Rezension über:

Manfred G. Schmidt (Hg.): Bundesrepublik Deutschland 1982-1989. Finanzielle Konsolidierung und institutionelle Reform (= Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland seit 1945; Bd. 7), Baden-Baden: NOMOS 2005, 983 S., 1 CD-ROM, ISBN 978-3-7890-7325-0, EUR 149,00
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Rezension von:
Andreas Wirsching
Lehrstuhl für Neuere und Neueste Geschichte, Universität Augsburg
Empfohlene Zitierweise:
Andreas Wirsching: Rezension von: Manfred G. Schmidt (Hg.): Bundesrepublik Deutschland 1982-1989. Finanzielle Konsolidierung und institutionelle Reform, Baden-Baden: NOMOS 2005, in: sehepunkte 5 (2005), Nr. 10 [15.10.2005], URL: https://www.sehepunkte.de
/2005/10/8932.html


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Manfred G. Schmidt (Hg.): Bundesrepublik Deutschland 1982-1989

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Das Bild der inneren Entwicklung der Bundesrepublik während der 1980er-Jahre schwankt in der Forschung. Es schwankt zwischen dem Eindruck des neuen Aufschwungs und der fortdauernden Strukturkrise, der gelungenen Modernisierung und der verpassten Chancen. Das gilt auch und im Besonderen für die Geschichte der Sozialpolitik in der ersten Hälfte der Regierungszeit Helmut Kohls, als der verbindliche Bezugsrahmen jeder Innenpolitik noch die "alte" Bundesrepublik war. Wenige Politikfelder sind dabei zeitgenössisch so kontrovers beurteilt worden wie die Sozialpolitik. Den Gegnern galt die christlich-liberale Sozialpolitik als "Sozialabbau" und Rückkehr in die "Ellenbogengesellschaft", was mit dem Schlagwort der "Wende" charakterisiert wurde; die Befürworter betonten die alternativlose Notwendigkeit, die sozialen Sicherungssysteme finanziell zu konsolidieren und somit ihre Zukunftsfähigkeit zu sichern. Wieder anderen gingen die Einschnitte während dieser Phase längst nicht weit genug.

Solche eher grobschlächtigen Frontstellungen sind durch die politik- und sozialwissenschaftliche Forschung bereits seit längerem korrigiert worden. An ihre Stelle ist ein hochgradig differenziertes Bild getreten, das einfache Antworten nicht zulässt. Das hier angezeigte Werk legt nun in umfassender, ja monumentaler Weise strukturelle Grundlagen, Konzeptionen und legislative Entwicklung der Sozialpolitik während des genannten Zeitraums dar. Dies beruht ebenso auf der Bilanz der weit verzweigten Einzelforschung wie auf eigenen Forschungsergebnissen der beteiligten Autoren. Nicht nur eine Fülle gedruckter Quellen liegt den Einzelanalysen zu Grunde, sondern auch ausgewähltes ungedrucktes Material, insbesondere aus dem Bundesarchiv und den Parteiarchiven. Ein Quellen- und Literaturverzeichnis von annähernd 100 Seiten und eine CD-ROM mit ausgewählten Dokumenten zeugen von der beeindruckenden Breite der empirischen Basis.

Der Band folgt in seiner Struktur den Vorgaben der Reihe "Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland seit 1945", die vom Bundesministerium für Gesundheit und Soziale Sicherung sowie dem Bundesarchiv herausgegeben wird. In insgesamt siebzehn, enzyklopädisch angelegten Einzelkapiteln werden alle relevanten Bereiche der Sozialpolitik behandelt, vom Arbeitsrecht und der Arbeitsmarktpolitik über den Ausgleich von Kriegs- und Diktaturfolgen, von der Ausländerpolitik bis zur "Internationalen Sozialpolitik", einem Sektor, der im Zuge der Europäisierung des Sozialraums zunehmend an Gewicht gewonnen hat.

Exemplarisch seien einige Schwerpunkte genannt, die sich den zentralen und politisch besonders relevanten Inhalten widmen. Hierzu gehören insbesondere die Abschnitte über Arbeitsmarktpolitik und Arbeitslosenversicherung (Günther Schmid und Frank Oschmiansky), Sicherung bei Alter, Invalidität und für Hinterbliebene (Winfried Schmähl) und Gesundheitswesen und Sicherung bei Krankheit und im Pflegefall (Jürgen Wasem, Gerhard Igl u. a.).

