Außen- und Innenwelt Bilder im weitesten Sinne (Illustrationen, Modelle, Versuchsanordnungen) geschaffen haben, bei denen sich wissenschaftliches Erkenntnisinteresse bewusst oder unbewusst mit künstlerischen Gestaltungsweisen mischt. Solche "non-art images" und "technischen Bilder" sind heute aber nicht nur Teil der Wissenschafts-, sondern auch der Kunstgeschichte.

Das Kaleidoskopartige des Inhalts soll offenbar auch durch das Cover des Buches vermittelt werden, das einige zu einer Kugel zusammengesetzte Abbildungen des Bandes zeigt. Diese Gestaltung, die auf irgendeinem Desktop entstanden zu sein scheint, und die bemerkenswert nichtssagende Hintergrundfarbe sind leider ziemlich unattraktiv. Sollte damit das Unprätentiöse der veröffentlichten Forschungen zum Ausdruck gebracht werden, drohen sie eher Unprofessionalität an, was aber ganz und gar nicht zutrifft. So wird der Einband dem Inhalt einerseits nicht gerecht, mahnt aber andererseits im Einklang mit dem Thema eine genaue Wahrnehmung des vorliegenden Gegenstandes an und warnt: "Don't judge a book by its cover."


Uta Kornmeier