Rezension über:

Thomas Mergel: Parlamentarische Kultur in der Weimarer Republik. Politische Kommunikation, symbolische Politik und Öffentlichkeit im Reichstag (= Beiträge zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien; Bd. 135), Düsseldorf: Droste 2003, 530 S., ISBN 978-3-7700-5249-3, EUR 64,80
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Rezension von:
Manfred Kittel
Institut für Zeitgeschichte München - Berlin
Empfohlene Zitierweise:
Manfred Kittel: Rezension von: Thomas Mergel: Parlamentarische Kultur in der Weimarer Republik. Politische Kommunikation, symbolische Politik und Öffentlichkeit im Reichstag, Düsseldorf: Droste 2003, in: sehepunkte 3 (2003), Nr. 12 [15.12.2003], URL: https://www.sehepunkte.de
/2003/12/3933.html


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Thomas Mergel: Parlamentarische Kultur in der Weimarer Republik

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"Weimar im Weichspülgang", so lässt sich der Eindruck zusammenfassen, den die Lektüre der Bochumer Habilitationsschrift Mergels hinterlässt. Mergel möchte den sehr vom Scheitern der ersten deutschen Demokratie her denkenden "großen Erzählungen" endlich eine, wie er schreibt, "Normalgeschichte" der Weimarer Republik entgegenstellen. Er nimmt Anstoß daran, dass sich die Weimar-Forschung "immer noch" (15) in den von Karl Dietrich Bracher vorgegebenen Kategorien bewege und die parlamentarischen Funktionsdefizite (Verfassungsmängel, mangelnde Kompromissbereitschaft der Parteien et cetera) in den Mittelpunkt der Betrachtung rücke. Doch sein Versuch, der - wie er meint - von einem "gewissen Finalismus" (14) geblendeten Politikgeschichte kulturalistisch - mittels Sprechakttheorie und Diskursanalyse - auf die Sprünge zu helfen, vermag im Ganzen nicht zu überzeugen, weil er "in mikrosoziologischer Perspektive" zwar interessante Neuigkeiten aus dem Alltagsleben des Reichstags zu Tage fördert, dabei aber ein seltsam verfremdetes, geradezu romantisches Bild von der rauen Wirklichkeit der Weimarer Politik zeichnet.

Dass Methoden der Ethnologie und des "symbolischen Interaktionismus" zur Erklärung politischer Geschichte unter Umständen nur bedingt taugen, zeigt sich bereits im "Prolog" der Arbeit, wo die Weimarer Nationalversammlung 1919/20 als "Schule der Politiker" dargestellt wird: In der Abgeschiedenheit der thüringischen Provinz hätten die Mitglieder der Konstituante, bewegt von der Geschichtsträchtigkeit des Augenblicks, eine richtungweisende Kultur der Kooperation entwickelt. So sei etwa bei Sachfragen wie der Diskussion des Kohleförderungsgesetzes (!) schon im Sprachstil der Wille zur Zusammenarbeit erkennbar geworden, ja hätten die Abgeordneten von links bis rechts sich zu einer "Volksgemeinschaft" zusammengefunden. Heftig gestritten worden sei demgegenüber vor allem über Symbole wie die Reichsflagge; doch Mergel sieht darin lediglich "beunruhigende Begleitmusik zu dem sonst beobachtbaren Kooperationsgeist" (64). In dieser Überzeugung fechten ihn auch andere Vorgänge nicht an, die er selbst schildert, wie die Rede Erzbergers vom 25. Juli 1919, der deutschnationalen Politikern ihre ablehnende Haltung gegen Friedensbemühungen während des Krieges vorwarf und von drei Vierteln des Hauses mit "Mörder, Mörder"-Rufen an die Rechte quittiert wurde. Mergels These vom Vertrauensvorschuss, den die Rechte mit ihrem kooperativen Verhalten dem neuen System gewährt habe, sieht zudem darüber hinweg, dass die Nationalliberalen und vor allem die Deutschnationalen nach der Niederlage im Weltkrieg, dem Untergang der Monarchie und der als schmählich empfundenen Flucht des Kaisers argumentativ mit dem Rücken zur Wand standen. Sie konnten - auch angesichts des jüngsten Wahlergebnisses - kaum anders als kleinlaut agieren; doch dies hinderte die DNVP bekanntlich nicht daran, unter dem Druck der Parteibasis das Verfassungswerk schließlich geschlossen abzulehnen und auch bald wieder ganz offen mit einer Monarchie zu liebäugeln.

