Rezension über:

Anka Muhlstein: Der Brand von Moskau. Napoleon in Rußland. Aus dem Französischen von Ulrich Kunzmann, Frankfurt/M. / Leipzig: Insel Verlag 2008, 323 S., 16 Abb., ISBN 978-3-458-17391-5, EUR 22,80
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Rezension von:
Sebastian Dörfler
München
Redaktionelle Betreuung:
Nils Freytag
Empfohlene Zitierweise:
Sebastian Dörfler: Rezension von: Anka Muhlstein: Der Brand von Moskau. Napoleon in Rußland. Aus dem Französischen von Ulrich Kunzmann, Frankfurt/M. / Leipzig: Insel Verlag 2008, in: sehepunkte 9 (2009), Nr. 4 [15.04.2009], URL: https://www.sehepunkte.de
/2009/04/14986.html


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Anka Muhlstein: Der Brand von Moskau

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Die französische Historikerin Anka Muhlstein bearbeitet mit Napoleons Russlandfeldzug ein Thema, dass bereits eine Flut von Veröffentlichungen provoziert hat. In ihrem Vorwort verweist sie denn auch auf den "zwei Jahrhunderte" währenden "Meinungsstreit" über diesen Krieg. Weiter geht die Autorin jedoch auf das komplexe historiographische Eigenleben des Feldzugs nicht ein. Sie verliert auch kein Wort über die von ihr herangezogenen Quellen, wobei es sich fast ausschließlich um die Memoiren von Feldzugteilnehmern handelt.

Die Vorgeschichte des Krieges fasst Muhlstein äußerst knapp zusammen. Napoleon habe Russland angegriffen, da es die Kontinentalsperre gegen England nicht länger mitgetragen habe. Über das französisch-russische Verhältnis vor 1812 erfährt der Leser ansonsten nicht viel. Zu Napoleons logistischen Vorbereitungen meint Muhlstein, "theoretisch war für alles gesorgt" (18). Napoleon habe versucht, den Feldzug sorgfältig zu planen, vor allem im Hinblick auf die Versorgung der Truppen. Dennoch habe es gravierende Missstände gegeben. Daneben liefert die Verfasserin eine Fülle von Details, so schildert sie etwa minutiös das Marschgepäck der Soldaten und Napoleons Reisewagen.

Napoleons strategische Absichten werden nicht weiter erläutert. Die russische Armeeführung wiederum war laut Muhlstein heillos zerstritten und habe weitgehend planlos agiert. Den - im Endeffekt richtigen - russischen Rückzug führt sie auf Angst vor Napoleon respektive auf schiere Notwendigkeit zurück: "Die Russen [...] sicherten ihren Triumph unabhängig von jedem bewussten Willen" (31). Der Zwang, die Russen zu verfolgen, sei für die Grande Armée fatal gewesen. Das Versorgungssystem sei auf Grund von schlechten Straßen- und Witterungsverhältnissen zusammengebrochen. Schlechte Ernährung, Desertion und Seuchen hätten die Truppenstärke gravierend verringert.

Intensiv befasst sich Muhlstein mit der Schlacht von Borodino. Die Autorin beschreibt die Stimmung der Soldaten vor dem Kampf und liefert Details über ihre Bewaffnung. Ausführlich schildert sie den Verlauf des Treffens und die Leiden der Verwundeten danach. Den Ausgang der Schlacht bewertet sie relativ eindeutig: Napoleon habe sich zwar den Weg nach Moskau erfochten, den Russen jedoch keine vernichtende Niederlage beibringen können. Daher sei die äußerst verlustreiche Schlacht für die Angreifer "vergeblich gewesen" (131).

Den Mittelpunkt des Werkes nimmt die Periode der französischen Besetzung Moskaus ein. Gestützt auf Augenzeugen beschreibt Muhlstein die Stadt selbst, ihre Zerstörung durch Feuer und Plünderung sowie die Versuche, sich nach dem Brand in den Überresten einzurichten. Die Verantwortung für das Feuer sieht die Autorin in erster Linie beim russischen Gouverneur Rostoptschin, allerdings hätten auch Unachtsamkeit der Besatzer und starker Wind zu der Katastrophe beigetragen. Napoleon selbst habe während des Aufenthalts in Moskau dem Zaren vergeblich Verhandlungsangebote gemacht. Der Kaiser habe nicht begriffen, "dass die Einnahme und Zerstörung Moskaus keinen bedeutsamen politischen Faktor darstellten, der zwangsläufig zu Verhandlungen führte". Die "wirtschaftliche und politische Macht Russlands" (233) sei dadurch nicht zu gefährden gewesen.

