Rezension über:

Lothar Kolmer: Geschichtstheorien (= UTB. Profile), Stuttgart: UTB 2008, 115 S., ISBN 978-3-8252-3002-9, EUR 9,90
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Rezension von:
Stefan Jordan
Historische Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, München
Redaktionelle Betreuung:
Nils Freytag
Empfohlene Zitierweise:
Stefan Jordan: Rezension von: Lothar Kolmer: Geschichtstheorien, Stuttgart: UTB 2008, in: sehepunkte 8 (2008), Nr. 10 [15.10.2008], URL: https://www.sehepunkte.de
/2008/10/14208.html


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Lothar Kolmer: Geschichtstheorien

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Warum lohnt es, sich mit Geschichtstheorie(n) zu beschäftigen? Weil die Geschichtswissenschaft zum einen theoriebedürftig ist, wie Lothar Kolmer am Beginn seines Bandes feststellt; und weil die Beschäftigung mit Geschichtstheorien hilft, die eigene Vorgehensweise zu reflektieren. Kompakte Kompendien, die in geschichtstheoretische Debatten einführen, sind daher - nicht zuletzt in Zeiten modularisierter Lernstrukturen mit ihrem Bedarf an Einführungsliteratur - generell sehr zu begrüßen. Ob allerdings Kolmers "Geschichtstheorien" für diesen Zweck geeignet sind, muss offen bleiben, denn der Band ist mit drei Problemen behaftet:

Erstens geht es in ihm nicht im engeren Sinne um Geschichtstheorien, sondern um materiale Geschichtsphilosophien, solche also, die definieren, was Geschichte eigentlich ist oder sein soll. Nach einem einleitenden Kapitel zum Geschichtsdenken in der Antike widmet sich der Verfasser drei "Meta-Erzählungen": der "Meta-Erzählung von Emanzipation und Fortschritt" (Aufklärung), "von der Teleologie des Geistes" (Idealismus) und "der Moderne" (Hegel). Es folgen Ausführungen über den dialektischen Materialismus, über Historismus und Hermeneutik sowie über die Postmoderne. Damit bleibt der Bereich der formalen Geschichtsphilosophie oder Geschichtstheorie im engeren Sinn nahezu unbehandelt, in dessen Zentrum die erkenntnistheoretische Frage steht, was als Geschichte erkannt werden kann und welche Methoden dabei Erkenntnis leitend und Ergebnis standardisierend sein sollen. Gerade die historische Epistemologie und Methodologie, die man zusammengefasst als Theorie historischer Praxis bezeichnen kann, sind aber üblicherweise Hauptgegenstand von Einführungsveranstaltungen in geschichtswissenschaftlichen Fakultäten. Hier sind die in Kolmers Band eher randständig behandelten Vertreter der Annales-Schule, der "Objektivismus" Rankes, die Ansätze moderner Sozial-, Alltags-, Mentalitätenhistoriker usw. bedeutendere Bezugspunkte als die Philosophien Kants, Hegels oder Marx'. Aktuelle geschichtstheoretische Diskussionen etwa über die Neue Kulturgeschichte oder den 'Iconic Turn', deren Darstellung Studierenden bei einer Bewertung zeitgenössischer Geschichtswissenschaft helfen würde, zählen nicht zu den Gegenständen des vorliegenden Bandes. Näher betrachtet wird lediglich die hermeneutische Methodologie Droysens.

Ein zweites, gravierendes Problem sind die zahlreichen formalen Fehler, die Kolmers Ausführungen durchziehen. So wird etwa Kosellecks Geburtsjahr fälschlicherweise mit 1922 (korrekt: 1923) angegeben (9) und Poppers "The Poverty of Historicism" wird mit "Das Elend des Historismus" (korrekt: Historizismus) übersetzt (92). Johann Gustav Droysens erster Vorname bleibt ungenannt (49; der Historiker Gustav Droysen war der Sohn des hier gemeinten Johann Gustav Droysen) und Rankes bekanntes Zitat, bloß zeigen zu wollen, "wie es eigentlich gewesen", wird zum Anspruch des Historismus, "zu wissen, 'wie es wirklich ist'" (92). Sollte man in einer Einführung zudem die Formulierung verwenden, dass Meinecke "von den Nazis kalt gestellt" wurde? Die Liste dieser Schwächen lässt sich um den falschen Gebrauch des Konjunktivs (z.B. "gäbe" statt "gebe", 86, 93) bis hin zu grammatikalisch falschen Sätzen erweitern: "Historische Erkenntnis wird von und durch diesen Blickpunkt des Betrachters gestaltet." (25) oder "Die Paradigmen kommen auf - bald schon wieder ab - gehorchen Modezyklen." (15).

