Rezension über:

Cornelia Schenke: Nationalstaat und nationale Frage. Polen und die Ukrainer in Wolhynien (1921-1939) (= Hamburger Veröffentlichungen zur Geschichte Mittel- und Osteuropas; Bd. 12), München / Hamburg: Dölling und Galitz 2004, 476 S., ISBN 978-3-935549-93-6, EUR 29,80
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Rezension von:
Alexander Brakel
Johannes Gutenberg-Universität, Mainz
Empfohlene Zitierweise:
Alexander Brakel: Rezension von: Cornelia Schenke: Nationalstaat und nationale Frage. Polen und die Ukrainer in Wolhynien (1921-1939), München / Hamburg: Dölling und Galitz 2004, in: sehepunkte 6 (2006), Nr. 10 [15.10.2006], URL: https://www.sehepunkte.de
/2006/10/8966.html


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Cornelia Schenke: Nationalstaat und nationale Frage

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Im Frühjahr und verstärkt ab Sommer 1943 verübten Verbände der ukrainischen Untergrundbewegung UPA in Podolien und Wolhynien Massaker an der dort lebenden polnischen Bevölkerung, an denen sich auch ukrainische Zivilisten beteiligten. Wo lagen die Gründe für diesen Hass, mit dem Ukrainer ihre polnischen Nachbarn verfolgten?

Auch wenn die Ereignisse des Jahres 1943 nicht mehr Gegenstand der vorliegenden Studie sind, muss diese Frage doch als ihr Hintergrund verstanden werden (11). Cornelia Schenke untersucht in ihrer 2003 an der Universität Köln eingereichten Dissertation, wie sich der nationale Antagonismus zwischen Ukrainern und Polen in Wolhynien und damit in einer Region entwickeln konnte, die - im Unterschied zu Galizien - vor 1918 weitgehend unbeleckt von nationalistischen Erscheinungen gewesen war. Sie kommt zu einem verblüffenden Ergebnis: Ausgerechnet das Fehlen derartiger Erscheinungen führte dazu, dass die meisten polnischen Politiker keinerlei Zugeständnisse an das aufkommende ukrainische Nationalgefühl machten. Während in Ostgalizien versucht wurde, die Nationalbewegung durch beschränkte Konzessionen in den polnischen Staat einzubinden, sahen die polnischen Politiker dazu in Wolhynien keine Notwendigkeit. Sämtliche Formen ukrainischen Nationalismus' galten ihnen dort vielmehr als Folge externer Provokation. Erst die Unruhen von 1924 verdeutlichten überhaupt die Bedeutung, die den nationalen Minderheiten in den polnischen Ostgebieten und damit auch in Wolhynien zukam. Die politische Rechte, namentlich die Nationaldemokraten setzten darauf, das Gebiet zu kolonialisieren und die Ukrainer langfristig zu assimilieren. Dagegen gingen die Linke um Piłsudski und mithin das Sanacja-Regime davon aus, dass sich hinter den angeblich nationalen Problemen in Wirklichkeit soziale verbargen. Eine umfassende Landreform sollte hier Abhilfe schaffen. Und in der Tat unternahm die Regierung beträchtliche Anstrengungen, um den landarmen und landlosen Bauern ein Stück Ackerland zuzuteilen, das ihre Existenz sichern konnte. Die 1929 einsetzende Agrarkrise konterkarierte diese Bemühungen jedoch und sorgte für große Unzufriedenheit unter den ukrainischen Bauern. Die Unzufriedenheit speiste sich jedoch auch aus anderen Quellen und verhinderte die von der Sanacja angestrebte bessere Einbindung der Ukrainer in den polnischen Staat: Auch Piłsudski und seine Anhänger gingen nicht nur von einer kulturellen Überlegenheit der Polen gegenüber den ostslawischen Minderheiten aus, sondern hielten darüber hinaus auch an der Vorzugsbehandlung der Titularnation fest. So erhielten polnische Kleinbauern auch bei der Landreform größere und bessere Landstücke. Der zweite Punkt, der eine bessere Behandlung der Ukrainer verhinderte, war die Sicherheitsfrage: Sämtliche Regierungen der Zweiten Polnischen Republik nahmen wie selbstverständlich an, dass die Angehörigen der nationalen Minderheit dem Staat gegenüber unzuverlässiger seien als die ethnischen Polen, weshalb sie fast sämtliche Posten im Staatsapparat mit letzteren besetzten. Für Wolhynien bedeutete dies neben fehlenden Karrieremöglichkeiten für die ukrainische Mehrheitsbevölkerung auch, dass dieser alternative Berufsmöglichkeiten neben der Landwirtschaft fehlten. Das starke Bevölkerungswachstum nach dem Ersten Weltkrieg und schließlich auch die Agrarkrise führten unter diesen Umständen zu einer weiteren Verschärfung ihrer materiellen Notlage.

