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Nils Freytag: Neuerscheinungen zum 1. Weltkrieg. Einführung, in: sehepunkte 14 (2014), Nr. 7/8 [15.07.2014], URL: https://www.sehepunkte.de
/2014/07/forum/neuerscheinungen-zum-1-weltkrieg-178/

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Neuerscheinungen zum 1. Weltkrieg

Einführung

Von Nils Freytag

Man mag sie kaum noch lesen, sehen oder hören - die zahllosen Artikel, Bücher, TV-Features, Sonderbeilagen, Ausstellungen und Berichte zum Ersten Weltkrieg. Wenn wir uns nicht erinnerungsgesättigt abwenden, prasselt ein "Trommelfeuer der Erinnerung" auf uns nieder. Verlegerisch gewinnbringend kalkuliert hatte die Erinnerungswelle aus Anlass der hundertsten Wiederkehr des Kriegsausbruchs einen langen Vorlauf. Bereits 2012 erschien Christopher Clarks Buch "Sleepwalkers" über den Kriegsausbruch und seine Ursachen im englischen Original, ein Jahr später auch die deutsche Übersetzung. [1] Viele weitere Bücher unterschiedlichen Zuschnitts folgten seit dem Herbst vergangenen Jahres, sie alle sollen sich vom großen Erinnerungskuchen ein Stück abschneiden. Was bleiben wird und wo neue Akzente gesetzt werden, zeichnet sich bisher allenfalls am Horizont ab.

Wir wollen mit diesem FORUM eine kleine Schneise in das unübersichtliche Dickicht aus Neuerscheinungen und Wiederauflagen schlagen. Die hier vorliegende Auswahl konnte natürlich bei Weitem nicht alle wissenschaftlichen Neuerscheinungen, schon gar nicht alle fremdsprachigen, berücksichtigen. Der aufmerksame und fachkundige Experte wird etliche weitere Publikationen vermissen. Einige Besprechungen zum Themenfeld "Erster Weltkrieg" sind bereits in den zurückliegenden sehepunkte-Ausgaben erschienen, weitere werden in den kommenden Monaten folgen. Dennoch lassen sich unabhängig davon und von der breiten öffentlichen Aufmerksamkeit einige grundlegende Entwicklungen bei der Beschäftigung mit dem Ersten Weltkrieg ausmachen. In Teilen schlagen sich diese bereits seit längerem in Spezialstudien zu beobachtenden Trends nun aus Anlass des Jubiläums auch in den Gesamtdarstellungen nieder. Zwei von ihnen sollen in dieser kurzen Einführung hervorgehoben werden.

Zunächst ist eine konsequente Internationalisierung, ja Globalisierung der Perspektiven zu erkennen. Sie ist zum standardsetzenden Maßstab für die Beschäftigung mit dem Ersten Weltkrieg und seiner Vorgeschichte geworden. "Weltkrieg" oder "großer Krieg" - die Begriffe werden in ihrer Reichweite weit ernster genommen, als noch vor wenigen Jahrzehnten. Dort, wo dieser Blickwinkel fehlt oder nur unvollständig umgesetzt wird, wird er in den Besprechungen angemahnt. Die "Schlafwandler-Kontroverse", die gelegentlich etwas matte Debatte um den Anteil der deutschen Verantwortung an der Julikrise und an der Entfesselung des Krieges, speist sich zu einem beträchtlichen Teil aus dieser weiter zurückreichenden, globalgeschichtlichen Öffnung unseres Faches. Auch wenn mehrere Kontrahenten in der Debatte dies annehmen: Es geht weniger darum, die uralte These von einem allgemeinen, alles entschuldigenden "Hineinschlittern" (Lloyd George) in den großen Krieg wiederaufzuwärmen, als vielmehr darum, Verantwortlichkeiten und Abläufe innerhalb des internationalen Systems und einer gemeinsamen politischen Kultur offenlegen und verstehen zu können. Dazu tragen mehrdimensionale Analysen in einer multipolaren, miteinander vielfältig vernetzten Welt grundlegend bei. Solche Herangehensweisen haben mit dazu geführt, den Ausbruch des Krieges als keinesfalls zwangsläufig einzustufen. In der jüngeren Forschung ist nicht zuletzt deshalb mit Blick auf die gemeinsam bewältigten europäischen Krisen vor 1914 sogar von einem "unwahrscheinlichen Krieg", ja von einem "geradezu gefährlichen Vertrauen in den Frieden" gesprochen worden. [2] Dennoch: Keiner der beteiligten Mächte galt der Frieden als höchstes Gut, um den großen Krieg unbedingt zu vermeiden. Sie steuerten im entscheidenden Moment sehenden Auges auf den Krieg zu. Krieg galt dem 19. Jahrhundert als ein legitimes Mittel der Politik, vor allem, wenn er gewonnen werden konnte. Die Erfahrungen des 19. Jahrhunderts ließen viele Militärs, Politiker und gekrönte Häupter einen - räumlich wie zeitlich - begrenzten Krieg erwarten - nicht weniger mahnender Stimmen zum Trotz.