Man wäre geneigt, diese Schiefheiten zu übersehen, wenn sie nicht drittens im Zusammenhang mit inhaltlichen Aussagen stünden, die man als äußerst strittig ansehen darf. So definiert Kolmer am Anfang seines Bandes den Begriff 'Geschichte' in drei Dimensionen, von denen die erste lautet: "ein realer/materialer Begriff von Geschichte als 'gewesenes Geschehen' [Kolmer zitiert hier Karl-Georg Faber, SJ] = Geschichte als Vergangenheit" (8). Geschichte, das kann nicht deutlich genug betont werden, ist etwas anderes als Vergangenheit! Deswegen sind Sätze wie "Die Geschichte war demnach vergangen" (63) oder "Nur in der Gegenwart kann Vergangenes verstanden werden [...]. Die Gegenwärtigkeit der Konstrukte erbringt die der Vergangenheit" (84) ohne Sinn. Sie widersprechen jeder Logik, denn Vergangenes zeichnet sich per definitionem dadurch aus, das es nicht gegenwärtig ist. Verstanden werden in der Gegenwart kann die Geschichte, und zwar anhand von Quellen, die ebenfalls nichts Vergangenes sind, sondern durchaus gegenwärtig.

Der Band ist durchzogen von Aussagen, die man nicht teilen möchte. So etwa, dass das Hauptgenre der Historiografie des 19. Jahrhunderts die Biografie gewesen sei (57). Richtig ist, dass die Geschichtsschreibung des Historismus stark akteurszentriert war ('die großen Männer der Geschichte'); als vorherrschend wird man aber sicher den "Primat der Außenpolitik", die Darstellung von Nationalgeschichten und nicht Biografie ansehen dürfen. Der Historismus habe - so Kolmer - keinen kritischen Bezug zur Gegenwart hergestellt, womit "auch eine Handlungsorientierung für die Zukunft" entfallen sei (57). Dieser Aussage widerspricht etwa Droysens Alexander-Buch (1833), das mit nationaler Absicht in der Darstellung der griechischen Kleinstaaten den deutschen Staaten einen Spiegel vorgehalten hat; dem widerspricht auch das Wirken aller kleindeutsch-borussischen Historiker, Preußen historisch als deutsche Führungsmacht aufzeigen zu wollen. War Gadamer wirklich der "bedeutendste Vertreter der Hermeneutik" in Deutschland (59)? Sind Schleiermacher und Heidegger nicht vielleicht von mindestens demselben Rang? Bedeutete Chladenius' Lehre vom 'Sehepunckt' Mitte des 18. Jahrhunderts eine "wesentliche Erschütterung des Objektivitätspostulats" (25)? Wohl kaum, denn das Streben nach Objektivität bildete sich erst mit Beginn des Historismus und der Standardisierung der historischen Methodik anstelle des Strebens nach Wahrheit heraus.

Kolmers Ausführungen reizen also eher zu Diskussion und Widerspruch an und bieten weniger jene Form konsensfähiger Aussagen, die man sich für Einführungsliteratur wünscht. Studierende, die ein Übersichtswerk zur Geschichtsphilosophie bzw. -theorie suchen, sind mit ähnlichen Bänden wie etwa Johannes Rohbecks "Geschichtsphilosophie zur Einführung" (2004) oder den betreffenden Abschnitten in übergreifenden Einführungen in die Geschichtswissenschaft - etwa dem von Hans-Jürgen Goertz herausgegebenen "Grundkurs Geschichte" (32007) - besser bedient.

Stefan Jordan