Rezension über:

Markus Cerman: Villagers and Lords in Eastern Europe, 1300-1800 (= Studies in European History), Basingstoke: Palgrave Macmillan 2012, XVII + 155 S., ISBN 978-0-230-00460-3, GBP 16,99
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen

Rezension von:
Marten Seppel
Faculty of Philosophy, University of Tartu
Redaktionelle Betreuung:
Christoph Schutte
Empfohlene Zitierweise:
Marten Seppel: Rezension von: Markus Cerman: Villagers and Lords in Eastern Europe, 1300-1800, Basingstoke: Palgrave Macmillan 2012, in: sehepunkte 14 (2014), Nr. 7/8 [15.07.2014], URL: https://www.sehepunkte.de
/2014/07/25665.html


Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.

Markus Cerman: Villagers and Lords in Eastern Europe, 1300-1800

Textgröße: A A A

Es scheint unmöglich, die vorindustrielle Sozial- und Wirtschaftsgeschichte Mittel- und Osteuropas zu untersuchen und dabei nicht über Gutsherrschaft, Gutswirtschaft, Leibeigenschaft oder ökonomische Rückständigkeit zu diskutieren. Markus Cerman fasst nun auf 135 Seiten (Bibliografie und Index ergänzen seine Darstellung) auf filigrane Weise alle historiografischen Debatten zusammen, die mit diesen Konzepten verbunden sind, und weist auf die neuesten Erkenntnisse hin. Insofern erfüllt diese Publikation den Anspruch der Buchreihe Studies in European History.

Cerman vertritt in seinem Buch die Ansicht, dass man die Agrarentwicklung in Osteuropa nicht als ein einheitliches Gebilde betrachten beziehungsweise einseitig charakterisieren kann. Handelte es sich doch um ein Gebiet, das zwei Drittel der Fläche und am Ende des 18. Jahrhunderts etwa ein Viertel der Gesamtbevölkerung Europas umfasste. Die vergleichende Analyse der wichtigsten ostelbischen Regionen gehört zweifellos zu den größten Leistungen dieser Publikation. Des Weiteren kann dieses Buch als die neueste Zusammenfassung der Forschungsergebnisse über Gutsherrschaft und Leibeigenschaft betrachtet werden; ähnlich hat Heinrich Kaaks Studie Die Gutsherrschaft vor 20 Jahren als ein wichtiger historiografischer Zwischenbericht fungiert.

In dem ersten, einleitenden Kapitel unternimmt Cerman eine kritische Diskussion des Konzepts der Gutsherrschaft und stützt sich dabei auf seine früheren Arbeiten. Nach seiner Überzeugung ist es erstens nicht begründet, von einem Dualismus der Grund- und Gutsherrschaft diesseits und jenseits der Elbe zu sprechen, und zweitens habe es keine einheitliche Agrarverfassung der Gutsherrschaft gegeben. Stattdessen solle man regionalen und zeitlichen Differenzierungen und Ähnlichkeiten zwischen den sozialen und wirtschaftlichen Entwicklungen in Ost-, West- und Südeuropa mehr Aufmerksamkeit schenken (5). Wenn Cerman auch empfiehlt, das Konzept der Gutsherrschaft vorsichtig anzuwenden, schlägt er doch nicht vor, diesen etwas künstlichen Begriff gänzlich aufzugeben.

Sicherlich lässt sich auch nicht von einer allumfassenden Leibeigenschaft in Osteuropa sprechen. Cerman behauptet, dass es sich bei der "zweiten Leibeigenschaft" in Osteuropa um einen "Mythos" handele, sie in den meisten Regionen gar nicht existiert habe (132). Eine der charakteristischen Eigenschaften der Leibeigenschaft sei nämlich eine persönliche Beziehung zwischen dem Leibeigenen und seinem Herrn (11) gewesen. Wenn man von dieser Annahme ausgeht, bildete sich die vollständige Leibeigenschaft ("full serfdom") in der frühen Neuzeit nur in einigen Teilen der Herzogtümer Schleswig Holstein, Mecklenburg und Pommern sowie in Russland und "möglicherweise" in Estland und Livland aus, aber weder im Großteil von Brandenburg noch in Polen, Ungarn, Transsilvanien, Moldau und Walachei (11f., 15-22). Diese Argumentation überzeugt jedoch nicht ganz. Der Versuch, eine relativ enge Definition universell einzusetzen, führt zur Fortsetzung der langen und fruchtlosen Debatte darüber, was Leibeigenschaft eigentlich ist, wie man sie "richtig" beschreibt und welche Termini man in Bezug auf bestimmte Regionen oder Perioden verwenden sollte. Anstatt Leibeigenschaft in den meisten ostelbischen Ländern generell zu verneinen, sollte man präziser über die Bedeutung und das Wesen der Leibeigenschaft in unterschiedlichen Regionen sprechen. Eigentlich wäre es korrekter, über "Leibeigenschaften" im Plural zu reden, denn wir haben es in Osteuropa nicht mit einer einheitlichen Leibeigenschaft, sondern eher mit unterschiedlichen Ausprägungen zu tun. Man könnte den vagen Begriff "Leibeigenschaft" auch ganz aufgeben und stattdessen über verschiedene Aspekte der Abhängigkeit oder Unfreiheit der Bauern reden - dieser Versuch wurde in letzter Zeit auch in der Geschichtsschreibung immer wieder unternommen.

