Rezension über:

Ian Wood: The Modern Origins of the Early Middle Ages, Oxford: Oxford University Press 2013, XIII + 374 S., ISBN 978-0-19-965048-4, GBP 65,00
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Rezension von:
Hans-Werner Goetz
Historisches Seminar, Universität Hamburg
Redaktionelle Betreuung:
Andreas Fischer
Empfohlene Zitierweise:
Hans-Werner Goetz: Rezension von: Ian Wood: The Modern Origins of the Early Middle Ages, Oxford: Oxford University Press 2013, in: sehepunkte 14 (2014), Nr. 3 [15.03.2014], URL: https://www.sehepunkte.de
/2014/03/24104.html


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Ian Wood: The Modern Origins of the Early Middle Ages

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Zum Leidwesen der Geschichtswissenschaft ist die Geschichte weit mehr von späteren Geschichtsbildern als von den Ereignissen und Strukturen bestimmt. Ihnen wird daher zunehmend Beachtung geschenkt. Forschungen zum "medievalism" gehen allerdings nahezu ausschließlich den allgemeinen, verbreiteten Mittelalterbildern nach, während die neuzeitliche Wissenschaft hier meist vernachlässigt und nur in wissenschaftlichen Studien in Form des allenfalls im 19. Jahrhundert einsetzenden Forschungsstandes berücksichtigt, nicht aber nach deren Mittelalterbild befragt wird. Daher ist es außerordentlich verdienstvoll, wenn der bekannte englische Frühmittelalterhistoriker Ian Wood, Experte vor allem für Mission, Hagiographie und Transformation der Antike in den frühmittelalterlichen Reichen, sich dieser Aufgabe mit einer begrenzten, aber zentralen Thematik annimmt und den "modernen Ursprüngen des Frühmittelalters" nachgeht, indem er die Wahrnehmung und Deutung des beginnenden Mittelalters und hier speziell die Sicht der Germanen und des Frankenreichs in einem breiten Spektrum der behandelten Autoren vom späten 17. bis zum Ende des 20. Jahrhunderts analysiert. Nach der ausgezeichneten Dissertation von Agnes Graceffa [1] ist das bereits die zweite Arbeit, die gerade dieses Thema fokussiert. Während es Graceffa dabei hauptsächlich um einen Vergleich der jüngeren Forschung in Frankreich und Deutschland geht, zieht Wood seinen Gegenstand zeitlich wie auch regional weiter, wobei der Schwerpunkt auf West- und Mitteleuropa sowie Italien liegt.

Den reichhaltigen Inhalten gerecht zu werden, ist in einer kurzen Rezension unmöglich. In einem ersten Kapitel grenzt Wood den Problemkreis der Epoche zwischen 300 und 700 ab (Fall Roms - Völkerwanderung - Errichtung der Barbarenreiche - Christianisierung) und verdeutlicht die vielfachen Wandlungen dieses Zeitraums, denen gegenüber jedes spätere Geschichtsbild zwangsläufig eine "Verarmung" darstellen muss, und er beschreibt die frühneuzeitliche Rezeption seit den Magdeburger Centuriatoren. Die restlichen 15 Kapitel analysieren detailliert neuzeitliche Positionen. Wood geht dabei zwar prinzipiell chronologisch vor, doch gelingt es ihm, die Sachverhalte gleichzeitig nach bestimmten Perspektiven und gelegentlich auch nach bestimmten Forschungsregionen zu bündeln. Dadurch können Autoren zwar mehrmals in verschiedenen Kapiteln behandelt werden, wird der jeweils für sich beschriebene Einzelfall aber blendend in die Gesamtsituation eingeordnet, zumal Wood immer wieder Vergleiche zwischen den behandelten Autoren zieht oder uns über deren Vernetzungen informiert.

