Rezension über:

Eva Krivanec: Kriegsbühnen. Theater im Ersten Weltkrieg. Berlin Lissabon, Paris und Wien (= Theater; Bd. 37), Bielefeld: transcript 2012, 380 S., 53 s/w-Abb., ISBN 978-3-8376-1837-2, EUR 33,80
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen

Rezension von:
Edith Raim
Institut für Zeitgeschichte München - Berlin
Empfohlene Zitierweise:
Edith Raim: Rezension von: Eva Krivanec: Kriegsbühnen. Theater im Ersten Weltkrieg. Berlin Lissabon, Paris und Wien, Bielefeld: transcript 2012, in: sehepunkte 14 (2014), Nr. 6 [15.06.2014], URL: https://www.sehepunkte.de
/2014/06/21545.html


Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.

Eva Krivanec: Kriegsbühnen

Textgröße: A A A

In der gegenwärtigen Flut von Veröffentlichungen zum Ersten Weltkrieg, die sich im Wesentlichen den Kriegshandlungen oder der Außenpolitik widmen, spielen die kulturhistorischen Untersuchungen zur "Heimatfront" eine geringere Rolle. [1] Nicht das Fronttheater für Soldaten, sondern das Theaterleben in vier europäischen Städten in den Jahren von 1914 bis 1918 stehen im Zentrum von Eva Krivanecs inspirierendem Buch. Schon Martin Baumeister [2] hat in seinem ähnlich betitelten Werk, das sich allerdings auf Berlin konzentrierte bzw. auch das deutsche Soldatentheater in den Blick nahm, die Aufmerksamkeit auf das Theaterleben im Krieg gelenkt. An der Baumeister'schen Leitidee des "enactment of the nation" als kollektiver Repräsentation von "Volk" und "Nation" auf den Bühnen während des Krieges orientiert sich auch Krivanec. Das Medium Theater in all seinen Schattierungen zwischen Eliten- und Populärkultur, das sich einerseits der Thematisierung des Krieges auf der Bühne sowie andererseits zunehmend der eskapistischen Unterhaltung im leidvollen Kriegsalltag widmete, sich systemkonform, manchmal aber auch subversiv gerierte, bietet ein spannendes Untersuchungsfeld. Wie beeinflusste der Krieg die "Theatergenres, Spielpläne, Stücke und Inszenierungen" (10) angesichts eines in vielen Theatern schon um 1900 international ausgelegten Repertoires und internationaler Schauspielstars? Und wie den Krieg auf die Bühne bringen, wenn er in vieler Hinsicht nicht darstellbar ist? (12)

Eva Krivanec wagt in ihrem Buch den Vergleich zwischen dem Theater in den Hauptstädten der Mittelmächte sowie zwei Städten der Staaten der Entente. Kritik ließe sich bei der Auswahl dieser Städte festmachen: während Berlin, Wien und Paris nicht zuletzt aufgrund ihrer ausgeprägten Vergnügungskultur nachvollziehbare Studienobjekte sind, erschließt sich die Wahl von Lissabon (dem der kosmopolitische Metropolenrahmen mit damals etwas über 400.000 Einwohnern (31) abgeht) nicht von selbst, bietet aber einen reizvollen Kontrapunkt und führt über die üblichen Betrachtungsweisen hinaus. Die portugiesische Hauptstadt ist in der Auswahl sicherlich "the odd one out", war Portugal doch anfänglich neutral, bis ihm das Deutsche Reich 1916 den Krieg erklärte, was zu einer gewissen Asynchronität in der Darstellung führen muss. Die Inkongruenz der Städte tut ein Übriges: für Lissabon war Paris der kulturelle Bezugspunkt überhaupt, während Paris Lissabon kulturell so gut wie nicht wahrnahm (38). Ebenso beeinflusste die Strahlkraft von Paris als der europäischen Hauptstadt des Vergnügens überhaupt Berlin oder Wien deutlich stärker als umgekehrt. Weiterführend, das räumt auch die Autorin ein (346), wäre möglicherweise der Vergleich mit dem Theaterleben in einem während des Weltkriegs dauerhaft neutralen Land bzw. weiterer Hauptstädte der Entente wie London oder St. Petersburg, was aber angesichts der gigantischen Zahl von Bühnen allein in London wohl kaum zu bewältigen gewesen wäre. Schon die Auswertung der Aufführungen in den vier von der Autorin ausgewählten Städten ergibt etwa 90.000 Aufführungen in den vier Jahren und vier Monaten, die der Erste Weltkrieg dauerte, davon ca. 10.000 in Lissabon und etwa 35.000 in Berlin (14). Allein Berlin hatte etwa 40 Theater und Opernhäuser, zwischen 200 und 350 Kinos, sechs Zirkusse und etwa 150 Kabaretts und Varietébühnen (53).

