Rezension über:

Kristina L. Richardson: Difference and Disability in the Medieval Islamic World. Blighted Bodies, Edinburgh: Edinburgh University Press 2012, IX + 158 S., ISBN 978-0-7486-4507-7, GBP 60,00
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen

Rezension von:
Stephan Conermann
Institut für Orient- und Asienwissenschaften, Universität Bonn
Redaktionelle Betreuung:
Peter Helmberger
Empfohlene Zitierweise:
Stephan Conermann: Rezension von: Kristina L. Richardson: Difference and Disability in the Medieval Islamic World. Blighted Bodies, Edinburgh: Edinburgh University Press 2012, in: sehepunkte 14 (2014), Nr. 9 [15.09.2014], URL: https://www.sehepunkte.de
/2014/09/26067.html


Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.

Kristina L. Richardson: Difference and Disability in the Medieval Islamic World

Textgröße: A A A

Kristina L. Richardson, seit 2008 Assistent Professor für Geschichte am Queens College der City University von New York, hat hier auf der Grundlage ihrer Promotionsschrift eine sehr interessante Studie vorgelegt. Sie beschäftigt sich mit dem gesellschaftlichen Diskurs über körperliche Abnormitäten (ʿahat) in der mamlukischen (und frühosmanischen) Gesellschaft. Diese Anomalien können vielerlei Art sein: Blindheit, Taubheit, Querschnittslähmung, Lepra, Mundgeruch, Ophthalmie oder Gelbsucht, aber auch physische Besonderheiten wie blaue Augen, flache Nasen, Hasenscharten, Hautflecken, Glatze, Buckel oder wenig Bartwuchs. Solche Merkmale spielten im Mittelalter in islamischen Gesellschaften zur Identifikation von Personen eine große Rolle. Zumindest findet man in den biographischen Lexika zahllose Hinweise in den Einträgen, wenn es um Charakterisierung einzelner Männer oder Frauen geht.

Da die Quellenlage, wie man sich denken kann, nicht gerade üppig ist, besteht der Diskurs bei Kristina Richardson, wie wir sehen werden, in erster Linie aus den entsprechenden Werken von sechs ausgewählten Gelehrten, die interessanterweise alle durch freundschaftliche Beziehungen oder ein Lehrer-Schüler-Verhältnis miteinander verbunden waren: Shihab ad-Din al-Hijazi (gest. 1471), Taqi ad-Din al-Badri (gest. 1489), Yusuf b. ʿAbd al-Hadi (= Ibn Mibrad, gest. 1503), Ibn Tulun (gest. 1546), Ibn Fahd (gest. 1547) sowie Ibn Hajar al-Haythami (gest. 1567).

Die intensive Forschung über die Mamlukenzeit (1250-1517) hat gezeigt, dass diese Periode intellektuell überaus lebendig und in vielerlei Hinsicht innovativ gewesen ist. So nimmt es nicht wunder, dass im 14. Jahrhundert auch das Genre der um gewisse ʿahat gruppierte Biogrammsammlungen erneut aufgegriffen und erweitert wurde. Zu nennen sind hier etwa Salah ad-Din as-Safadis Traktat "Nakt al-himyan ʿala nukat al-ʿumyan", in dem sich 313 Lebensläufe von berühmten Blinden finden, und seine Abhandlung "aš-Šuʿur biʿl-ʿur" über einäugige Frauen und Männer. Die Verf. greift diesen Trend sozusagen auf und verfolgt ihn in seinen regionalen Ausprägungen (Damaskus, Kairo und Mekka) bis ins 16. Jahrhundert hinein. Als theoretischer Ansatz dienen ihr Erkenntnisse aus den Aesthetics Studies, die sich unter anderem mit der Frage befassen, wie Körper auf andere Körper reagieren. Es geht um die Akzeptanz von Körpern innerhalb einer Gemeinschaft, um die gesellschaftlichen Ex- und Inklusionsmechanismen. "Disability", so Kristina Richardson, die hier Tobin Siebers von der University of Michigan zitiert, "is the master trope of human disqualification not because disability theory is superior to race, class, or sex/gender theory, but because all oppressive systems function by reducing human variation to deviancy and inferiority defined on the mental and physical plane." (14)