Aus Prestigegründen habe sich Napoleon lange geweigert, den unvermeidlichen Rückzug zu befehlen. Seine früher vorteilhafte Beharrlichkeit sei zu fataler Halsstarrigkeit geworden. Die Flucht in "Wunschträume" zeige freilich, dass der Kaiser zu einer "gewissen Menschlichkeit" (248) zurückgefunden habe. Auf den Rückzug der Grande Armée selbst geht Muhlstein nur knapp ein. Weniger die Kälte an sich als mangelnde logistische Vorbereitung habe zu großen Ausfällen geführt. Sie betont zudem die fatalen Folgen der Disziplinlosigkeit der Armee, die eine sinnvolle Nutzung vorhandener Ressourcen verhindert habe. Einen letzten Höhepunkt sieht die Verfasserin in dem Übergang über die Beresina, den Napoleon in scheinbar aussichtsloser Lage bewerkstelligt habe. Trotz hoher Verluste habe es sich um einen französischen Sieg gehandelt, da der "noch kampffähige Teil der Armee" entkommen sei. Muhlstein macht in diesem Ereignis einen entscheidenden Wendepunkt aus: Der während des Rückzugs apathische Kaiser habe seine alte Energie zurück gewonnen und sei wieder "zum Mann der Tat" (276) geworden.

Aus der Darstellung geht hervor, dass Muhlstein die französische Niederlage in erster Linie auf die logistischen Grenzen der Zeit zurückführt. Die riesige Invasionsstreitmacht sei mit den damaligen Mittel nicht vernünftig zu führen und Russland auf Grund seiner Größe nicht wirklich zu unterwerfen gewesen. Daneben weist sie Napoleon auch zahlreiche Fehleinschätzungen zu. Ihr Napoleonbild bleibt jedoch ambivalent, bei aller Kritik rühmt sie ihn als Idol seiner Soldaten: "der Anblick Napoleons erregte immer und unfehlbar Begeisterung" (94). Ganz kann sich die französische Historikerin der Faszination des "größten Kriegsherrn [...] vielleicht aller Zeiten" (8) offenbar nicht entziehen.

Muhlsteins Betonung logistischer Schwierigkeiten entspricht durchaus dem aktuellen Forschungsstand. Ein besonderes Verdienst besteht darin, dass sie die Probleme und Verluste der Invasoren auf dem Marsch nach Moskau schwerer gewichtet als die Kalamitäten des Rückzugs. Sie wendet sich dadurch entschieden gegen die Legende vom russischen Winter als Hauptgrund für Napoleons Niederlage. Eine entscheidende Stärke des Buches ist die Anschaulichkeit der Darstellung. Einer breiten Leserschaft bietet sich ein stimmungsvolles, äußerst detailreiches Bild vom Leben und Leiden der Feldzugteilnehmer. Dabei stehen jedoch die Angreifer eindeutig im Mittelpunkt, womit die Abhandlung leider der langen Tradition von Darstellungen des Russlandfeldzugs treu bleibt, die sich einseitig auf die französische Sicht konzentrieren. Bedauerlich ist die fehlende Quellenkritik. Sicherlich richtet sich das Buch in erster Linie an ein breites, nicht wissenschaftliches Publikum. Dennoch wären einige Bemerkungen über die Problematik von Erinnerungsliteratur als historischer Quelle wünschenswert gewesen.

Insgesamt gibt Muhlsteins Buch eine Auswahl bekannter Forschungsmeinungen wieder, ohne diese zu belegen oder ihren Stellenwert in der aktuellen Debatte anzugeben. Die Darstellung der russischen Kriegsführung als vollkommen planlos steht sogar im krassen Widerspruch zu neueren Darstellungen. [1] Dem Fachpublikum bietet das Buch folglich keine weiterführenden Erkenntnisse. Deutlich empfehlenswerter erscheint nach wie vor das Werk von Adam Zamoyski, das Einblicke insbesondere in die historiographische Aufarbeitung der Ereignisse von 1812 liefert. [2]


Anmerkungen:

[1] Vgl. etwa Dominic Lieven: Russia and the Defeat of Napoleon (1812-14). In: Kritika: Explorations in Russian and Eurasian History 7, 2 (Spring 2006), 283-308.

[2] Adam Zamoyski: Napoleon's Fatal March on Moscow. London 2004.

Sebastian Dörfler