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Frank Schorkopf: Die unentschiedene Macht. Verfassungsgeschichte der Europäischen Union, 1948-2007, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2023, 381 S., 19 s/w-Abb., ISBN 978-3-525-30219-4, EUR 35,00
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Rezension von:
Victor Jaeschke
Universität Potsdam
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Victor Jaeschke: Rezension von: Frank Schorkopf: Die unentschiedene Macht. Verfassungsgeschichte der Europäischen Union, 1948-2007, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2023, in: sehepunkte 24 (2024), Nr. 2 [15.02.2024], URL: https://www.sehepunkte.de
/2024/02/38392.html


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Frank Schorkopf: Die unentschiedene Macht

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An Gesamtdarstellungen zum europäischen Einigungsprozess seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs herrscht eigentlich kein Mangel. Dem Staatsrechtler Frank Schorkopf ist es mit seiner Synthese zur Verfassungsgeschichte der Europäischen Union (EU) zwischen dem Haager Kongress 1948 und dem Vertrag von Lissabon 2007 dennoch gelungen, eine Lücke zu schließen. Bisher wurde die europäische Integrationsgeschichte vor allem aus politik- und wirtschaftshistorischer, zuletzt vermehrt auch aus kulturgeschichtlicher Perspektive erzählt. Schorkopf rezipiert den Forschungsstand breit, fokussiert das Thema jedoch aus einer rechtshistorischen, genauer: aus einer verfassungsgeschichtlichen Warte. Die Provokation liegt darin, dass er die Verfassungsgeschichte eines Rechtssubjekts schreibt, das bis heute keine formelle Verfassung besitzt. Schorkopf begründet seinen Ansatz damit, dass Konstitutionalisierungsprozesse, wie im Falle der EU, auch in Abwesenheit eines Verfassungsdokuments evolutiv, über viele Jahre hinweg, ablaufen können. Außerdem betont er, dass es nicht an Bestrebungen mangelte, die EU beziehungsweise ihre Vorgängerorganisationen mit einer formellen Verfassung auszustatten.

In der Einleitung werden Forschungsstand und methodischer Ansatz gekonnt entfaltet. Außerdem werden drei Akteursgruppen eingeführt, die im Folgenden die Analyse prägen: zum einen die "Konstitutionalisten", die sich für die Gründung eines europäischen Bundesstaates inklusive formeller Verfassung einsetzten, zum anderen die "Gouvernementalisten", die eine Stärkung supranationaler Strukturen anstrebten, jedoch auf eine geschriebene Verfassung im traditionellen Sinne verzichten konnten, und zuletzt die "Pragmatisten", die lediglich auf eine verbesserte zwischenstaatliche Kooperation der Mitgliedstaaten abzielten. Keine dieser drei Gruppen konnte die EU jemals vollständig dominieren, so Schorkopfs These. Daher blieb sie eine "unentschiedene Macht", wie bereits im Titel der Studie deutlich wird.

Der Hauptteil ist chronologisch in drei Teile gegliedert, die sich weniger an den Jahreszahlen bekannter Verträge und mehr an rechtshistorischen Entwicklungen orientieren, die in der geschichtswissenschaftlichen Literatur meist eher am Rande behandelt werden. So beginnt der erste Teil mit einer Analyse verschiedener Europakonzepte rund um den Haager Kongress, die 1949 zur Enttäuschung der "Konstitutionalisten" in die Gründung des intergouvernemental organisierten Europarats mündeten. Erst danach widmet sich Schorkopf dem Aufbau der Europäischen Gemeinschaften (Montanunion, Euratom, Wirtschaftsgemeinschaft). Erfreulich großen Raum nimmt die Analyse der 1954 gescheiterten "Europäischen Politischen Gemeinschaft" ein, die Schorkopf als einen "Verfassungsversuch" beschreibt, der "zu Unrecht nicht zum Erinnerungskanon" (54) gehört, da er wichtige Impulse für eine umfassende politische Integration (West-)Europas lieferte. Der erste Teil endet schließlich mit einer Analyse der wegweisenden Urteile des Europäischen Gerichtshofs in den Rechtssachen van Gend & Loos 1963 und Consta/ENEL 1964, die das Verhältnis zwischen Europa und nationalem Recht zugunsten der Europäischen Gemeinschaft (EG) auslegten.

