Rezension über:

Mark Levene: The Crisis of Genocide Volume I. Devastation: The European Rimlands 1912-1938, Oxford: Oxford University Press 2013, XXVIII + 545 S., 5 Kt., ISBN 978-0-19-968303-1, GBP 85,00
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Mark Levene: The Crisis of Genocide Volume II. Annihilation: The European Rimlands 1939-1953, Oxford: Oxford University Press 2013, XVIII + 535 S., 5 Kt., ISBN 978-0-19-968304-8, GBP 85,00
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Rezension von:
Tatjana Tönsmeyer
Wuppertal / Essen
Redaktionelle Betreuung:
Peter Helmberger
Empfohlene Zitierweise:
Tatjana Tönsmeyer: Mark Levene : The Crisis of Genocide (Rezension), in: sehepunkte 15 (2015), Nr. 9 [15.09.2015], URL: https://www.sehepunkte.de
/2015/09/26259.html


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Mark Levene : The Crisis of Genocide

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In zwei voluminösen Bänden hat Mark Leven sein opus magnum, The Crisis of Genocide, vorgelegt, die sich als Weiterführung seines auch zuvor schon eindrucksvollen Œuvres lesen lassen, darunter vor allem die Schriften zum Genozid im Zeitalter des Nationalstaates. Er hat damit seinen Ruf, einer der führenden Wissenschaftler auf dem Gebiet der genozidalen Massengewalt zu sein, bekräftigt.

Auf mehr als tausend Seiten und unter Rezeption einer schier unglaublichen Fülle von einschlägiger Literatur durchschreitet Mark Levene die Geschichte der genozidalen Massengewalt in den von ihm so bezeichneten "rimlands". Darunter versteht er den Balkan, einschließlich Westanatoliens, den Kaukasus mit der Schwarzmeerregion sowie Ostanatolien und die Region zwischen der Ostsee und dem Krim als den "lands between". Seine insgesamt zwölf, vor allem chronologisch angelegten Kapitel schildern Massengewalt in einer Vielzahl von Beispielen seit dem Ersten Weltkrieg und dem Genozid an den Armeniern über die stalinistischen Massenverbrechen sowie den Zweiten Weltkrieg und die Shoah bis zu Stalins Tod im Jahr 1953.

Dabei führt Levene seine These aus, wonach gerade die rimlands als Randgebiete der Imperien kritische Regionen für die Entstehung von Genoziden darstellten, weil hier die europäischen Kontinentalimperien auf das moderne Modell des Nationalstaates stießen. Während aber die alten Imperien im Inneren zwar durchaus gewalttätig agierten, war ihnen die Vorstellung, dass ihre Untertanen in Sprache, Religion oder Ethnie homogen sein sollten, fremd. In der Vielfalt, die für Imperien den Normalfall darstellte, sahen die neuentstehenden Nationalstaaten dagegen eine zentrale Herausforderung. Hierin liege, so der Verfasser, die Entstehung von genozidaler Gewalt begründet, die integraler Bestandteil des Systems der Nationalstaaten sei. Die Balkankriege und der Zusammenbruch der Mittelmächte im Ersten Weltkrieg hätten Nationalisierungstendenzen verstärkt - mit katastrophalen Konsequenzen für die Minderheiten in den shatterzones. Unter den Rahmenbedingungen von einschneidenden Krisen und (Welt-)Kriegen seien daher Genozide, ins Werk gesetzt von staatlichen Akteuren gegenüber realen oder imaginierten sozialen Gruppen als physische Eliminierung, nicht nur eine Option, sondern vielmehr wahrscheinlich. Genozid stellt damit für Levene kein Ausnahmeereignis dar, sondern einen integralen Bestandteil der Moderne.

So weit, so erhellend und im Handling des Materials auch beeindruckend. Dennoch seien auch Nachfragen erlaubt. Zunächst: Gewiss lässt sich das nationalsozialistische Deutschland als genozidaler Staat par excellence beschreiben und Homogenisierung als Ziel seiner rassistischen Maßnahmen nach Innen und Außen. Doch macht dies das Deutsche Reich schwerlich zu einem rimland country, so wie man auch Zweifel haben darf, ob vor allem die Kriegsjahre durch Prozesse der Transformation vom Imperium zum Nationalstaat zu charakterisieren sind. Gerade die jüngere Weltkriegsforschung beschreibt in umgekehrter Perspektive ein empire building unter nationalsozialistischem Vorzeichen im östlichen Europa.

