Rezension über:

Niels Grüne: Dorfgesellschaft - Konflikterfahrung - Partizipationskultur. Sozialer Wandel und politische Kommunikation in Landgemeinden der badischen Rheinpfalz (1720-1850) (= Quellen und Forschungen zur Agrargeschichte; Bd. 53), Stuttgart: Lucius & Lucius 2011, XII + 532 S., ISBN 978-3-8282-0505-5, EUR 68,00
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Rezension von:
Gunter Mahlerwein
Saarbrücken / Mainz
Redaktionelle Betreuung:
Peter Helmberger
Empfohlene Zitierweise:
Gunter Mahlerwein: Rezension von: Niels Grüne: Dorfgesellschaft - Konflikterfahrung - Partizipationskultur. Sozialer Wandel und politische Kommunikation in Landgemeinden der badischen Rheinpfalz (1720-1850), Stuttgart: Lucius & Lucius 2011, in: sehepunkte 12 (2012), Nr. 12 [15.12.2012], URL: https://www.sehepunkte.de
/2012/12/21067.html


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Niels Grüne: Dorfgesellschaft - Konflikterfahrung - Partizipationskultur

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Mit seiner Studie, einer Bielefelder Dissertation, reiht sich Niels Grüne ein in die seit etwa zwei Jahrzehnten steigende Zahl von Untersuchungen ländlicher Gesellschaften auf regionaler und lokaler Ebene, die über die Grenze zwischen früher und "später" Neuzeit hinweg angelegt sind. Wie in den meisten dieser Arbeiten gilt das Interesse auch hier den langfristigen sozialen, ökonomischen und politischen Folgen des im frühen 18. Jahrhunderts beginnenden Bevölkerungszuwachses. Der etwas spröde Buchtitel Dorfgesellschaft - Konflikterfahrung - Partizipationskultur benennt die drei Hauptkapitel des Buches. Ihnen vorweg stehen eine ausführliche erläuternde Einleitung, die Fragestellung, Forschungsstand und theoretisch-konzeptionelle Herangehensweise erläutert sowie eine ebenfalls detaillierte Beschreibung der natürlichen und institutionellen Rahmenbedingungen. Im Kern geht es Grüne um die Verschränkungen zwischen den sozialen und ökonomischen Veränderungen, den Konflikten innerhalb der Gemeinden und zwischen Gemeinden und Obrigkeit und den Formen politischer Partizipation und Kommunikation.

Im Kapitel "Dorfgesellschaft" beschreibt er ausführlich die demografische Entwicklung, die Verschiebungen in der sozialen Schichtung und den regionalen Verlauf der Agrarmodernisierung. Die an 20 Untersuchungsgemeinden nachgewiesene Vervierfachung der Bevölkerungszahlen der ländlichen Gesellschaft des nordbadischen Raums zwischen 1727 und 1845 führte trotz des Fehlens gewerblicher Auskommensalternativen nicht zu einer tiefgreifenden Versorgungskrise. Vielmehr ist eine zwar im prozentualen Anteil sinkende, aber aufgrund von Heiratsstrategien trotz Realerbteilung insgesamt stabile vollbäuerliche Schicht zu erkennen, die einer ebenso stabilen Kleinbauern- und einer "Kuhbauernschicht" (mit weniger als fünf Morgen Landbesitz) entgegen stand. Detailliert zeigt Grüne, wie unter Einbeziehung von Pachtflächen und Allmendland diese unterhalb des vollbäuerlichen Niveaus angesiedelten Gruppen zumindest eine in Ansätzen agrarische Existenz verwirklichen konnten. Zwei sich in dieser Region ergänzende Teilprozesse der Agrarmodernisierung lagen der Konsolidierung der sozioökonomischen Ordnung zugrunde. Die im Vergleich zur Getreideproduktion durchschnittlich höheren Gewinne machten den nach dem Dreißigjährigen Krieg durch französische Flüchtlinge eingeführten Tabakanbau nicht nur für vollbäuerliche Betriebe attraktiv. Vielmehr profitierten auch gerade die Kleinbesitzer, nach 1800 sogar die Tagelöhner, von der auch auf kleinen Flächen realisierbaren Kultur, auf der sie eine "kommerzialisierte Subsistenzwirtschaft" (200) aufbauen konnten. Zweitens vollzog sich hier - wie auch schon an Rheinhessen und der Pfalz gezeigt wurde - der agrarische Intensivierungsprozess in Form von Aufteilung und Umbruch der Allmendflächen, Kleeanbau, Stallfütterung und Fruchtwechselwirtschaft, zwischen 1760 und 1800 in einem frappanten Tempo, so dass sich auch in dieser Region eine Verdoppelung bis Verdreifachung der Ernteerträge innerhalb weniger Jahrzehnte nachweisen lässt.

