Rezension über:

Katrin Moeller: Dass Willkür über Recht ginge. Hexenverfolgung in Mecklenburg im 16. und 17. Jahrhundert (= Hexenforschung; Bd. 10), Bielefeld: Verlag für Regionalgeschichte 2007, 544 S., ISBN 978-3-89534-630-9, EUR 39,00
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Rezension von:
Rolf Schulte
Historisches Seminar, Christian-Albrechts-Universität zu Kiel
Redaktionelle Betreuung:
Stephan Laux
Empfohlene Zitierweise:
Rolf Schulte: Rezension von: Katrin Moeller: Dass Willkür über Recht ginge. Hexenverfolgung in Mecklenburg im 16. und 17. Jahrhundert, Bielefeld: Verlag für Regionalgeschichte 2007, in: sehepunkte 8 (2008), Nr. 7/8 [15.07.2008], URL: https://www.sehepunkte.de
/2008/07/13803.html


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Katrin Moeller: Dass Willkür über Recht ginge

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In der Frühneuzeitforschung ertönt immer wieder das Argument, die Hexenforschung - besonders in Gestalt von Regionalstudien - sei "abgeforscht", ihr Potential erschöpft. Neue Forschungsprojekte und Stipendien werden mittlerweile aus diesem Grund blockiert. Ganz davon abgesehen, dass sich sicherlich niemand eines solchen Arguments bei fest etablierten und weit besser erforschten Themen wie etwa der Aufklärungs- oder Reformationsforschung bedienen würde, widerlegt die Dissertation von Katrin Moeller ebendiese Vorstellungen gründlich.

Anhand der intensiven mecklenburgischen Hexenverfolgungen entwirft Moeller eine überaus quellengesättigte Studie, die mehrere serielle Quellenstränge (fast vollständige Überlieferungen der Juristenfakultäten Rostock und Greifswald) und die Prozessakten aller mecklenburgischen Städte und Landschaften erfasst: Im zweigeteilten protestantischen Mecklenburg lassen sich zwischen 1550 und 1700 ca. 4.000 Prozesse gegen 3.704 Personen (inklusive Mehrfachverfahren) bei 54% Todesurteilen nachweisen (47, 62). Bei der dünnen Bevölkerungsdichte und der geringen Einwohnerzahl des Landes von ca. 200.000 Menschen im 16./17. Jahrhundert unterscheidet sich diese Verfolgungsaktivität erheblich von den eher prozessmoderaten oder sogar prozessarmen Territorien im Norden des Reiches oder Nordeuropas: Die mecklenburgischen Herzogtümer gehörten mit diesen Zahlen zu den Zentren der europäischen Hexenverfolgung.

Die Autorin erschließt die ausgezeichnete Quellenlage mittels komparativer Analysen sowie multivarianter Auswertungsverfahren, verbindet so qualitative und quantitative Methoden und kommt zu Aussagen, die über eine rein deskriptive Darstellung hinausreichen. Macht schon die Fülle des Materials und die Anzahl der Fälle die Auswertungen plausibel, erfährt ebenso das Dilemma der Frühneuzeitforschung als "vorstatistisches" Zeitalter eine erhebliche Relativierung, besonders weil sich die Arbeit durchaus über ein hohes Problembewusstsein gegenüber einer reinen Zahlenhuberei auszeichnet.

Der Vorstellung vom Hexenprozess als Ausnahmeverbrechen stellt die Autorin im Vergleich von fast 3.000 Verfahren die Wirksamkeit von verteidigenden Maßnahmen vor Gericht entgegen. Verglichen werden populäre und professionelle Formen der Verteidigung, von denen die letzteren lebensrettende Bedeutung entfalteten, denn durch eine Verteidigung bzw. andere Rechtsmittel konnte eine Freilassung in 60% der Fälle durchgesetzt werden (64). Bei immerhin 1.441 Personen lässt sich der Sozialstatus der Angeklagten nachzeichnen, der nach Ansicht der Autorin in etwa dem Querschnitt der mecklenburgischen Bevölkerung entsprach (57-60). Lediglich in einem kleineren Unterkapitel wird die - wie in zahlreichen lutherischen Territorien typisch - äußerst geschlechtsspezifische und alterstypische Zuspitzung ("alte Frau") des Hexereistereotyps gestreift (60, 230). Gleichzeitig macht die Autorin auf die Merkmale und die Veränderungen bei der Verfolgung von Männern und Kindern aufmerksam (224-240). Als ein großer Vorzug darf wohl die multiple Entfaltung der Verfolgungsdynamik gesehen werden, die nicht nur in ihren rechtlichen Rahmenbedingungen, sondern auch in ihren sozialen Auswirkungen beleuchtet werden. So beginnt die mecklenburgische Verfolgung mit einer Kriminalisierung von Angehörigen der sesshaften und fahrenden Unterschichten, die Magiepraktiken als Lebenserwerbsstrategie betrieben, weitete sich dann über verschiedene beschriebene Lernvorgänge sukzessiv über die gesamte Bevölkerung aus, erfuhr jedoch in verschiedenen Lebenswelten durchaus unterschiedliche Akzentuierungen und Ausprägungen. Als Fundamentalkrise wird nicht die klimatische Veränderung, sondern der Dreißigjährige Krieg charakterisiert. Erst durch die Folgen des Krieges erwuchs aus den noch eher ursprünglichen Zaubereiverfolgungen des 16. Jahrhunderts die tatsächliche Hexenverfolgung ab etwa 1645.