Das ganze Spektrum kann hier nur exemplarisch angedeutet werden. Wood beginnt den Überblick im frühen 18. Jahrhundert mit Boulainvilliers, dessen Bild der Franken dem Adelsdenken seiner Zeit und dem Wunsch nach Restauration entspricht, und stellt dieser "germanistischen" Position die "romanistische" bei Du Bos gegenüber, eine bis in die Gegenwart modellhaft nachwirkende Polarisierung. Dieser auf Franken und Frankenreich abzielenden Sicht folgt im dritten Kapitel ein Überblick über die auf die germanische Verfassung fokussierten Perspektiven (germanische Freiheit und Demokratie bei Montesquieu, Mallet und Mably). Im vierten Kapitel über den Fall Roms geht es zentral um Gibbon, der aber in seine Vorbilder und zeitgleichen aufklärerischen Positionen eingeordnet wird, die mit der Französischen Revolution bald veralten sollten. Kapitel 5 ("Empire and Aftermath") zeigt unter anderem auf, wie auch Politiker (Montlosier, Napoleon, Madame de Staël) die Werke zur Kenntnis nahmen. Die Folgezeit stand unter dem Einfluss der Nationen-, Klassen- und vor allem Rassenlehre (Kapitel 6: Guizot und Thierry, Michelet und Gobineau) und ist Positionen einer "Germanisierung der Welt" gewidmet.

Weitere Kapitel beleuchten die Deutung der Langobarden im italienischen Risorgimento des 19. Jahrhunderts, Perspektiven zum Einfluss des Christentums ("Heirs of the Martyrs", mit Alternativen zur säkularen ebenso wie zu Gibbons religiöser Deutung und nationale Interpretationen von der Sprache und vom Recht her (MGH, Grimm)). Unter der vielsagenden Überschrift "Romans, Barbarians, and Prussians" kommt nicht nur der Preuße Theodor Mommsen, sondern auch Fustel de Coulanges zu Wort, der sowohl den großen Invasionen wie der germanischen Freiheit mit Volksversammlungen und Wahlkönigtum widersprach, weil die Quellen dafür keinerlei Anzeichen bieten, und sich für eine Kontinuität aussprach: Chlodwig war sowohl römischer General wie fränkischer König. Gleichzeitig verkündete Felix Dahn in seinen historischen Romanen eine germanische Überlegenheit. Kapitel 11 ("Teutons, Romans, and 'Scientific History'") geht den Einflüssen des Krieges von 1870/71 und den 'wissenschaftlichen' Rasselehren (Freeman, Bury), Kapitel 12 ("About Belgium") den Einflüssen des Ersten Weltkriegs nicht zuletzt auf Henri Pirenne nach, während in Österreich Alfons Dopsch die herrschenden Lehren zugunsten einer römischen Kontinuität auflöste und Marc Bloch diese Periode beiden gegenüber wiederum als eine Zeit der Unordnung wertete.

Die Zwischenkriegsperiode (Kapitel 13: "Past Settlements") brachte gerade in Deutschland wieder germanisch-völkische Positionen über die Herkunft (Gustav Kossinna), Rechte (Karl August Eckhard), Sprache und Siedlung (Steinbach und Petri) der Germanen hervor, die leicht von der NS-Ideologie aufgegriffen, ja sogar als Legitimation der Annexion Belgiens missbraucht werden konnten. Nicht minder zeitgebunden, hielt dem Ferdinand Lot in Frankreich die Übernahme römischer Kultur durch die einbrechenden Barbaren entgegen. Vor allem in England (Christopher Dawson) und in Frankreich (Godefroid Kurth, Henri-Irénée Marrou) wurde der Akzent jetzt wieder stärker auf die Christianisierung gelegt und damit, etwa in Dawsons Vision eines christlichen Europa, der Boden auch für die Nachkriegszeit bereitet. Ebenso zeitgemäß wie weiter wirkend war Marrous Perspektive eines - durch die Barbaren bewirkten - kulturellen Niedergangs.