Cerman versucht auch andere "Mythen" zu widerlegen, zum Beispiel den über das massive Bauernlegen in Osteuropa (58-61). Der Autor gibt zwar zu, dass das Bauernlegen in Mecklenburg und Pommern vorgekommen sei. In anderen ostelbischen Regionen sei es jedoch kaum praktiziert worden - und wenn, dann unsystematisch. Allerdings vergisst er Estland und Livland zu erwähnen, obwohl dort relativ häufig Bauernhöfe durch Gutsherren gewalttätig eingezogen wurden. Das heißt, dass es sich beim Bauernlegen nur dann um einen "Mythos" handelt, wenn man generell über die ostelbische Region spricht; will man sich jedoch mit einer konkreten Gegend oder dem Schicksal eines einzelnen Bauern befassen, hat man es nicht mit einem Mythos, sondern der Realität zu tun.

Die vorliegende Publikation folgt dem Forschungstrend der letzten 20 Jahre und fokussiert die Wirkungsräume der Bauern. Es wird nicht mehr nur über Grausamkeit und Gewalttätigkeit der Gutsherren gesprochen, so wie es noch in den marxistisch gesinnten Forschungen (Johannes Nichtweiß und andere) der Fall war. Schon der Titel des Buches weist darauf hin, dass der Autor sich auf die Beziehungen zwischen zwei beteiligten Parteien - Dorfbewohnern und Herren - konzentrieren will. Die Rolle des Staates hat Cerman nicht ganz außer Acht gelassen, widmet ihr jedoch keine besondere Aufmerksamkeit. Der frühneuzeitliche Staat hatte aber eine große Rolle bei der Gestaltung der osteuropäischen Agrarverfassungen gespielt, weshalb es sinnvoll gewesen wäre, über drei beteiligte Parteien zu reden.

Zusammenfassend kann man sagen, dass Cermans Buch viele Generalisierungen in Frage stellt. Der Autor zweifelt konsequent alles an, was über die Leibeigenschaft und Gutsherrschaft in Osteuropa im Allgemeinen geschrieben worden ist. Sehr treffend beschreibt er die regionalen Unterschiede in Osteuropa sowie die Mannigfaltigkeit einer konkreten Region (etwa die sogenannten "freien Bauern" in den von Leibeigenschaft geprägten Regionen) und zeigt, dass man sogar in Bezug auf eine einzelne Gegend keine verallgemeinernden Kriterien anwenden kann. Jedoch scheint sich diese Herangehensweise manchmal zu sehr auf Ausnahmen zu konzentrieren und den rechtlichen und wirtschaftlichen Zustand der meisten Bauern zu ignorieren.

Zu den Schwächen dieses Buches gehört Cermans etwas vage und wenig fundierte Präsentation seines eigenen Standpunktes. Im letzten Kapitel behauptet er, dass die Rückständigkeit Osteuropas und die dortige wirtschaftliche Stagnation nicht durch Leibeigenschaft und Gutsherrschaft verursacht worden seien, bietet aber auch keine alternative Erklärung dafür, warum sich die Verstädterung in Osteuropa oder die Kaufkraft der meisten Bauern in Grenzen hielt. Die Beweise, mit denen der Verfasser die traditionelle Sichtweise zu revidieren versucht, hinterlassen oft einen eher tendenziellen und zufälligen Eindruck (etwa hinsichtlich einiger guter Ernten in Osteuropa, 99f.). Obwohl Cerman verlangt, dass man nicht mehr von einer einheitlichen ostelbischen Region sprechen sollte, versucht er immer wieder seine eigenen Schlussfolgerungen auf die ganze Region anzuwenden. So haben etliche jüngere Forschungen gezeigt, dass einige Dorfgemeinschaften unter Gutsherrschaft relativ autonom waren und gesellschaftlich eine Rolle spielten (35), aber es ist dennoch nicht berechtigt, solche Schlussfolgerungen gleich für ganz Osteuropa geltend zu machen.

Jedenfalls motiviert Cermans Buch dazu, das Quellenmaterial, mit dem die negativen Seiten der Leibeigenschaft in Osteuropa bisher belegt worden sind, neu und kritisch durchzuarbeiten, um die Besonderheiten beziehungsweise die Allgemeingültigkeit dieses Phänomens zu zeigen. Die Studie wird sicherlich eine ganze Reihe von Debatten auslösen, was sich auch schon auf der Konferenz "Slavery and Serfdom in the European Economy from the 11th to the 18th Centuries" in Prato im April 2013 gezeigt hat. Der Einfluss dieses Buchs wird bestimmt noch lange zu spüren sein, weil es ein breites Spektrum an Argumenten, Gegenargumenten, Fragen und Perspektiven anbietet.

Marten Seppel