Rezension über:

Heribert Schwan / Rolf Steininger (Hgg.): Mit den Augen der Anderen. Die Ära Helmut Kohl in Interviews, Innsbruck: StudienVerlag 2022, 379 S., ISBN 978-3-7065-6267-6, EUR 36,90
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Rezension von:
Victor Jaeschke
Universität Potsdam
Redaktionelle Betreuung:
Empfohlene Zitierweise:
Victor Jaeschke: Rezension von: Heribert Schwan / Rolf Steininger (Hgg.): Mit den Augen der Anderen. Die Ära Helmut Kohl in Interviews, Innsbruck: StudienVerlag 2022, in: sehepunkte 23 (2023), Nr. 1 [15.01.2023], URL: https://www.sehepunkte.de
/2023/01/37374.html


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Heribert Schwan / Rolf Steininger (Hgg.): Mit den Augen der Anderen

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Die "Ära Helmut Kohl" bildet mittlerweile einen Schwerpunkt der deutschen Zeitgeschichtsforschung. Einen Großteil der Aufmerksamkeit hat dabei die Epochenwende der Jahre 1989/90 erfahren, die auch in der hier zu besprechenden Sammlung von Zeitzeugeninterviews im Mittelpunkt steht. Die Interviews wurden in den Jahren 2007 und 2008 im Rahmen einer mehrteiligen ARD-Dokumentation anlässlich des 60. Geburtstags der Bundesrepublik Deutschland vornehmlich mit in- und ausländischen Politikern geführt. Die Herausgeber, der Journalist und Ghostwriter der Kohl-Memoiren Heribert Schwan, sowie der Historiker Rolf Steininger, betonen in der Vorbemerkung die "ganz besondere [...] Qualität und Aussagekraft" der Interviews, da es sich in vielen Fällen um "letzte Vermächtnisse" (7) mittlerweile verstorbener Zeitzeugen handele.

Um es gleich vorwegzunehmen: "Mit den Augen der Anderen" ist keine kritische Edition, die strengen wissenschaftlichen Kriterien entspricht. Die Einleitung umfasst lediglich drei Seiten und kommt gänzlich ohne Fußnoten aus, es gibt kein Personen- oder Sachregister, und auch auf eine editorische Kommentierung der Quellen wurde verzichtet. Dennoch lohnt sich die Lektüre der insgesamt 36, alphabetisch sortierten Interviews, da sie auf relativ engem Raum ein breites Spektrum an Perspektiven auf die Ära Kohl abdecken. So kommen neben ost- und westdeutschen Politikern auch internationale Akteure wie James Baker, Jacques Delors oder Michail Gorbatschow zu Wort. Dabei fällt auf, dass die Interviews mit nicht-deutschen Gesprächspartnern meist sehr kurz ausfallen - die Interviews der drei letztgenannten Politiker sind beispielsweise jeweils weniger als drei Seiten lang. Die Ausnahme, die die Regel bestätigt, ist das Interview mit Eduard Schewardnadse, das auf über zwanzig Seiten einen faszinierenden Einblick in die sowjetischen Entscheidungsprozesse am Ende des Ost-West-Konflikts bietet. Zu bemängeln ist, dass mit der ehemaligen Bundestagspräsidentin Rita Süßmuth nur eine einzige Frau vertreten ist, obwohl freilich auch andere Interviewpartnerinnen wie Irmgard Schwaetzer oder Élisabeth Guigou denkbar gewesen wären.