Der zweite Teil, der mit "Suche nach Identität" überschrieben ist, befasst sich vor allem mit den 1970er und den frühen 1980er Jahren. Diese Phase im europäischen Einigungsprozess ist schwierig zu fassen, weil sie zwar aufsehenerregende Reformprojekte vermissen ließ, jedoch gerade mit Blick auf die Rechtsordnung der Gemeinschaft wichtige Konsolidierungsschritte aufwies. So begriff sich die EG, wie Schorkopf zeigt, seit den 1970er Jahren zunehmend als "Rechtsgemeinschaft". Andere wichtige verfassungshistorische Entwicklungen, die in diesem Teil abgedeckt werden, sind die Gründung des Europäischen Rats der Staats- und Regierungschefs, das Ringen um die Direktwahl des Europäischen Parlaments unter dem Sichtwort "Demokratiedefizit" sowie die Frage nach dem Grundrechteschutz auf europäischer Ebene. Auch in diesem Teil wird gescheiterten Initiativen viel Platz eingeräumt. Die Besprechung des sogenannten Spinelli-Entwurfs, eines vom Europäischen Parlament vorgelegten Vertragsentwurfs zur Gründung der EU von 1984, der von den Regierungen der Mitgliedstaaten abgelehnt wurde, fällt beispielsweise genauso ausführlich aus wie die Analyse des Vertrags von Maastricht, mit dem die EU 1992 dann tatsächlich gegründet wurde. Dahinter steht ein Kernargument von Schorkopf, nämlich, "dass im organisierten Europa keine Integrationsidee und kein Textentwurf vergessen werden" (279). Am Beispiel des Spinelli-Entwurfs kann er dies überzeugend herausarbeiten, indem er zeigt, dass dessen Inhalte mittlerweile fast gänzlich in geltendes Europarecht umgesetzt wurden.

Der dritte Teil widmet sich der Zeit seit Mitte der 1980er Jahre, die von einer enormen Beschleunigung des europäischen Einigungsprozesses gekennzeichnet war und 2004 in einen von den Regierungen der Mitgliedstaaten unterzeichneten Verfassungsvertrag mündete, der nur noch der Ratifizierung harrte, schließlich aber an Referenden in Frankreich und den Niederlanden spektakulär scheiterte. Aus der Erbmasse des Verfassungsvertrags entstand schließlich 2007 der Vertrag von Lissabon, der das Ende des Betrachtungszeitraums von Schorkopfs Studie markiert. Wichtige Themen in diesem Teil sind die gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik, bei der sich die integrationsskeptischen "Pragmatisten" behaupteten, und die Wirtschafts- und Währungsunion, bei der sich wiederum die "Gouvernementalisten" mit ihrem Supranationalisierungsprogramm durchsetzten. Außerdem geht es um die abstrakte, aber verfassungshistorisch wichtige Frage nach der Kompetenzverteilung im immer komplexer werdenden Mehrebenensystem der EU, die nie final geklärt wurde. Während sich die einen, vor allem die Europäische Kommission und das Europäische Parlament, für mehr EU-Zuständigkeiten einsetzten, befürchteten andere eine unkontrollierte Kompetenzdrift weg von den Mitgliedstaaten.

Durch die Brille des Historikers betrachtet fällt auf, dass der über die EU hinausweisende internationale Kontext in Schorkopfs Studie eine eher untergeordnete Rolle spielt. Wie der Kalte Krieg den Aufbau der Gemeinschaften in den 1950er und 1960er Jahren prägte, ja erst ermöglichte, und wie dessen Ende den weiteren Verlauf des Einigungsprozesses in den 1990er und 2000er Jahren beeinflusste, wird hier nur am Rande thematisiert. Die Implikationen der deutschen Wiedervereinigung für die europäische Einigung werden beispielsweise in einem einzigen Absatz abgehandelt. Außerdem ist zu konstatieren, dass Schorkopfs Verfassungsgeschichte den Befürwortern einer Konstitutionalisierung der EU weit mehr Aufmerksamkeit schenkt als den Gegnern, die in den meisten EU-Mitgliedstaaten spätestens seit den 1990er Jahren fest zum politischen Spektrum dazugehören. Vielleicht hätte es neben "Konstitutionalisten", "Gouvernementalisten" und "Pragmatisten" noch einer weiteren Kategorie bedurft, um auch Opposition gegen europäische Einigung analytisch einzufangen, was insbesondere mit Blick auf den gescheiterten Verfassungsvertrag von 2004 wichtig erscheint. In Schorkopfs Darstellung bricht die Ablehnung einigermaßen überraschend in die Erzählung hinein. Dass es in vielen Mitgliedstaaten schon länger brodelte, gerät hingegen etwas aus dem Blick.

Diese Einwände schmälern jedoch nicht die hohen Verdienste der Studie. Sie ruft mit Nachdruck in Erinnerung, dass der Aufbau einer belastbaren supranationalen Rechtsordnung eine zentrale Errungenschaft europäischer Einigungsbestrebungen ist. Sie betont zudem immer wieder die Offenheit dieses Prozesses. Dass die EU heute keine formelle Verfassung hat, ist keine historische Notwendigkeit, wie die von Schorkopf geschilderten, mitunter nur knapp gescheiterten Versuche zur Einführung einer europäischen Verfassung eindrücklich zeigen. Außerdem besticht die Studie durch ihre gute Lesbarkeit, sodass trotz der komplexen Materie auch Nicht-Juristen problemlos folgen können. Das Buch sei daher nicht nur EU-Experten, sondern auch einem breiteren Publikum als Lektüre wärmstens empfohlen.

Victor Jaeschke