Aber, so muss man hinzufügen, dieses Imperium sollte ein Reich neuen Typs werden, das eine heterogene Bevölkerung, anders als die klassischen Imperien, nicht mehr zu akzeptieren vermochte, sondern brutal bekämpfte. Im Kapitel "Wars of All against All" argumentiert Levene daher, das Deutsche Reich habe den Krieg gegen die Sowjetunion zwar mit einer "genozidalen Agenda" begonnen, diese jedoch aufgrund militärischen Versagens nicht realisieren können (246). In Belarus, wo nach der Einschätzung von Timothy Snyder, jede zweite Person entweder ermordet oder zwangsweise umgesiedelt wurde, sei das Massenmorden an der einheimischen Bevölkerung dem Bemühen geschuldet gewesen, ein weiteres territoriales Ausgreifen der sowjetischen Partisanenbewegung zu unterbinden. Dies nicht als Genozid zu beschreiben, erfordere, so schreibt der Verfasser selbst, "a rather fine line of distinction, even to the point of pedantry" (257). Dagegen sei der Ausgang des Warschauer Aufstandes im Sommer 1944 "certainly genocidal in a localized sense" (239). Auch das Vorgehen der ukrainischen UPA, die umkämpftes Territorium zwischen deutschen Truppen, Roter Armee und verschiedenen Partisaneneinheiten sowie der lokalen polnischen Bevölkerung für einen ukrainischen Staat habe erringen wollen, qualifiziere als Genozid in einem begrenzten geographischen Raum (240). Als genozidal werden ferner die von kroatischen Ustaschen und serbischen Cetniks in Bosnien-Herzegovina begangenen Massenmorde bezeichnet, verübt im ersten Fall von Akteuren eines überaus schwachen Staates, im zweiten Fall im Vorgriff auf die Staatswerdung als "authentic variant of genocide" (240). Man mag die Argumentation, warum die verübte Massengewalt im einen Fall einen Genozid darstellt, im anderen aber nicht, noch nachvollziehen und insofern Levene in seinen einzelnen Einschätzungen zustimmen können. In der Zusammenschau dieser hier etwas ausführlicher wiedergegebenen Einschätzungen stellt sich jedoch die Frage, welchen Beitrag die genaue definitorische Klassifizierung für das Verständnis der jeweiligen Kontexte von Gewalthandeln bringt, jenseits eines "sombre reminder that hell on earth [in Belorussia and Ukriane, T.T.] does not require the appellation 'genocide' to be so" (257).

Ins Allgemeine gewendet: Das Bestreben des Verfassers richtet sich vor allem auf Fragen der Kategorisierung. Dahinter treten nicht zuletzt die Akteure on the ground zurück. Diese jedoch, das zeigen mikrohistorische Studien, entziehen sich vielfach den hier vorgeschlagenen Kategorisierungen, weil Identitäten plural sind und Menschen unter den Bedingungen von Massengewalt Überlebensstrategien suchten, zu denen wiederum das Ausüben von Gewalt gehören konnte. Damit ist die alte Frage nach structure and agency nicht weit und Levene zeigt, dass sie speziell für den local level noch zu beantworten ist, denn es ist diese Ebene, auf der sich extreme interethnische Gewalt unter Menschen, die zuvor zum Teil eng zusammengelebt hatten, entfaltete.

Dass Bücher Nachfragen auslösen, vor allem solche, auf die es keine einfachen Antworten gibt und die zur weiteren Beschäftigung mit einem zentralen Kapitel der europäischen Geschichte des 20. Jahrhunderts auffordern, ist als Stärke hervorzuheben, ebenso das Angebot zur Systematisierung. Die beiden Bände The Crisis of Genocide von Mark Levene stellen somit einen Referenzpunkte für alle dar, die sich mit Massengewalt und Genoziden beschäftigen.

Tatjana Tönsmeyer