Theoretisch reflektiert, informieren diese Kapitel zunächst differenziert über die strukturellen Probleme, die sich seit dem Ende der Siebzigerjahre in den sozialpolitischen Schlüsselfeldern auftaten. Dies gilt vor allem für die Rückwirkungen der konjunkturellen Abschwungphase, aber auch für die Pfadabhängigkeiten der deutschen Sozialpolitik und das hohe Maß an arbeits- und sozialrechtlichem Bestandsschutz, der die politischen Handlungsspielräume beschränkte. Im Kontext des Problemdrucks werden sodann konzise die Ziele der neuen Bundesregierung, die Einflusslinien der beteiligten Kräfte und schließlich die gesetzgeberischen Etappen behandelt. Ziele, Impulse und vor allem auch Grenzen der Regierungspolitik werden sehr deutlich. Versuche zur Flexibilisierung und Belebung des Arbeitsmarktes wie das Vorruhestandsgesetz von 1984 (257 f.) und das Beschäftigungsförderungsgesetz von 1985 (249 ff.) blieben Maßnahmen mit begrenzter Reichweite. Auch das Gesundheitsreformgesetz von 1988/89 (402 ff.), das gegen den heftigen Widerstand betroffener Verbandsinteressen durchgesetzt wurde, entfaltete nur eine begrenzte und kurzfristige Wirkung. Gleiches gilt für die Rentenreform von 1992 (344 ff.), die, im großen Konsens mit der SPD und den Verbänden sorgfältig vorbereitet, 1989 verabschiedet wurde, aber im Gefolge der deutschen Einheit schon bald nicht mehr ausreichte. Für jedes dieser Reformfelder arbeiten die Einzelbeiträge die große Komplexität der Materie, die sich hieraus ergebenden Sachzwänge und die Begrenztheit politischer Steuerungsversuche heraus. Mehr als einmal wird dabei die Kontinuität der Gesetzgebung zu der der sozial-liberalen Ära hervorgehoben (279, 385, 393). Das gilt auch für die Rentenreform. Obwohl hier mit der Umstellung auf die Nettoanpassung und die Berücksichtigung von Kindererziehungszeiten strukturelle Innovationen erfolgten, handelte es sich doch um eine "Reform im System", die das Versicherungs- wie das Leistungsprinzip unangetastet ließ.

Wenn also die Einzelbeiträge ein analytisch konzises, sachlich zugleich höchst differenziertes Bild zeichnen, so gilt dies auch und erst recht für die umfangreiche systematische Auswertung des Bandherausgebers. Wie bereits andere Arbeiten Manfred G. Schmidts profitiert sie von vorbildlicher Klarheit der Sprache und Analyse sowie von sachlicher Ausgewogenheit. Schmidt resümiert die systembedingten Rahmenbedingungen, über die sich keine Regierung hinwegsetzen konnte. So begrenzten der föderale Aufbau, das Mehrparteiensystem und korporatistische Strukturen von vornherein die zentralen Machtmittel der Bundesregierung. Eine dem "Westminstermodell" folgende Sozialpolitik à la Margaret Thatcher hätte daher, selbst wenn sie es gewollt hätte, von einer Koalition nicht durchgesetzt werden können. Innerhalb der sorgfältigen Analyse solcher strukturellen Rahmenbedingungen räumt Schmidt aber den Motiven und dem Aktionsradius der Akteure nachhaltige Bedeutung ein. Durch die Verknüpfung dieser unterschiedlichen Ebenen, die durch Sichtung theoretischer Ansätze und durch Überlegungen zum "Zeitgeist" der Sozialpolitik bereichert werden, legt Schmidt eine brillante Tiefenanalyse vor. Nicht überraschend erscheinen Norbert Blüm und sein Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung als der überragende sozialpolitische Akteur der Achtzigerjahre. Und Blüm personifizierte gleichsam die "Pfadabhängigkeit" der deutschen Sozialpolitik und das kompromisslose Festhalten an den bewährten Strukturen des Versicherungs- und Leistungsprinzips. Ein wirklicher Systemwechsel wäre mit Blüm ebenso wenig zu machen gewesen wie mit Helmut Kohl, der seinem Arbeits- und Sozialminister "blind" vertraute (794). Grundsätzlich stand die Sozialpolitik der Achtzigerjahre daher eher im Zeichen der Kontinuität als der "Wende" (786-799).

