Rezension über:

Thomas Schuler: "Wir sind auf einem Vulkan". Napoleon und Bayern, München: C.H.Beck 2015, 319 S., 27 Farb-, 19 s/w-Abb., ISBN 978-3-406-67663-5, EUR 24,95
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Rezension von:
Katharina Weigand
Universitätsarchiv, Ludwig-Maximilians-Universität München
Redaktionelle Betreuung:
Nils Freytag
Empfohlene Zitierweise:
Katharina Weigand: Rezension von: Thomas Schuler: "Wir sind auf einem Vulkan". Napoleon und Bayern, München: C.H.Beck 2015, in: sehepunkte 15 (2015), Nr. 12 [15.12.2015], URL: https://www.sehepunkte.de
/2015/12/26672.html


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Thomas Schuler: "Wir sind auf einem Vulkan"

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2015 war in Bayern - und auch sonst in Deutschland - alles andere als ein Erinnerungsjahr an Otto von Bismarck, trotz der 200. Wiederkehr seines Geburtstages. 2015 war in Bayern vielmehr ein Gedenkjahr für die grundstürzenden Veränderungen, die Bayern zu Beginn des 19. Jahrhunderts er- und durchlebte, und somit gleichfalls ein Gedenkjahr für Kaiser Napoleon, seine Kriegszüge, seine Politik, seinen Einfluss auf das mit ihm seit 1805 verbündete Kurfürstentum, dann Königreich Bayern. Im Zentrum dieser Erinnerung stand die vom Haus der Bayerischen Geschichte im Ingolstädter Armeemuseum präsentierte Ausstellung "Napoleon und Bayern", flankiert von diversen Radiosendungen (Bayern 2), von nicht allzu zahlreichen Tagungen sowie von - erstaunlich wenigen - Buchpublikationen.

Zwei dieser Publikationen schließen sich - zumindest hinsichtlich des Titels - besonders eng an die von der Ingolstädter Ausstellung formulierte Thematik an: Da ist zuerst "Napoleon und Bayern. Eine Königskrone und ihr Preis" (Regensburg 2015) aus der Feder von Marcus Junkelmann, wobei diese Veröffentlichung eine gekürzte und überarbeitete Fassung von Junkelmanns noch immer äußerst lesenswertem Buch "Napoleon und Bayern. Von den Anfängen des Königreichs" (Regensburg 1985) ist. Die zweite dieser Publikationen ist der hier zu besprechende Band, geschrieben vom Ulmer "Historiker und Publizisten" Thomas Schuler.

Zeitlich spannt Schuler einen Bogen vom "Vorabend der Französischen Revolution" bis zur Gründung des Deutschen Bundes, dies alles unterteilt in neun Kapitel mit jeweils drei bis fünf Unterkapiteln. Diese Kleingliedrigkeit soll offensichtlich dazu beitragen, den Leser nicht zu überfordern. Der Text auf dem Schutzumschlag des Bandes wiederum verspricht eine "Spurensuche" und ferner, dass der Autor die "Geschichte Bayerns in der Zeit der Französischen Revolution" auf "lebendige und anschauliche Weise" erzähle. Wohl gerade zu diesem Zweck werden immer wieder Anekdoten in den Text eingestreut, die zwar die Lektüre unter Umständen abwechslungsreicher machen mögen, aber häufig wenig bis gar nichts dazu beitragen, Bayerns politische Entwicklung zwischen 1796 und 1815 zu erhellen. Häufig sind besagte Anekdoten viel eher dazu geeignet, Vorurteile, die die Leserschaft über Bayern und seine Bewohner mit sich herumtragen mag, zu zementieren. So wird Bayern als "eigentümliche[s] Land am Rand der Alpen" (10) beschrieben; es werden der Umstand, dass Bauern im Jahre 1782 den damals durch Bayern reisenden Papst um den Segen für ihr Vieh baten, und ebenso die Beobachtung, dass damals "in fast allen Bauernstuben ein massives Holzkreuz" hing, als stockkatholische Kuriositäten geschildert (12f.). In eine ähnliche Richtung scheint der Autor zu zielen, wenn er schreibt, dass die Beschlagnahmung (36) oder gar Zerstörung von vollen Bierfässern (20) in Bayern geradezu als "Sakrileg" angesehen wurde. Nicht selten münden solche Ausführungen anschließend in eigentümlich anmutende Schlussfolgerungen, wenn es etwa heißt, "dass die ausgeprägten bayerischen Eigenheiten keinesfalls eine reine Gegenwartserscheinung, sondern historisch tief verwurzelt sind, und [man] erkennt darin bereits anno 1800 das 'Mia san mia'." (13)

Gegenwartsbezüge spielen im vorliegenden Band noch eine viel größere Rolle, so wenn mehrfach auf für die napoleonische Zeit einschlägige Denkmäler in Bayern hingewiesen wird: Explizit genannt werden etwa die beiden Denkmäler für Max I. Joseph und für Maximilian von Montgelas in München sowie das Löwendenkmal für die Schlacht bei Eggmühl 1809. Allerdings ist nicht zu übersehen, dass Schuler die zu diesen Denkmälern vorhandene Literatur nicht rezipiert hat, weshalb beim Leser gar der Eindruck entstehen muss, als sei der ehemalige Münchner Oberbürgermeister Christian Ude der alleinige Befürworter oder gar Initiator der aus Aluminium gefrästen Montgelas-Statue am Münchner Promenadeplatz gewesen.

