Rezension über:

Gian Enrico Rusconi: Cavour und Bismarck. Zwei Staatsmänner im Spannungsfeld von Liberalismus und Cäsarismus, München: Oldenbourg 2013, 176 S., ISBN 978-3-486-71533-0, EUR 29,80
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Rezension von:
Manfred Hanisch
Historisches Seminar, Christian-Albrechts-Universität zu Kiel
Redaktionelle Betreuung:
Nils Freytag
Empfohlene Zitierweise:
Manfred Hanisch: Rezension von: Gian Enrico Rusconi: Cavour und Bismarck. Zwei Staatsmänner im Spannungsfeld von Liberalismus und Cäsarismus, München: Oldenbourg 2013, in: sehepunkte 13 (2013), Nr. 7/8 [15.07.2013], URL: https://www.sehepunkte.de
/2013/07/22086.html


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Gian Enrico Rusconi: Cavour und Bismarck

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Die Gründung des Deutschen Reiches und des italienischen Nationalstaates fallen in die gleiche Zeit und hängen auf vielfältige Weise zusammen. Wie sie zusammenhängen, ist allerdings weniger bekannt. Der Politikwissenschaftler Enrico Rusconi, ehemaliger Direktor des Italienisch-Deutschen Historischen Instituts in Trient, will dem abhelfen. Er vergleicht die führenden Staatsmänner Cavour und Bismarck und zentriert sein Buch um diesen Vergleich. Grundlage des Vergleiches: Beide hatten einen prägenden Einfluss auf die Gründung ihres Nationalstaates. Die Differenz: Von naturell und politischer Verortung waren sie sehr verschieden. Hier der konservative Bismarck, der sich bei seiner Einigungspolitik vor allem auf das preußische Heer stützte und oft genug gegen die liberale öffentliche Meinung und das preußische Abgeordnetenhaus regierte und dort der liberale Cavour, der seine Politik der nationalen Einigung mit parlamentarischen Mehrheiten absicherte, militärisch sich an Frankreich anlehnte (oder Frankreich instrumentalisierte) und es obendrein verstand, die revolutionären Erfolge Garibaldis für eine Vergrößerung des Königreichs Italiens zu nutzen, die von allen Beteiligten so nicht vorhergesehen war. Doch pauschale Zuordnungen sind zu einfach. Rusconis Urteil über die beiden so unterschiedlichen Staatsmänner ist nuancenreich.

Um die Nuancen im Einzelnen zu bestimmen, geht er von der Ausgangslage aus. Sie ist für beide Staatsmänner zwar ähnlich und gekennzeichnet durch das "Spannungsfeld von Liberalismus und Cäsarismus". So steht es schon im Untertitel. Allerdings wird damit das Spannungsfeld nicht vollständig beschrieben. Zum Spannungsfeld gehört jedoch auch das Politikmodell des Bonapartismus, von dem sich nicht nur Napoleon III. Erfolg und Machtzuwachs für Herrschaft und Nation versprach. Und nicht zuletzt auch die Zwänge der Realpolitik, die für programmatische oder ideelle Begründungen von Politik immer nur wenig Raum lassen. In Auseinandersetzung mit diesen vier historisch-politischen Grundproblemen und Kernkategorien der Zeit um die Mitte des 19. Jahrhunderts entwickelt Rusconi seine vergleichende Analyse von Bismarck und Cavour und kommt u. a. zu dem Ergebnis, dass man auch Cavour, der doch Vorbild für so viele Liberale in Deutschland war, differenzierter sehen muss. Er war eben nicht nur Liberaler, betrieb eben auch "Realpolitik" und seine Politik trug durchaus auch cäsaristische Züge. Wegen dieser nicht üblichen Nuancierung Cavours gibt es folgerichtig auch ein Kapitel mit der Überschrift "Die Neubewertung Cavours im Vergleich zu Bismarck", die in Teilen gar nicht so neu ist. Zeitgenossen, Historiker und Publizisten des 19. Jahrhunderts, haben das auch schon gesehen.

Jedoch langen die vier Kategorien nicht aus, um beide Personen hinreichend zu beschreiben. Sowohl Bismarck als auch Cavour entwickelten jeweils ein ganz genuin eigenen Politikstil, eben den "Bismarckismus und Cavourismus". Mit diesen Worten betitelt Rusconi sein Schlusskapitel, in dem er "Eine Bilanz" zieht. Allerdings hat ein "Ismus", der sich nicht auf eine Bewegung und nur auf eine einzige Person bezieht, immer wenig Erklärungskraft, es sei denn, Rusconi will nur ausdrücken, dass sich Bismarck und Cavour nicht kategorisieren lassen.