Während Hector Monro Chadwick sich gegen einen Missbrauch der Vergangenheit durch den Nationalismus wandte, André Piganiol den Akzent aus der Zeiterfahrung heraus auf die Zerstörungswut der Germanen legte, Pierre Courcelle seine Geschichte der großen Invasionen zu einer Katastrophengeschichte ausgestaltete, in Deutschland Reinhard Wenskus sein (allerdings erst später maßgeblich werdendes) kulturelles Ethnogenesemodell entwickelte (und damit allen Volkstumstheorien den Boden entzog) und in England Michael Wallace-Hadrill den Zerstörungen den Wiederaufbau entgegen hielt, brachte die Nachkriegszeit vor allem die "Emergence of Late Antiquity" als einer eigenen Epoche zwischen Antike und Mittelalter (Peter Brown) hervor (Kapitel 15). Das abschließende Kapitel ("Presenting a New Europe") reicht bis an die Gegenwart heran, die, mit einem Begriff von Guy Halsall, von den beiden gegensätzlichen Positionen der "Movers and Shakers" geprägt ist: die einen sprechen den Barbareninvasionen, die anderen inneren Wandlungen im Imperium die größte Wirkung zu. Eine (so allerdings kaum berechtigte) kontroverse Diskussion haben auch die Forschungen der "Wiener Schule" (Wolfram, Pohl) um Ethnizität und Ethnogenese inzwischen in Amerika ausgelöst. Den europäischen Kontext betont schließlich das Großprojekt "The Transformation of the Roman World", das die Kontroverse um Bruch oder Kontinuität in einem in längeren Umwandlungen entstehenden Europa auflöst, während der Erfolg der Ausstellungen zum frühen Mittelalter ("Exhibiting the Past") ein allgemeineres Interesse an dieser Epoche bekundet.

Eine Bilanz zieht Wood am Ende seines großartigen Werks nicht. Sie verbietet sich fast angesichts der wechselnden Thesen. Insgesamt erschließt sich uns mit diesem Buch vielmehr die ganze Vielfalt individueller Positionen, ihrer Hintergründe und Zusammenhänge. Das Ergebnis ist gewissermaßen eine neue Gattung zwischen Forschungsbericht und Mittelalterbildforschung: ein glänzender Bericht über mehr als drei Jahrhunderte, aus ihrer Zeit und von ihren Autoren her erläuterten Forschungspositionen zum Beginn des Mittelalters. Dabei misst Wood ältere Ansichten nirgends am heutigen Wissen und rümpft auch nicht die Nase über längst überholte Deutungen (und wir Heutigen dürften froh sein, wenn unsere Ansichten später einmal ebenso sachlich diskutiert werden). Vielmehr sucht er sie gerade aus ihrer Zeitgebundenheit und aus den biographischen Gegebenheiten zu erschließen. Sehr deutlich wird Ersteres beispielsweise an den Deutungen, die sich an den Ersten wie dann auch an den Zweiten Weltkrieg anschließen. Pirennes "Mohammed und Karl der Große" wird so gleichsam zu einem Produkt der Kriegserfahrungen. Natürlich entspringt die jeweilige Beurteilung des Frühmittelalters den politischen Anschauungen des Autors, ohne doch darin aufzugehen (wie bei Heinrich Dannenbauer, der sich als Nationalsozialist gegen die allzu schematischen Germanendeutungen seiner Partei wandte). Der 'Forschungsbericht' wird damit auch zu einem politischen Buch, dessen Stärke im Aufzeigen nicht nur der Positionen, sondern vor allem auch deren (internationalen) Verflechtungen liegt. 'Romanisch' oder 'germanisch', Kontinuität oder Bruch waren, trotz aller Nationalismen, keineswegs nur Produkte nationaler Gegensätze. Treffend schließt Wood seinen breiten Überblick mit einer Warnung vor der Hybris des (heutigen) Wissenschaftlers, der nicht minder im Denken seiner Zeit verhaftet ist.

Wood hat mit diesem Werk eine höchst kompetent und sachlich verfasste, ebenso belesene wie lesenswerte Studie vorgelegt, die durchweg interessante Einblicke gestattet. Das Buch hat, wie Wood eingangs verrät, seinerseits einen aktuellen Anlass in der Bedrohung der Mediävistik als eines in der heutigen Gesellschaft überflüssigen Orchideenfachs. Es zeigt der Gegenwart damit neben und mit den zahlreichen referierten Positionen auch auf, welchen enormen Stellenwert man der Frage des Mittelalters und seiner Ursprünge in allen neuzeitlichen Jahrhunderten beigemessen hat.


Anmerkung:

[1] Agnes Graceffa: Les historiens et la question franque. Le peuplement franc et les Mérovingiens dans l'historiographie française et allemande des XIXe-XXe siècles (Collection Haut Moyen Âge; 8), Turnhout 2009.

Hans-Werner Goetz