Geschenktipps (nicht nur) zu Weihnachten

Jürgen Danyel, Potsdam


Nikolai Okunew: Red Metal. Die Heavy-Metal-Subkultur der DDR, Berlin 2021.
Eine ebenso profunde wie hervorragend geschriebene Geschichte einer bislang von der zeithistorischen Forschung unterschätzten jugendlichen Subkultur in der DDR. Stil, Ästhetik, Bandgeschichten und popmusikalische Praktiken wie auch die Fan-Kultur der ostdeutschen Heavys beleuchtet das Buch anhand einer Fülle von Quellenmaterialien und Gesprächen mit Protagonisten. Dokumentiert werden die Konflikte der überwiegend im Milieu junger Arbeiter verorteten Subkultur mit Staat und Stasi, die zunehmend ratlos auf diese wie auch andere sich in den 1980er Jahren ausdifferenzierenden Jugendkulturen reagierten. Ungeachtet dieser Schwierigkeiten fand Heavy Metal seinen Weg ins DDR-Jugendradio. Auch von der Ausstattung her, angefangen beim eindrucksvollen Cover bis hin zu den zahlreichen bislang unveröffentlichten Fotografien aus dem Innenleben der Szene, ist das Buch ein Ereignis.

Merten Lagatz / Bénédicte Savoy / Philippa Sissis (Hgg.): Beute. Ein Bildatlas zu Kunstraub und Kulturerbe, Berlin 2021.
Nicht erst seit der Eröffnung des Humboldt Forums in Berlin brodelt in der deutschen und internationalen Öffentlichkeit eine Debatte um das koloniale Erbe und den Umgang mit geraubten Kulturgütern in Museen, Sammlungen und Ausstellungen. Deutlich hörbar ist die Forderung nach einer aufklärenden Provenienzforschung. Götz Alys leidenschaftliches Buch "Das Prachtboot. Wie Deutsche die Kunstschätze der Südsee raubten" über die gewaltgetränkte Herkunftsgeschichte des berühmten Luv-Bootes hat Öl in das Feuer der Debatte um das Berliner Forum gegossen. Mit ihrem Bildatlas zu Kunstraub und Kulturerbe legen die Herausgeber*innen zusammen mit ihrer translocation Gruppe eine höchst spannende und lehrreiche visuelle Geschichte der kolonialen Praxis des Raubs und der Aneignung von Kulturgütern vor. Über 80 Essays beschreiben anhand von Bildern nicht nur die "Verlagerung" von Objekten, sondern auch die damit verbundenen Verschiebungen in der Erinnerung bis hin zu den Formen der beginnenden Skandalisierung dieser kolonialen Praktiken und damit verbundener Rituale der Wiedergutmachung. Von den modisch gewordenen Prachtbänden über kanonische Dingwelten hebt sich das Buch durch seine kritische Multiperspektivität höchst erfreulich ab. Ganz abgesehen davon, dass es sich um einen wunderbar gestalteten Band handelt, den man gern in die Hand nimmt.

The Billion Dollar Code, Miniserie, Deutschland 2021, Regie: Robert Thalheim, Netflix
Über die Markmacht der großen Internetkonzerne wird immer wieder viel diskutiert und auch spekuliert. Im Kontrast dazu werden die Ursprünge der digitalen Welt und ihre Protagonisten gern in ein romantisierendes Licht getaucht. Die Anfangsutopien vom demokratischen Aufbruch durch das Netz und einer mit ihm verbundenen Revolution unserer Welterfahrung sind inzwischen einem Kulturpessimismus gewichen, der die Schattenseiten der zunehmend kommerzialisierten und der Kontrolle entgleitenden digitalen Räume betont. Mitten in diese Gemengelage stößt die Netflix-Serie "The Billion Dollar Code", die mit ihrem spannenden Plot die Machtverhältnisse in der digitalen Welt sichtbar macht, ohne dabei allzu sehr in gängige Klischees zu verfallen. Erzählt wird ein Kampf à la David gegen Goliath - der Rechtstreit zwischen dem Berliner Unternehmen ART+COM mit dem Internetriesen Google um das Patent des Programmiercodes für ein virtuelles Abbild der Erde. Die Serie nimmt das reale Geschehen vor Gericht wie in einem Anwaltskrimi zum Anlass für Rückblenden in die Welt der Berliner Hacker- und Computerszene zu Beginn der 1990er Jahre, aus der die Firma ART+COM und ihr Produkt "Terravision" hervorgingen. Wir tauchen ein die damals herrschende Euphorie der scheinbar unbegrenzten digitalen Möglichkeiten, in der eine Grupp junger Programmierer*innen aus dem Umfeld des Chaos Computer Clubs in einer Mischung aus Genie und Hochstapelei, Mut und Verzweiflung im wahrsten Sinne des Wortes die Welt erobern will. Ein äußerst sehenswerter Beitrag zur Zeitgeschichte der digitalen Welt.

Jaroslav Rudiš: Gebrauchsanweisung für Zugreisen, München 2021.
Wer einmal in dem legendären Speisewagen des von der tschechischen Bahn betriebenen Fernzuges zwischen Berlin und Prag gesessen hat und auf der Strecke hinter Dresden entlang der Elbe den Blick aus dem Fenster schweifen ließ, wird die Begeisterung des Schriftstellers für das Zugreisen nachvollziehen können. Bahnreisen nicht nur als Mittel der Entschleunigung sondern auch als Weg einer intensiven Geschichts- und Kulturerfahrung. Direkt und indirekt kreisen fast alle Bücher des sowohl in der tschechischen wie in der deutschen Literatur- und Kulturszene beheimateten Autors um das Thema Eisenbahn. Sie sind neben diesem neuen Band in der erfreulich unkonventionellen Reihe touristischer Gebrauchsanweisungen bei Piper eigentlich alle zu empfehlen, angefangen von der Graphic Novel "Alois Nebel" (brillant von Jaromir 99 gezeichnet ), in der der Fahrdienstleister eines kleinen tschechischen Bahnhofs im früheren Sudetenland mit den Schatten der Vergangenheit kämpft, bis hin zu "Winterbergs letzte Reise", einem melancholischen Roman über die verschwundene Geschichte Mitteleuropas. Ein Plädoyer für das Zugfahren als historiographische Leidenschaft.