Grüne beobachtet in seiner Untersuchungsregion im 18. Jahrhundert sich intensivierende Auseinandersetzungen um die Nutzung der Allmendflächen. Wie auch schon in anderen Arbeiten zum deutschen Südwesten aufgezeigt, nahmen die zentralen Behörden in diesen Konflikten eher die Position der meist der unterbäuerlichen Schicht angehörenden Austeilungsbefürworter ein, während die Amtleute vor Ort mit der bäuerlichen Eigentümerschicht sympathisierten. Auf die Erfolge der Austeilungsbefürworter reagierten die Bauern mancherorts ebenfalls erfolgreich mit Forderungen nach einer veränderten Verteilung der Abgaben. Bedeuteten die innergemeindlichen Interessensdivergenzen ein Einfallstor für obrigkeitliche Regulierung und wurde in diesen Auseinandersetzungen ein auf innerem Konsens basierendes Grundmodell kommunaler Interessensvertretung aufgegeben, so führte die Konsolidierung der Mittelschicht und eines Teils der dörflichen Unterschicht mithilfe des Tabakbaus nach 1800 wieder zu einer Verschiebung der Konfliktlinien. Bei Streitthemen wie der Vergabe des Ortsbürgerrechts, der Nutzung der Gemeindewaldungen oder den Ablösungsmodalitäten feudaler Belastungen konnten die Gemeinden schichtenübergreifenden Konsens herstellen und so den in diesen Fragen andere Standpunkte vertretenden und nur selten kompromissbereiten staatlichen Stellen einigermaßen einheitlich gegenübertreten. Möglicherweise quellenbedingt fallen Darstellung und Analyse dieser zweiten Phase kommunaler Konflikterfahrungen aber im Vergleich zur Behandlung der Allmendauseinandersetzungen, deren lokal unterschiedlicher Verlauf detailliert beschrieben wird, deutlich knapper aus.

Mit der Absicht, die Verbindungen zwischen Konfession und "politischer Mobilisierung" (3) zu ermessen, analysiert Grüne im Kapitel "Partizipationskultur" "religiöse und politische Kommunikationspraktiken" (301). Für das 18. Jahrhundert kann er am Beispiel der Schultheißeneinsetzung zeigen, dass zwar im gemischt-konfessionellen Territorium von der katholischen Regierung in der Regel katholische Kandidaten eingesetzt wurden, aber - wie wiederum minutiös in zehn Detailuntersuchungen gezeigt - dorfgesellschaftliche Präferenzen für die Besetzung des wichtigsten Amtes außer von der Konfession auch von sozialen Zugehörigkeiten, etwa zur Vollbauern- oder unterbäuerlichen Schicht, oder von verwandtschaftlichen Beziehungen bestimmt wurden. Politische Überzeugungen - im Sinne von Zugehörigkeiten zu weltanschaulichen Lagern - spielten rechts des Rheins offensichtlich auch nach 1789 noch keine Rolle. Das änderte sich im 19. Jahrhundert. Erweiterte Partizipationsmöglichkeiten bei den Besetzungen kommunaler Ämter, die Wahlen der Wahlmänner für die zweite Kammer des Landtags, die häufig genutzte Möglichkeit des Petitionierens führte auch in den Dörfern zu Positionierungen, die als Aussage über politische Selbstzuschreibungen im Sinne der entstehenden liberalen und konservativen Parteiungen gedeutet werden können. Dabei ist überwiegend eine - gerade in den weniger polarisierten Tabakdörfern wohl auch auf der sozialen Stabilisierung basierende - gemäßigt-liberale Haltung zu erkennen, die zwar Ehrungen liberaler Vorkämpfer ermöglichte, aber in der Revolution 1848/49 in der Regel nicht radikalisiert wurde. Grüne bleibt aber diesen Zuschreibungen gegenüber skeptisch. Wenn es zu an überlokalen Programmen orientierten Politisierungen in den Gemeinden kam, so sind sie nach seiner Meinung schon in den 1830er und 1840er Jahren als "sekundäre Konfliktideologisierungen" (447) in der Auseinandersetzung um agrarische Interessen zwischen Gemeinden und Obrigkeit zu deuten. Dass sich die nordbadische ländliche Gesellschaft für liberale Ideale von Partizipation und Gemeindeautonomie offen zeigte, ist nach Grüne keineswegs als Anknüpfung an frühneuzeitliche Traditionen gemeindepolitischen Agierens zu verstehen, sondern erst durch die soziale Stabilisierung nach 1800 ermöglicht worden. Einer Kontinuitätsthese widerspricht er daher vehement.

Grüne gelingt es überzeugend, die Relationen zwischen sozioökonomischen Wandlungsprozessen, Konfliktkonstellationen und politischem Verhalten über anderthalb Jahrhunderte herzustellen. Er geht auf theoretisch und methodisch hohem Reflektionsniveau und auf sehr genauer Literaturkenntnis stets argumentativ vor. Auch die teilweise langen deskriptiven Passagen sind immer auf die zentrale Fragestellung nach den Interdependenzen zwischen sozialem Wandel, Konflikterfahrungen und Partizipationskulturen ausgerichtet, die in Zwischenresultaten und noch einmal "kondensiert" in einer Gesamtzusammenfassung in hoch konzentrierter Weise wiederholt auf "den Punkt" gebracht. Vor allem in diesen Passagen ergibt sich das Lesevergnügen weniger aus der guten Lesbarkeit des Textes als vielmehr aus dem mit der Lektürearbeit einhergehenden erheblichen Erkenntnisgewinn.

Gunter Mahlerwein