Eine Frage drängt sich während der Lektüre des vorliegenden Bandes besonders auf: Für welches Publikum wurde er geschrieben? Denn es finden sich im Text eine ganze Menge von sprachlichen und begrifflichen Unsauberkeiten, die demjenigen, der sich mit der dargestellten Epoche einigermaßen auskennt, die Lektüre schnell verleiden. Das beginnt, wenn Kurfürst Karl Theodor (im Band wird er nach pfälzischer Manier mit "C" geschrieben) als "bayerischer Kurfürst" (10), statt als pfalz-baierischer Kurfürst bezeichnet wird, oder wenn seine pfälzische Residenzstadt Mannheim als "pfalzbayerische Stadt" (10) auftaucht. Und für die Zeit um 1800 wird Bayern erstaunlicherweise gar schon eine "eigenstaatliche Existenz" (24) attestiert. Greifen aber weniger informierte Leser, die gezielt nach einer fundierten Einführung suchen, zu diesem Buch, dann dürfte das Gefühl, vieles nicht erläutert zu bekommen, überwiegen. Lediglich erwähnt werden zum Beispiel die wittelsbachischen Haus- und Erbverträge, die 1777 und 1799 dafür verantwortlich waren, dass Bayern nicht als erledigtes Lehen an den Kaiser des römisch-deutschen Reiches zurückfiel, sondern weiterhin vom Hause Wittelsbach - wenn auch von anderen Zweigen der Dynastie - regiert wurde. Geht es um Montgelas' Ansbacher Mémoire und um seine späteren Reformen, fällt weder der Begriff "Aufklärung" noch wird das seit 1799 in Bayern in Angriff genommene Reformwerk mit den Ideen der Aufklärung verknüpft - das muss beim Leser zu schiefen Urteilen führen. Und würde Schuler mit dem Begriff "Staatsabsolutismus" laborieren sowie erklären, was Montgelas' Ziele in dieser Hinsicht waren, dann käme er sicherlich nicht in Versuchung, diesen bayerischen Minister ohne weitere Präzisierung mit "Liberalismus" (157) in Verbindung zu bringen.

Dass Schuler ein besonderes Faible für die Schilderung napoleonischer Schlachten hat (21 Seiten für den Russlandfeldzug von 1812, nur acht Seiten für Montgelas' gesamtes Reformwerk), soll nur festgehalten, nicht kritisiert werden. Grobe Fehler sind dagegen mehr als ärgerlich. Zugegebenermaßen ist die richtige Verwendung der Begriffe "Mediatisierung" und "Säkularisation" nicht ganz einfach. Doch es ist definitiv zu kurz gesprungen, für die Mediatisierung geistlicher und weltlicher Territorien 1802/03 und gleichzeitig für die Säkularisation, also für die Auflösung der Klöster in Bayern, grundsätzlich nur den Begriff "Säkularisation" zu verwenden (47-64). Und wenn - um nur noch ein weiteres Beispiel zu nennen - mehrfach zu lesen ist (123-126), Bayern sei 1806 zum Königreich "erhoben" worden, dann fragt man sich schon irritiert: Von wem denn? Denn derjenige, der verfassungsrechtlich dazu befugt gewesen wäre - Franz II., gerade noch römisch-deutscher Kaiser -, hat es nachweislich nicht getan. Napoleon wiederum hat es auch nicht getan, ja er wohnte dem Staatsakt in der Münchner Residenz, als sich der bisherige bayerische Kurfürst selbst zum König von Bayern proklamierte, nicht einmal bei, ganz abgesehen davon, dass der französische Kaiser, da er kein Herrscher des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation war, keinerlei Befugnis zur Rangerhöhung eines Kurfürsten besaß.

Mit Blick auf den wissenschaftlichen Apparat des vorliegenden Bandes ist schließlich zu konstatieren, dass die Art und Weise, in der die Anmerkungen präsentiert werden - nämlich am Ende des Bandes, in kleinster Schrift, Anmerkung an Anmerkung ohne jeweils eine neue Zeile -, deren Rezeption außerordentlich erschwert. Einen letzten merkwürdigen Eindruck hinterlässt Schulers Schlussvolte: "Während sich einerseits die Erinnerungskultur an die Napoleonischen Kriege nach den Katastrophen der beiden Weltkriege grundlegend gewandelt hat [...], so gilt Bayern heute zugleich als 'Eldorado der Deutschen Rüstungsindustrie'". (274) Soll das dem Leser suggerieren, dass die heutige bayerische Rüstungsindustrie nichts anderes sei als ein Überbleibsel, eine Folge jener Jahre, in denen Bayern der militärische Verbündete Napoleons gewesen ist?

Katharina Weigand