Katrin Moeller geht über die eigentliche Hexenforschung hinaus und bezieht umfangreich Forschungsaspekte der weiteren Kriminalitäts- und Rechtsgeschichte ein. Hier wird die Forderung von Gerd Schwerhoff tatsächlich eingelöst, der seit Jahren eine Öffnung der Hexenforschung für weiter gehende Fragestellungen fordert, und dies nicht nur für die Hexenforschung mit Erfolg. Die Arbeit geht systematisch und analytisch vor, für den Leser manchmal allerdings in den vielen Detaildiskussionen schon fast zu komplex. Der Spagat zwischen der Präsentation umfangreicher Quellenforschungen und einer intensiven Forschungsdiskussion ist sicherlich nicht einfach. Die Vereinbarkeit beider Ansprüche hätte durch mutige Schritte zum Weglassen von Detailinformationen jedoch noch besser gelöst werden können, zumal das Buch mit etwa 540 Seiten äußerst umfangreich gediehen ist. Die engagierte Identifikation mit der vergleichenden mecklenburgischen Landesgeschichte hat in manchen Passagen dann doch den Sieg davongetragen.

Unterteilt ist die Studie insgesamt in drei große Bereiche, welche die gelehrte Justiz und den regionalen Hexereidiskurs (69-176), die Ebene der Volksmagie und des populären Hexenglaubens, Verhaltens- und Verteidigungsstrategien (271-352) sowie die Vermittlungs- und Verhandlungsebene der lokalen Juristen und Verfolgungsprotagonisten verschiedener Lebenswelten (353-447) entfaltet. Dabei werden die Verflechtungen und Wechselwirkungen zwischen den analytisch gezogenen Ebenen aufgezeigt und vor allem die Frage verfolgt, in welcher Weise Hexenverfolgungen von "unten" auf die Ebene der Verfolgungsprotagonisten und der gelehrten Justiz zurück wirkten und in welchem Ausmaß diese Interaktionen für die Hexenverfolgungen verantwortlich waren. Grundlegend wird der Forschungsgegenstand einer Hexenverfolgung von "unten", der seit einigen Jahren in der Hexenforschung vor allem in Gestalt der kommunalen Ausschüsse dominant ist, in seinem Ausmaß und in der diesem Begriff innewohnenden Einheitlichkeit hinterfragt. Letztlich zeichnet Katrin Moeller eine sehr kritische Haltung von einem geschlossenen, fest gefügten Hexereibegriff bzw. dem allgemeinen Hexenglauben innerhalb der breiten Bevölkerung und durchlöchert solche Vorstellungen, indem sie gegenläufige Handlungsstrategien von Zeugen, Pastoren, Familienmitgliedern, aber auch durch vielfältige Verteidigungsstrategien innerhalb des Hexenprozesses aufzeigt. Intensiv spricht sie sich gegen die Existenz einer komplexen magischen Weltsicht der frühneuzeitlichen Gesellschaft aus (197-200, 246-250, 389, 413-415).

Katrin Moeller argumentiert für ein dynamischeres und konturenreicheres Verständnis von Hexenglaube und Verfolgungswünschen von "unten" als es bisher in der Forschung vertreten wurde. Mit einer derartigen kritischen Position legt sich die Autorin ganz sicherlich mit der etablierten Hexenforschung an, die in der massiven Verdüsterung des frühneuzeitlichen Weltbildes - und einem letztlich auslösenden weit reichenden Funken durch die klimatischen Veränderungen - die Ursachen der Hexenverfolgungen sieht. Moeller entfaltet stattdessen ein Ursachengeflecht, welches gar nicht so sehr am Hexenglauben, sondern viel eher an den rechtlichen Rahmenbedingungen und dem Entwurf von Gerechtigkeit, vor allem in Gestalt der rechtlichen Revolution des späten 16. Jahrhunderts angesiedelt wird. Zumindest im äußeren Verlauf lässt sich die Hexenverfolgung als synchron mit der gesamten Kriminalitätsverfolgung im Spiegel der Spruchakten der Rostocker Juristenfakultät (bis 1630) in Mecklenburg verfolgen. Solche Überlegungen scheinen durchaus plausibel, war doch der populäre und wissenschaftliche Hexenglaube bereits lange vor den intensiven Hexenverfolgungen ab 1570 manifest geworden. Überdies versucht sie Vorstellungen darüber zu vermitteln, in welchen Hexenprozessen und in welchem Umfang Verfolgungen von "unten" tatsächlich relevant wurden (325-330, 351, 475, 444-447).

Der Hexenforschung, deren letzte große Arbeiten intensiv eine weit reichende frühneuzeitliche Magiegläubigkeit entfaltet haben, bietet die Dissertation daher vielfältige Ansätze zur Diskussion und zu weiteren Debatten an. Katrin Moeller wirft in ihrer Zusammenfassung daher grundsätzliche Fragen des Charakters und des Wesens der Frühen Neuzeit, nach der Wirkungsweise des Magischen und des Hexenglaubens an, die für die Hexenforschung weiterführend sein können.

"Dass Willkür über Recht ginge" ist eine originelle Arbeit, die den Diskurs in der Hexenforschung sehr bereichert. So kann man nur hoffen, dass das Buch daher nicht nur Leser innerhalb des schon lange wartenden Kreises der Hexenforschung, sondern auch darüber hinaus finden wird.

Rolf Schulte