Die kriegsbegünstigende Erfahrungswelt des 19. Jahrhunderts leitet über zum nächsten grundlegenden Aspekt, der eng mit dem der Globalisierung der Perspektiven verknüpft ist. Globalisierung meint auch, den gesamten Krieg in den Blick zu nehmen, Ost- und Westfront, Heimatfront genauso wie den Krieg der Kulturen und das Problem der Gewalt. Das heißt nicht, aus dem Ersten Weltkrieg von Beginn an einen "totalen Krieg" zu machen. Vielmehr war er zumindest in seinen Anfängen und in den Erwartungen zunächst ein Kind des 19. Jahrhunderts. Das haben viele erfahrungsgeschichtlich inspirierte Studien der zurückliegenden Jahrzehnte gezeigt. Diese Erkenntnisse schlagen sich nun fast durchweg in den Gesamtdarstellungen nieder.

Nach zeitgenössischem Ermessen sollte der Krieg innerhalb weniger Monate beendet sein. Bei aller Ausdifferenzierung der Augusterlebnisse von 1914: Die vor allem im großstädtischen Bürgertum eben auch auszumachende Kriegsbegeisterung lässt sich erst aus dieser vergangenen Erfahrungswelt der Zeitgenossen erklären. Die Welt vor 1914 war kein freundlicher und friedlicher, sondern ein gefährlicher und gewalttätiger Ort. Politik war brutal und aggressiv, in Wort und Tat. Aus dieser Sicht ist der Weltkrieg nichts Neues. Erst in seinem Verlauf wird er zu einer Epochenscheide, zu einem moderneren, einem Krieg des 20. Jahrhunderts. Er entwickelte eine Eigendynamik. Denn unter der Dunstglocke von massenhaftem Tod und Gewalt traten neue Erfahrungen hinzu, die sich eben nicht mit den Kriegserwartungen eines heldenhaften Ringens "Mann gegen Mann", eines Krieges alten Zuschnitts in Einklang bringen ließen. An allen Fronten, insbesondere aber im Westen, wandelte der sich radikalisierende und brutalisierende Krieg sich zu einem an den Generalstabsschreibtischen entworfenen, technisierten Dahinschlachten, dem dennoch grundlegende Elemente eines modernen Krieges fehlten. Erst dies setzte den Rahmen für einen "totalen Krieg", den nicht wenige Zeitgenossen ab 1916 ausmachten. Die Grenzen zwischen Fronten und Heimaten verschwammen nun immer mehr; Bevölkerungen wurden in einem bis dahin ungekannten Maß medial beeinflusst und auch kontrolliert, sämtliche Ressourcen mobilisiert. Jörn Leonhard benennt diesen in sich widerspruchsvollen Übergang in seiner Darstellung am einprägsamsten. Aber auch die menschenverachtende Strategie des gegnerischen "Ausblutens" in der "Menschenmühle" Verdun ist Teil eines Festhaltens an überkommenen Kriegsvorstellungen, die gerade in den Köpfen der Generalstäbe fest verankert waren. Nicht zuletzt aufgrund dieses Auseinanderfallens von Erwartung und Erfahrung steht der Erste Weltkrieg an der Schwelle zum "Zeitalter der Extreme" (Eric Hobsbawm). Er begünstigte mit seinen tief eingegrabenen, gewalttätigen Erfahrungswelten den Aufstieg hasserfüllter und gewalttätiger Ideologien. Frieden stellte sich daher mit Kriegsende nicht ein. Nicht nur die zahlreichen Kriegsopfer hielten die Erinnerung an den Krieg wach und spalteten die Gesellschaften. Sie wurden instrumentalisiert und damit ein zweites Mal Opfer des Krieges. Auch dies zeigen nicht wenige der hier vorgestellten Neuerscheinungen nachdrücklich und es ist der Erinnerung wert.


Anmerkungen:

[1] Vgl. Lothar Machtan: Rezension von Christopher Clark: Die Schlafwandler. Wie Europa in den Ersten Weltkrieg zog, München 2013, in: sehepunkte 14 (2014), Nr. 1 [15.01.2014], URL: http://www.sehepunkte.de/2014/01/23681.html, sowie Klaus Schwabe: Rezension von: Christopher Clark: The Sleepwalkers. How Europe Went to War in 1914, London: Allen Lane 2013, in: sehepunkte 13 (2013), Nr. 10 [15.10.2013], URL: http://www.sehepunkte.de/2013/10/22702.html.

[2] Holger Afflerbach / David Stevenson (eds.): An Improbable War? The Outbreak of World War I and European Political Culture, Oxford 2007. Und jüngst: Holger Afflerbach: Der Topos vom unwahrscheinlichen Krieg in Europa vor 1914, in: GWU 65 (2014), 284-302.

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