Wenn dieses eindrückliche Werk einen Aspekt weniger zur Geltung kommen lässt, als es vielleicht wünschenswert wäre, so betrifft dies das in Politik- und Geschichtswissenschaft eingehend diskutierte Verhältnis von Politik, Medien und Öffentlichkeit. Praktisch jedes größere sozialpolitische Reform- und Gesetzgebungsvorhaben der Bundesregierung wurde begleitet von einem gewaltigen diskursiven Aufwand und erregte entsprechend lautstarke Diskussionen in der Öffentlichkeit. Dass diese unausweichlich selbst zum materiellen Faktor der Politik wurden und die Sozialpolitik phasenweise erheblich beeinflussten, kommt in dem Band nicht immer klar zur Geltung. Für viele Politiker, vor allem die Mandatsträger war etwa die Frage, wie sie politische Entscheidungen "verkaufen" konnten, von zentraler Bedeutung; und hierin lag unter anderem ein wichtiges Motiv für die in diesem Band häufig dokumentierte "soziale Symmetrie", welche die Sozialpolitik zumindest in den Augen der Unionspolitiker aufweisen sollte.

Auch über manche Einschätzungen kann man geteilter Meinung sein. Ob zum Beispiel der Handlungsspielraum der christlich-liberalen Koalition so groß war, wie Schmidt vermutet (20 ff.), erscheint zweifelhaft. Dies gilt nicht nur für das genannte (Dauer-)Problem der Politikvermittlung in der Öffentlichkeit. Auch das geschickte "Umspielen" der Vetokräfte, das Schmidt zu Recht als ein Kennzeichen der Regierung Kohl charakterisiert (141 ff.), bewirkte wohl eher eine Schrumpfung der Handlungsspielräume. Denn stets musste der zumindest potenzielle Einfluss der "Vetospieler" durch informalisierte Verfahren neutralisiert werden, was schon angesichts der partiellen Heterogenität der Regierungskoalition - mit drei Parteien, drei Parteivorsitzenden, drei Generalsekretären und einer Riege starker "Landesfürsten" - eine mühsame und kräftezehrende Aufgabe war.

Schließlich lassen sich auch die Konsolidierungserfolge der Sozialpolitik in dieser Zeit skeptischer betrachten, als Schmidt dies tut (vgl. 805). Wie in dem Band mehrfach deutlich wird, wurden sie vor allem in der Zeit von 1982 bis 1984, unter dem Druck der Finanzkrise, erreicht. Im Zeichen des konjunkturellen Aufschwungs erfolgte indes erneut eine teilweise expansive Sozialpolitik, insbesondere im Bereich der Familienförderung, aber zum Beispiel auch bei der Etablierung von Pflegeleistungen im Kontext der Gesundheitsreform. Dies schaffte neue Ansprüche und ließ die Sozialausgaben nominal erneut steigen. Die (vorübergehende) Senkung der Staats- und Sozialleistungsquote gegen Ende der Achtzigerjahre relativiert sich daher, zumal wenn man sie vor dem Hintergrund der (vorübergehend) exzeptionell guten Wachstumsraten betrachtet. Man wird wohl kaum um das Urteil herumkommen, dass in der wirtschaftlich überaus erfolgreichen zweiten Legislaturperiode der Regierung Kohl/Genscher eben weder eine langfristige finanzielle Konsolidierung noch eine echte institutionelle Reform der Sozialsysteme gelang. Tatsächlich entkam die Bundesregierung zu keinem Zeitpunkt dem zentralen Dilemma moderner Sozialpolitik: "Sie war zugleich Problemlöser und Problemerzeuger" (804).

Keine abweichende Einschätzung freilich ändert etwas an dem Gesamteindruck: Herausgeber und Autoren haben ein exzellentes, quellen- und detailgesättigtes Gesamtpanorama vorgelegt, das immer auch die großen Linien berücksichtigt. Für künftige Forschungen wird es daher auf lange Zeit Ausgangsbasis und Referenzpunkt zugleich bilden.

Andreas Wirsching