Als 1928 mit Henryk Józewski ein neuer Wojewode in Wolhynien eingesetzt wurde, änderte sich die Politik gegenüber den Ukrainern zumindest teilweise. Zum Einen versuchte auch er, die soziale Lage durch eine konsequente Modernisierungspolitik zu verbessern, zum Anderen zeigte er sich darüber hinaus zu gewissen kulturellen Zugeständnissen an die Ukrainer bereit und suchte die Zusammenarbeit mit politischen Vereinigungen, die ihre Ziele innerhalb des polnischen Staates verfolgen wollten. Neben dem Widerstand, der ihm deswegen teilweise aus Warschau entgegen schlug, war es vor allem die örtliche polnische Bevölkerung, die in jeder Konzession an die Ukrainer einen Schritt zu ihrer eigenen Entrechtung sah. Zudem war auch Józewski an einer eigenständigen Entwicklung der ukrainischen Kultur nicht interessiert. Viele Initiativen blieben auf Grund von Józewskis Halbherzigkeit, des Widerstandes aus Warschau oder seitens der polnischen Bewohner Wolhyniens deswegen bereits in Ansätzen stecken.

Nach dem Tode Piłsudskis im Mai 1935 erhöhte sich der Druck auf Józewski nicht zuletzt unter dem Eindruck wachsender Ängste vor dem mächtiger werdenden und immer unbedenklicher agierenden nationalsozialistischen Deutschland. Die Militärverwaltung Wolhyniens mischte sich zunehmend stärker in die Tagespolitik ein und drängte den Wojewoden zu einer schärferen Politik gegenüber den Minderheiten. Teile der ukrainischen Bevölkerung wurden sogar genötigt, ihre Konfession oder Nationalzugehörigkeit zu wechseln. 1938 erreichten die Militärs schließlich die Ablösung des vergleichsweise liberalen Józewski und konnten sich nun endgültig mit ihrem Konzept der nationalen Assimilation durchsetzen. Der im Folgejahr beginnende Krieg setzte dann auch dieser Phase ein Ende. In der kurzen Zeit war es den Vertretern der neuen Politikrichtung nicht gelungen, die ukrainische Bevölkerung enger an den polnischen Staat zu binden, im Gegenteil: Die verschärfte Gangart hatte den ukrainisch-polnischen Gegensatz zu einem neuen Höhepunkt gebracht und die Mehrheit der ukrainischen Bevölkerung der Rzeczpospolita vollständig entfremdet.

Es gelingt Schenke zu zeigen, dass die Zuspitzung dieses Konflikts bereits in der falschen Grundannahme begründet lag, die ukrainischen Bewohner Wolhyniens hätten kein wirkliches Nationalgefühl ausgebildet und würden bei einer Lösung der wirtschaftlichen Probleme der Attraktivität des Polentums erliegen und sich zum polnischen Staat oder sogar zur polnischen Nation bekennen. Diese Annahme verhinderte bereits die Suche nach einem möglichen modus vivendi, der ein stärkeres Entgegenkommen auch in nationalen Fragen beinhaltete hätte. Mit genauer Detailkenntnis kann Schenke Belege für diese These aus den unterschiedlichsten Bereichen der polnischen Politik anführen. In dem Bemühen um Vollständigkeit geht die Stringenz der Argumentation mitunter aber leider verloren. Darüber hinaus überzeugt die These vom Anwachsen des Nationalgefühls für die Elite der ukrainischen Gesellschaft; der Frage nach der Perzeption des Nationalismus in der übrigen Bevölkerung geht Schenke allerdings kaum nach. So bleibt offen, ob nicht für weite Teile der bäuerlichen Bewohner Wolhyniens soziale Fragen doch von höherer Bedeutung waren als nationale. Wäre der Nationalbewegung, deren erfolgreiche Vertreter in Wolhynien nationale und soziale Probleme gleichrangig thematisierten, ein ähnlicher Erfolg beschieden gewesen, wenn die polnische Sozialpolitik erfolgreicher gewesen und nicht mit den externen Wirkungen der Weltwirtschaftskrise konfrontiert worden wäre? Derartige Überlegungen könnten den Ausgangspunkt für weitere Studien bilden, für die Cornelia Schenke eine solide Grundlage gelegt hat.

Alexander Brakel