Das Buch setzt ein mit einer Einführung in das Thema. ("ʿAhat in Islamic Thought", 22-35) Richardson zeigt sehr schön, wie das Thema der ʿahat in zentralen religiösen Quellen behandelt wir, d.h. im Koran, in den sechs kanonisierten Sammlungen der dem Propheten zugeschriebenen Aussagen und Handlungen und in den Werken von aš-Šafiʿi (gest. 820), nach dem dann ja eine der islamischen Rechtsschulen benannt worden ist. Er vertritt die Meinung, dass jede Person mit einem körperlichen Makel grundsätzlich dazu neigt, früher oder später ein verwerfliches Verhalten an den Tag zu legen. Davon ausgenommen war allerdings der Prophet. In zahlreichen hagiographischen Werken wird geschildert, dass Muhammad zwischen den Schulterblättern eine Taubenei große Wölbung auf seiner Haut besaß. Dies fasste man jedoch nicht als ʿaha auf, sondern sah in dieser Anomalie vielmehr ein Zeichen seiner Prophetie. Doch zurück zu aš-Šafiʿi: Dieser bestätigt in seinen Schriften im Grunde nur eine ohnehin in seiner Zeit unter der Bevölkerung weit verbreitete negative Haltung gegenüber den ahl al-ʿahat. Die Kausalverbindung zwischen physischer Andersartigkeit und moralischem Handel war als Stereotyp, wie aus vielen historiographischen, religiösen und juristischen Texten hervorgeht, auch in der Mamlukenzeit weit verbreitet. Allerdings gab es nun auch eine Reihe von ʿulamaʾ, die gegen dieses Klischee anschrieben. Im Mittelpunkt des sich anfügenden Kapitels ("Literary Networks in Mamluk Cairo", 36-71) steht einer von ihnen, nämlich der in Kairo wirkende Hadith-Gelehrte Shihab ad-Din al-Hijazi. Die genaue Auswertung seiner Schriften, unter anderem auch Poesie und Briefe, enthalten zahllose Anspielungen auf seiner Meinung nach positiv besetzte körperliche Abnormitäten. Das hatte allerdings einen ganz persönlichen Hintergrund. Als er ungefähr 20 Jahre alt war, hatte er eine Überdosis einer Droge namens baladhur eingenommen, die unter Gelehrten beliebt war, da sie die Sinne wachhielt und damit die Aufnahme- und Lernfähigkeit verlängerte. Bei al-Hijazi verursachte sie jedoch bleibende Schäden in Form von roten Geschwüren. Da er auf diese Weise nun selbst zu einem ahl al-ʿahat geworden und für deren Ausgrenzung sensibilisiert worden war, bemühte er sich fortan in seinen literarischen Texten darum, eine neue Ästhetik zu formulieren und körperliche Abartigkeiten gesellschaftsfähig zu machen. Dass al-Hijazi trotz seiner Makel kein Einzelgänger war, belegt seine enge Beziehung zu sechs anderen bekannten Poeten seiner Zeit. Unter ihnen befand sich auch der berühmte Ibn Hajar al-ʿAsqalani (d. 1449).

In dem dritten Abschnitte des Buches ("Recollecting and Reconfiguring Afflicted Literary Bodies", 72-95) stellt Richardson dann sehr überzeugend vor, wie mit dem Thema "Körper" in zwei Anthologien des Damaszener ʿalim Taqi al-Din al-Badri umgegangen wird. Zum einen kompilierte al-Badri, ein Schüler von al-Hijazi, eine sehr große Menge an Material über das menschliche Auge ("ad-Durr al-masun"). Die Darstellung folgt eher traditionellen Mustern und ist recht deskriptiv gehalten. Zum anderen verfasste er eine Sammlung romantischer und (homo)erotischer Verse. ("Ghurrat as-sabah fi wasf as-sibah") Das 14. Kapitel beinhaltet etwa 160 Gedichte über Personen, bei denen ein oder mehrere Körperteile Anomalitäten aufwiesen. "The reassembly of poems about subjective body parts", so Kristina Richardson, "creates a hybrid corpus of work and a conglomerate human body that is the sum of its individual diseased parts." (15)

Die Beschäftigung mit körperlichen Abnormitäten erfasste in der Mamlukenzeit bemerkenswerterweise auch die Hadith-Wissenschaften. (Chapter 4: "Transgressive Bodies, Transgressive Hadith", 96-109). Richardson richtet den Fokus auf einen Schüler von al-Hijazi in Damaskus: Yusuf b. ʿAbd al-Hadi, auch bekannt unter dem Namen Ibn Mibrad. Dieser fertigte eine interessante Liste mit Überlieferern aus dem 8. und 9. Jahrhundert an, die zu den ahl al-ʿahat zählten. ("Kitab ad-dabt") In dem Werk vermengt sich die arabische literarische Tradition, Namen von Personen mit besonderen körperlichen Merkmalen zusammenzustellen, mit der hadith-wissenschaftlichen Beurteilung der Zuverlässigkeit von Tradenten. Letztlich, so Ibn Mibrad, besitzt der glaubwürdige Überlieferer einen makellosen männlichen Körper. Angedeutet wird in diesem Kapitel auch das enge Verhältnis, das al-Hijazi zu dem Damaszener Historiker Ibn Tulun besaß, ein weiterer Student von ihm, der unter anderem ein Buch zum Trost derjenigen schrieb, die ihr Augenlicht verloren hatten.

Das abschließende Kapitel ("Public Insults and Undoing Shame: Censoring the Blighted Body", 110-137) befasst sich nicht nur mit der Freundschaft zwischen Ibn Tulun und Ibn Fahd, einem Mekkanischen Geschichtsschreiber, der seinen Lesern ein Werk präsentierte, in dem er skandalöserweise enthüllte, das einige seiner Kollegen unter ihren Turbanen eine Glatze hatten. Diese Demaskierung rief bei den Betroffenen einen so großen Ärger hervor, dass sie das Manuskript aus dem Haus der Verfassers holten und es unter fließendes Wasser hielten, um dadurch die Tinte von dem Papier abzuwaschen. Ibn Fahd tat im Anschluss an dieses Ereignis alles, um seine Ehre und die der von ihm diffamierten Personen reinzuwaschen. Zu diesem Zweck disputierte er in der Öffentlichkeit mit dem ebenfalls in Mekka lebenden Theologen Ibn Hajar al-Haythami über die Rechtmäßigkeit, physische Abnormitäten anderer Personen aufzudecken. Darüber hinaus überarbeitete er sein Buch, indem er auf die Nennung von Namen verzichtete.

Obgleich man in der von Kristina Richardson vorgelegte Studie ein wenig die Synthese vermisst, hat sie dennoch ein bahnbrechendes Werk vorgelegt. Sie konnte auf der Basis von bisher vollkommen unerschlossenem Material eine hochinteressante und innovative Diskursanalyse zum Thema der körperlichen Abnormitäten (ʿahat) in der mamlukischen Gesellschaft verfassen.

Stephan Conermann