Ihr Thema bearbeitet Eva Krivanec in sieben großen Kapiteln. Das erste zeigt die Vorgeschichte und beschreibt die außerordentlich vielfältige Theaterlandschaft mit ihren Revuetheatern, Volksbühnen, Varietés und Cabarets in den vier Städten vor 1914, ein zweites die Kriegsmobilmachung in der Herbstsaison 1914 auf den Theaterbühnen in Berlin, Wien und Paris (und die Situation in Lissabon bis 1916), ein drittes fokussiert den "Burgfrieden" und die "geeinte Nation" auf der Bühne. In einem vierten und fünften Teil wird der Fortgang der Theaterspielpläne nach dem Abebben der Kriegseuphorie und die scheinbare Rückkehr zur Normalität gezeigt, wobei die Vereinnahmung des Theaters durch die Kriegsgesellschaft wichtig wird, ein sechster konzentriert sich auf die Auswirkungen der zunehmenden Kriegsmüdigkeit, von Hunger und Revolten auf das Theater, ein siebter auf den Zusammenbruch und Neubeginn (in den Theatern der Metropolen der Mittelmächte).

Deutlich spannender als die Hochkultur - hier wurden vor allem Klassiker in die Pflicht genommen, um den Krieg zu adeln und interpretierbar zu machen, ebenso der Spielplan von unerwünschten ausländischen Autoren "gesäubert", andere Autoren - wie etwa Shakespeare - dagegen als "germanisch" und damit spielbar reklamiert (111) - erweist sich die Populärkultur: im Unterhaltungstheater wurden in eigens verfassten Stücken die Feinde karikiert, die nationale Versöhnung mit politischen Gegnern oder Minderheiten (etwa Sozialisten und Juden) gefeiert und die Waffenbrüderschaft mit den jeweiligen Bündnispartnern beschworen, die Angst vor Spionen und der Fortschritt in der Waffentechnik (oft mit beträchtlichem Aufwand auf der Bühne inszeniert!) ebenso wie die Veränderung der Geschlechterrollen thematisiert. Gastspiele feierten nun allerdings nur noch Theatertruppen verbündeter Nationen.

Ab etwa 1915 richteten sich Theatermacher wie Publikum im Krieg ein und kehrten zu einem weitgehend "normalen" Spielplan zurück, wobei die Zensur in Stücke eingriff, wie etwa bei französischen Revuen gezeigt wird (247). Intendanten reagierten mit dem Rückgriff auf Biedermeierstücke, die z.B. in Berlin reüssierten, aber auch mit kulturkritischen und pessimistischen Dramen von Autoren wie Gerhart Hauptmann und August Strindberg, während in Paris und Lissabon historische Dramen besonderen Anklang fanden. Hervorzuheben ist die von der Autorin geleistete prozentuale Aufschlüsselung der gespielten Stücke nach Genres. Wahre Kassenschlager waren in Berlin die Gesangsposse "Immer feste druff", in Wien die Operette "Die Csardasfürstin" von Emmerich Kálmán. Der Krieg brachte keine finanzielle Krise für die Theater der Hauptstädte (342), aber er hinterließ Spuren auf den Bühnen: sei es in direkten Propagandastücken, sei es in der Wahl des Repertoires. Gleichzeitig regten sich bei den Schriftstellern und Künstlern pazifistische Bestrebungen. Je länger der Krieg dauerte, desto stärker wurden Hunger und Mangel an Lebensmitteln und Heizmaterial in den Stücken thematisiert.

Ein methodisches Problem ist, dass Berlin und Wien deutlich besser beleuchtet werden als etwa Paris und insbesondere Lissabon, das auch in der Darstellung nur eine Rolle am Rand spielt. Inwiefern die Vergleichbarkeit gegeben ist, sei dahingestellt: Die Situation in den Städten war durchaus unterschiedlich: Paris war vom Krieg militärisch viel unmittelbarer bedroht als etwa Wien oder Berlin, die eher die Kollateralschäden des Krieges wie Hunger und Krankheiten erdulden mussten. Auswirkungen auf das Theaterleben einer siegreichen Nation waren zwangsläufig anders als auf das eines unterlegenen Volkes, was aber im siebten Kapitel (das vor allem Kriegsereignisse von 1917/1918 zusammenfasst) nur unzureichend berücksichtigt wird. Warum in Deutschland der Expressionismus, in Frankreich der Surrealismus die Bühnen eroberte, bleibt eine der großen interkulturellen Fragen. Interessanterweise war die Antikriegsfraktion in Portugal außerordentlich ausgeprägt und umfasste diverse politische Kräfte (301). Ob sich die Spielpläne der Provinztheater und die der Hauptstädte glichen, bleibt ein Forschungsdesiderat. Beeindruckend ist das ansprechend illustrierte Buch allemal, öffnet es doch eine Tür in ein kaum bekanntes Feld der Kulturgeschichte des Ersten Weltkriegs und führt uns in die flüchtige Welt des Theaters mit Stücken, die oft längst vergessen sind. Wie der Krieg bei Dichtern und Denkern, in der Kunst und auf den Theaterbühnen schöpferische Potenziale entfesselte und zerstörte, wird noch viele Geisteswissenschaftler beschäftigen.


Anmerkungen:

[1] Eine Ausnahme bildet Ernst Piper: Nacht über Europa. Kulturgeschichte des Ersten Weltkriegs, Berlin 2013.

[2] Martin Baumeister: Kriegstheater. Großstadt, Front und Massenkultur 1914-1918, Essen 2005.

Edith Raim