Rezension über:

Otto von Bismarck: Schriften 1882-1883. Bearbeitet von Ulrich Lappenküper (= Otto von Bismarck. Gesammelte Werke. Neue Friedrichsruher Ausgabe. Abt. III: 1871-1898. Schriften; Bd. 5), Paderborn: Ferdinand Schöningh 2010, CV + 678 S., ISBN 978-3-506-76848-3, EUR 78,00
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Rezension von:
Hartwin Spenkuch
Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften, Berlin
Redaktionelle Betreuung:
Nils Freytag
Empfohlene Zitierweise:
Hartwin Spenkuch: Rezension von: Otto von Bismarck: Schriften 1882-1883. Bearbeitet von Ulrich Lappenküper, Paderborn: Ferdinand Schöningh 2010, in: sehepunkte 10 (2010), Nr. 5 [15.05.2010], URL: https://www.sehepunkte.de
/2010/05/16178.html


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Otto von Bismarck: Schriften 1882-1883

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Den fünften Band der Neuausgabe der Werke Otto von Bismarcks verantwortet der neue Geschäftsführer der Friedrichsruher Bismarck-Stiftung, Ulrich Lappenküper. Von laut Einleitung über 1900 ermittelten Dokumenten werden 488 (davon 287 erstmals) abgedruckt; die Kriterien der Auswahl bleiben weiterhin geheim. Im Band steht erneut die Außenpolitik im Zentrum, erneut wurden die lobenswerten Neufunde vor allem im Politischen Archiv des Auswärtigen Amtes - ganz überwiegend Schreiben an Diplomaten - und im Bundesarchiv Berlin - dort primär in Reichskanzlei und Reichsamt des Innern - gemacht. Ob die Bestände des Geheimen Staatsarchivs Preußischer Kulturbesitz wirklich flächendeckend durchkämmt wurden, vermag der Rezensent nicht zu entscheiden, jedoch sind Bismarck-Dokumente aus mehreren Nachlässen in Berlin-Dahlem ediert. Für Nutzer und künftige Bismarck-Forscher sehr hilfreich wäre jedenfalls eine bisher fehlende Liste der archivalischen Fundorte, spezifiziert nach Aktennummern. Bei gutem Willen lässt sich dieses Aktenverzeichnis beispielsweise zum Abschluss der III. Abteilung oder jederzeit per online-Bereitstellung auf der Stiftungs-Homepage nachholen, wie überhaupt für die Nutzung im google-Zeitalter eine online-Ausgabe höchst ratsam ist. Druckraum geradezu verschwendet wird umgekehrt durch Wiederholung der - oft zu umständlich formulierten - Regesten-Texte auf fast siebzig Seiten eingangs der Bände; hier reichte ein Dokumentenverzeichnis in Listenform vollkommen aus.

Der Inhalt der Dokumente ist weitgespannt und dankenswerterweise hat Lappenküper in einer - wie bisher lieblos "Zu diesem Band" überschriebenen - zwanzigseitigen Einleitung klare Schneisen durch die Quellenstücke zur Innen- und Außenpolitik geschlagen. Der Zweibund bildete das außenpolitische Rückgrat, denn Russland erschien zuweilen unberechenbar; das Drei-Kaiser-Bündnis diente einerseits als Mittel zur Isolierung Frankreichs, andererseits, um den Frieden zwischen Zaren- und Habsburger-Reich zu erhalten; ein dauerndes Einvernehmen mit England erschien dem Kanzler unmöglich unter seinem liberalen Antipoden Gladstone. Ein Bericht Bismarcks an Wilhelm I. Ende 1883 (594-597) legt die lange bekannten Grundgedanken seiner Außenpolitik am klarsten dar. Auch Spanien, die Balkanstaaten und die Kolonialpolitik kommen vor. Hier erschreckt nach einem gewaltsamen Zwischenfall Bismarcks Forderung, die "Wilden" der südseeischen Hermit-Inseln seien "niederzuschießen und ihre Dörfer, Vorräthe, Waffen etc. zu vernichten", was zehn Jahre mittels nächtlicher Überfälle wiederholt werden müsse (470). Die "thierquälerischen Experimente" bei wissenschaftlichen Vivisektionen erschienen dem Gutsbesitzer und Landmenschen hingegen als "Akt der Grausamkeit" (361 f.) und der Ladenschluss sonntags ab 13 Uhr als untunlich (334). In der Innenpolitik ging es nach wie vor um eine Milderung des Kulturkampfes, die Bismarck mit dem Ziel eines "gedeihlichen modus vivendi" (47) betrieb, obgleich er die "antideutschen Elemente, Papst, Welfen, Slaven usw." seit 1000 Jahren gegen Kaisertum und preußische Monarchie ankämpfen sah (309). Gegner des evangelischen Königtums waren für Bismarck auch der Linksliberalismus, der mit dem Antrag auf geheime Stimmabgabe "in der verderblichsten Weise die sittlichen Grundlagen des Volkes" untergrabe (619) sowie der katholische Ultramontanismus unter dem "Welfenführer Windthorst" (314, 649); in parlamentarischer Allianz verhinderten sie u.a. die Bismarcksche Steuerreform in Richtung vermehrter indirekter Steuern (141 u.ö.). Während Bismarck außenpolitisch formulierte, es sei ein Irrtum, in der Politik nicht wenden zu dürfen, nur so komme man aus Sackgassen heraus (127), hat er diese Maxime innenpolitisch nicht mehr beherzigt. Auf viele weitere Themen im Band - Sozialpolitik und Schutzzoll, Reglementierung von Versicherungen und Pressepolitik - kann im Rahmen dieser Rezension nicht näher eingegangen werden.