Das Buch ist jedoch nicht nur ein Vergleich zwischen Bismarck und Cavour. Die Einführung ist ein vorzüglicher Problemaufriss über die Lage und Bedingungen der Nationalstaatsbildung in Italien und Deutschland mitsamt so mancher Folge bis in die Gegenwart. Z. B. steht die neue Bundesrepublik trotz aller Brüche immer noch in der historischen Tradition der deutschen Einigung von 1871. Und das schon von Cavour nicht gelöste Problem der Integration des Südens Italiens ist immer noch nicht gelöst. Der Einführung folgen zwei umfangreiche Kapitel, in denen die Einigungspolitik in Italien und Deutschland behandelt werden unter besonderer Berücksichtigung der Vergleichspunkte und wechselseitigen Bezüge beider Nationalstaatsgründungen.

Ein Vergleichspunkt ergibt sich allein schon daraus, dass ein Gegner der italienischen und preußisch-deutschen Nationalstaatsgründung derselbe war: Österreich. Und darüber hinaus war für beide das Frankreich Napoleons III. eine Größe, mit der die sich auseinandersetzen mussten. Der eine, Cavour, musste sich arrangieren und dabei italienische Gebiete (Nizza, Savoyen) an Frankreich abtreten, der andere, Bismarck, zum Schluss einen Krieg führen, um die nationalstaatliche Einigung zu bewerkstelligen. Und so beschäftigt sich Rusconi sehr eingehend mit den sich daraus ergebenden Bezügen.

Wie schon bei der Neubewertung Cavours und Bismarcks gibt er hierzu Wahrnehmungen und Ansichten vieler zeitgenössischer deutscher und italienischer Diplomaten und Publizisten wieder. Die Referenz auf zeitgenössische Stimmen macht einen wesentlichen Bestandteil des Buches aus. Dabei geht Rusconi insbesondere der Frage nach, inwieweit die voraus gegangene italienische Einigung Vorbildfunktionen für Deutschland hatte.

All dies wird auf - nur - ca. 150 Textseiten abgehandelt. Eine Forschungsarbeit ist das Buch weniger. Vieles ist aus der nicht überbordend zitierten Sekundärliteratur geschöpft. Vom Charakter her ist das Buch eher eine Mischung von einer Darstellung der Nationalstaatsgründungen und einem langen Essay, in dem Bismarck und Cavour, die deutsche und die italienische Einigung immer problematisierend verglichen werden und dies häufig - vielleicht allzu häufig - im Spiegel zeitgenössischer Publizisten und Historiker. Viele Überlegungen Rusconis sind damit nicht neu, jedoch sind sie nicht mehr im Diskurs der Gegenwart. Schon einmal gemachte Nuancierungen wieder ins Bewusstsein zu rufen: Genau darin liegt der Wert des Buches.

Eine typische "Im-Spiegel"-Abhandlung ist das Buch jedoch nicht. Denn die vollständige zeitgenössische Diskussion wird nicht wiedergegeben. Geht auch nicht auf 150 Seiten. Zeitgenossen kommen zu Wort nur als Stütze der Aussagen Rusconis und fungieren gleichzeitig als Beleg für die Richtigkeit der Thesen - eine nicht ganz unproblematische Vorgehensweise. Schon im 19. Jahrhundert gibt es viele Meinungen - und welche ist dann die richtige?

Das Buch ist schon vom Titel auf Personen fokussiert. Der Inhalt ist eine Geschichte von differenziert gesehenen großen Männern, die große Geschichte machen. Und weil Rusconi Bismarck und Cavour sehr differenziert sieht, verbindet er mit seinem Buch explizit auch den Anspruch, Geschichtslegenden entgegenzuwirken, und löst ihn auch ein. Gesellschaftliche, wirtschaftliche, soziale Strukturen werden allenfalls am Rande thematisiert - dies nur als Feststellung, ohne einen wertenden Bezug zu kontrovers diskutierten Grundpositionen in der internationalen Geschichtswissenschaft.

Die Mischung aus Darstellung der Nationalstaatgründungen und langem Essay über Bismarck und Cavour liest sich auch in der Übersetzung gut und regt ungemein zum Nachdenken über die vielen und miteinander verschränkten Grundprobleme der damaligen Zeit an. Das Buch zielt auf ein breites italienisches und deutsches Publikum, dem die eigene, aber viel mehr die jeweils andere Geschichte der Nationalstaatsgründung mit seinen in Teilen bis in die Gegenwart reichenden Problematiken näher gebracht wird. Darin liegt das größte Verdienst des Buches. Denn nicht nur für das breite Publikum, sondern auch für viele vom Fach gilt leider gleichermaßen: Selbst Angelpunkte der Geschichte des anderen, nicht nur geographisch so nahen Staates sind wenig bekannt. Das Buch richtet sich auf eine breite Leserschaft und eine solche ist ihm auch zu wünschen.

Manfred Hanisch