Der Fokus der meisten Interviews liegt auf 1989/90. Für diesen Schlüsselmoment in der deutschen und europäischen Geschichte ist die Quellengrundlage nach Öffnung der Archive mittlerweile sehr gut und auch an Memoiren- und Sekundärliteratur zum Ende des Kalten Kriegs mangelt es nicht. Die Interviews halten daher keine bahnbrechenden neuen Erkenntnisse bereit, eignen sich allerdings zur Veranschaulichung und Ausdifferenzierung. So schlägt sich beispielsweise die Kontingenz der Epochenwende, die in der Forschung immer wieder betont wird, eindringlich in den zahlreichen kontrafaktischen Überlegungen der Zeitzeugen nieder. Der langjährige Regierende Bürgermeister von Berlin, Eberhard Diepgen, etwa spekuliert, dass die Wiedervereinigung aufgrund der hohen Kosten womöglich bereits 1991 an der mangelnden Unterstützung der westdeutschen Bevölkerung gescheitert wäre, hätte man sie explizit befragt (35), und der Mitbegründer der ostdeutschen SPD Markus Meckel ist sich sicher, dass die Sozialdemokraten die Bundestagswahl am 2. Dezember 1990 gewonnen hätten, wenn ihr Kanzlerkandidat nicht Oskar Lafontaine gewesen wäre (141). Der sowjetische Außenpolitiker Valentin Falin wiederum zeigt sich überzeugt, dass man die Wiedervereinigung sehr wohl hätte aufhalten können, wenn sich Thatcher, Mitterrand und Gorbatschow nur entschlossen genug dagegengestemmt hätten (45). Wolfgang Schäuble lädt dazu ein, sich mit Blick auf Kohls Zehn-Punkte-Plan vorzustellen, "der amerikanische Präsident hätte sich damals von diesem Plan distanziert" (227). Das führt noch einmal vor Augen, wie groß die Offenheit der Situation in der zeitgenössischen Wahrnehmung war, oder anders formuliert, wie wenig mit dem Mauerfall bereits entschieden war.

Besonders groß ist der Mehrwert der Zeitzeugeninterviews dann, wenn sie etablierte Narrative und vermeintliche Gewissheiten herausfordern. Dies ist vor allem bei den Interviews mit Helmut Kohls politischen Gegnern innerhalb und außerhalb der eigenen Partei der Fall. So würdigt Heiner Geißler die Europapolitik Kohls als großes Vermächtnis, nicht jedoch die deutsche Wiedervereinigung, die "das Werk von Bush und dann auch Gorbatschow" gewesen sei (61). Dem schließt sich Markus Meckel an. Ihn habe es "immer geärgert, wenn Helmut Kohl als der Macher der deutschen Einheit betrachtet wurde" (141). Ähnlich kontrovers fällt die Bewertung von Michail Gorbatschow aus. Während die Forschung dessen große Bedeutung für das relativ friedliche Ende des Ost-West-Konflikts vielfach gewürdigt hat, kritisieren ihn einige der hier interviewten Zeitzeugen hingegen scharf. Neben Valentin Falin ("Gorbatschow ist die größte Enttäuschung in meinem Leben", 47) äußert sich vor allem der letzte Ministerpräsident der DDR, Hans Modrow, in diese Richtung. Er wirft Gorbatschow mit Blick auf die deutsche Frage "Unfähigkeit en gros" vor. Demnach sei der Generalsekretär der KPdSU in den entscheidenden Verhandlungen mit den USA zur Zukunft Deutschlands stets unvorbereitet gewesen (183).

Bei der starken Konzentration auf die Jahre 1989/90 bleibt nur noch wenig Raum für die zweite Hälfte der Ära Kohl, die insbesondere für das boomende Feld der Transformationsforschung von großem Interesse ist. Die meisten Interviews springen von der deutschen Wiedervereinigung gleich zur Wahlniederlage der christlich-liberalen Koalition 1998 und lassen die acht dazwischen liegenden Jahre im Dunkeln. Das Gespräch mit Theo Waigel bildet hier eine Ausnahme. Er beschreibt die 1990er-Jahre als eine Zeit der Introspektive und liefert damit einen ersten Interpretationsansatz für die zweite Hälfte der Ära Kohl. Die Bundesrepublik sei so sehr mit der deutschen Einheit beschäftigt gewesen, dass sie die globalen Herausforderungen ein Stück weit aus dem Blick verloren habe (375).

Insgesamt ist "Mit den Augen der Anderen" eine willkommene Ergänzung zu den zahlreichen Akteneditionen, die sich mit der deutschen Wiedervereinigung und dem Ende des Ost-West-Konflikts befassen. Das liegt nicht zuletzt daran, dass viele der Zeitzeugeninterviews thesenfreudiger sind als die meisten Regierungsakten. Eine detailliertere Befragung von Zeitzeugen zur Transformation Deutschlands und Europas im weiteren Verlauf der 1990er-Jahre bleibt indes ein Desiderat.

Victor Jaeschke