In seiner Einleitung übernimmt Lappenküper punktuell jedenfalls terminologisch etwas zu unkritisch Bismarcksche Sichtweisen. Mehrfache monatelange Abwesenheit aus Berlin dürfte kaum primär durch "Strapazen der Arbeitsüberlastung" (XII), wohl aber durch großenteils politisch motivierte Krankheit und als Demonstration von Unentbehrlichkeit zu erklären sein; die "inneren Gefahrenpotenziale des Reiches" (XIX) sind doch wesentlich die spezifischen Feindbilder des Kanzlers wie Parlamentarismus und regierungskritische Parteien, im Grunde Preußen-Gegner aller Schattierungen mit anderen Gesellschaftsvorstellungen; dass Bismarck "das Staatsschiff weiterhin ohne Beschädigung durch die immer zahlreicheren Untiefen zu navigieren" hatte (XXXIII), ist eine Sichtweise ganz im Sinne der Eigenwahrnehmung bzw. Selbststilisierung des machtgewohnten Lenkers Bismarck. Da eine Werkausgabe per se nur ihren Heroen zu Wort kommen lässt, müsste doch der Historiker die Einordnung in den politisch-sozialen Kontext umso deutlicher leisten.

Die große Arbeitsleistung und außenpolitische Sachkunde des Bearbeiters sind hervorzuheben und die Solidität der Edition inklusive der editionstechnischen Vorgehensweise ist schlechthin unbezweifelbar. Drei Details seien angemerkt. Da die um 1880 gebräuchliche, aber eben noch keineswegs per Duden und (durch Bismarcks Veto verzögerte) staatliche Vorgaben normierte Orthographie der Quellen übernommen wird, wirkt das x-fache [!] beispielsweise bei der Schreibweise HöchstDero deplatziert. Für den eiligen Leser verwirrend erscheint die Verfahrensweise der Erläuterung von Personennamen mit Stand von 1882/83, so dass z.B. (145) von "Prinzess Wilhelm" und "Sohn Friedrich Wilhelm" die Rede ist, aber die nachmalige Kaiserin Auguste Viktoria und der letzte preußisch-deutsche Kronprinz Wilhelm gemeint sind. Im Personenregister wird Adalbert Kraetzig fälschlich als adelig und der Abgeordnete Stern anachronistisch als "freidemokratischer" Politiker registriert.

Schlicht unsinnig bleiben zwei editorische Grundentscheidungen, die wohl in die Verantwortung des Herausgeber-Gremiums fallen, und in fast allen Besprechungen seit dem ersten Band zu Recht moniert wurden. [1] Denn nach wie vor ist kein Sachregister beigegeben und wird keine Spezial- bzw. Forschungsliteratur angemerkt. Da Lappenküper die relevante Forschungsliteratur zweifellos kennt, der eilige Leser aber vielleicht nicht, wäre deren Anmerkung jedenfalls im Einleitungstext ganz am Platze. Das puristische Konzept, dem bloß zwei Historiker (Gerhard Ritter und Lothar Gall) erwähnenswert erscheinen, lässt die Nutzer nicht am Bearbeiter-Wissen teilhaben. In den Textanmerkungen wird nur die - ihrerseits breit kommentierende - "Quellensammlung zur Geschichte der deutschen Sozialpolitik" mehrfach zitiert. Die Fundamentalkritik von Allan Mitchell [2], dass die unkommentierte chronologische Abfolge jede inhaltliche Verbindung vermissen lasse, wird durch deutlich häufigere Verweise auf die jeweils vorangegangenen Stücke zu einem Thema zwar leicht gemildert, aber ihr nicht wirklich abgeholfen. Erfreulicherweise haben wenigstens die Sacherläuterungen zu Überlieferungsformen, Gesetzen oder altertümlichen Begriffen zugenommen. Ob die ständige Wiederholung dieser Kritikpunkte, als mangelnde Benutzerfreundlichkeit kürzlich auch von Rainer Blasius in der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" moniert, irgendwann noch das durchgängig im Pensionsalter stehende Herausgeber-Gremium überzeugen kann? Auf das bekannte Goethe-Zitat "Schlagt ihn tot, den Hund! Er ist ein Rezensent!" wird man sich in den Leitungsgremien der aus öffentlichen Mitteln finanzierten Bismarck-Stiftung schon im wohlverstandenen Eigeninteresse nicht zurückziehen wollen.


Anmerkungen:

[1] Vgl. online die Rezensionen von Ewald Grothe zu den Schriften Bd. 1, in: sehepunkte 4 (2004), Nr. 12 [15.12.2004], URL: http://www.sehepunkte.de/2004/12/6123.html, von Manfred Hanisch zu den Schriften Bd. 2, in: sehepunkte 5 (2005), Nr. 7/8 [15.7.2005], URL: http://www.sehepunkte.de/2005/07/7784.html sowie von Nils Freytag zu den Schriften Bde. 3-4, in: sehepunkte 9 (2009), Nr. 4 [15.4.2009], URL: http://www.sehepunkte.de/2009/04/14667.html ; vgl. ferner Matthias Stickler, Rezension von Schriften Bd. 1, in: HZ 281 (2005), 209 f. sowie Werner Augustinovic in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung, Germanistische Abteilung, Bd. 128 (2011), online unter http://www.koeblergerhard.de/ZRG128internetrezensionen2011

[2] Allan Mitchell, Rezension von Schriften Bd. 1, in: Francia 33/3 (2006), 231 f.

Hartwin Spenkuch