Im ersten Teil der Arbeit wird der Reichstag als architektonischer, sozialer und symbolischer Raum in den Blick genommen, wobei Mergel streckenweise ausgesprochen fesselnd von den Abgeordneten in ihrer Lebenswelt zu erzählen weiß. Da erfährt man von der Bedeutung der Freifahrt erster Klasse, die ein bayerischer Abgeordneter - um die teuren Übernachtungskosten in Berlin zu sparen - dazu nutzte, des Öfteren den Nachtzug nach München zu nehmen und am nächsten Morgen wieder zurückzufahren; da ist manches zu lesen über Menschliches und allzu Menschliches im Hohen Haus, darüber, wie sehr die weiblichen Abgeordneten als Geschlechtswesen wahrgenommen wurden, man denke nur an die, wie es hieß, "physiologisch höchst bemerkenswerte Erscheinung" der KP-Abgeordneten Ruth Fischer oder an die deutschnationale "Muttel" Behm, die Vorkämpferin der Heimarbeiterinnen, und ihre Vorliebe für dicke Zigarren; und da liest man schließlich von interfraktionellen Formen der Vergesellschaftung und teilweise engen persönlichen Beziehungen zwischen Abgeordneten ganz unterschiedlicher Couleur, die auf parlamentarischen Bierabenden vertieft wurden.

Doch so gerne man Mergel in die - wenngleich wohl ziemlich schlechte - Kantine des Reichstages und in das "überforderte Plenum" oder in die "Dunkelkammer" der Ausschüsse folgt, so sehr fragt man sich spätestens in den folgenden Kapiteln, ob Mergel nicht die "Bedeutung der Querverbindungen" stark überschätzt, die sich aus dem von der Geschäftsordnung bedingten parlamentarischen Miteinander ergaben. Gewiss, die Abgeordneten waren nicht nur politische Menschen, sie hatten eine bestimmte regionale Herkunft, ein Geschlecht, einen Beruf und eine spezifische Biografie, mithin Prägungen, die auch von Mandatsträgern unterschiedlicher Fraktionszugehörigkeit geteilt wurden. Und so wuchsen auch einmal persönliche Freundschaften etwa zwischen dem deutschnationalen Steuerfachmann Günther Gereke und dem Sozialdemokraten Rudolf Hilferding. Nur: Wie viele Gerekes und Hilferdings gab es eigentlich im Reichstag? Wie repräsentativ waren diese Fälle? Oder war es nicht charakteristischer für die parlamentarische Kultur Weimars, dass Gereke eine Einladung an Hilferding zu einem Fest aus Anlass des DNVP-Regierungseintritts wieder zurückziehen musste, weil Fraktionskollegen gedroht hatten, ansonsten selbst fernzubleiben? (Übrigens: Das besagte Fest konnte nicht 1926 stattgefunden haben, weil die DNVP nur 1925 beziehungsweise 1927 in eine parlamentarisch gebildete Regierung eingetreten ist. Oder, als weiteres Beispiel dafür, dass die "harten Fakten" auch von kulturalistischen Historikern nicht zu sehr vernachlässigt werden sollten: Die landwirtschaftlichen Interessenverbände haben die Parteien, anders als Mergel meint (238), keineswegs geschlossen gedrängt, den Young-Plan anzunehmen; ausgerechnet der mächtigste Verband der Agrarier, der Reichslandbund, saß vielmehr im "Reichsausschuß für das Freiheitsbegehren" gegen den Young-Plan.)

In seinem Kernkapitel zur politischen Kommunikation untersucht Mergel die formellen und informellen Regeln parlamentarischer Rhetorik und stößt dabei auf Reden im "Zwar-Aber"-Muster und Höflichkeitsformen zwecks Ermöglichung späterer Zusammenarbeit. Von der SPD bis zur DNVP habe die staatsmännische Sprache der Exekutive vorgeherrscht, lediglich Kommunisten und Völkische hätten sich eines ausschließenden, existenziellen Sprachstils bedient. Das Problematische an diesen Befunden ist die Neigung Mergels, zentrale politische Konflikte inhaltlich zu marginalisieren, indem er die "inklusive Rhetorik" der Abgeordneten im Parlament, die von ihm rezidivierend so genannte "Anschlußfähigkeit" ihrer Aussagen, als entscheidende Realität postuliert. Dabei sei es auch ganz gleichgültig gewesen, ob die Redner ehrlich meinten, was sie sagten, hätten sie doch auf die ausgesprochenen Positionen jedenfalls festgelegt werden können. Dass die gleichen Abgeordneten aber bei ihren Auftritten im Wahlkreis an der Basis tatsächlich oft ganz anders klangen als im Reichstag, dass sie trotz gemeinsamer staatsmännischer Sprache in den Sitzungswochen des Parlaments den Rest des Jahres über vor allem Teil der unterschiedlichsten Milieus blieben, in die Weimars Gesellschaft fragmentiert war, das alles wird in der Studie nicht hinreichend problematisiert. Und das gilt auch für eine essenzielle Frage, die sich doch geradezu aufdrängen müsste, wenn man von einer Kultur der Kooperation ausgeht: Weshalb die so toll kommunizierenden Abgeordneten von der SPD bis zur DNVP sich so schwer damit taten, Regierungen zu bilden, und weshalb sie diese Aufgabe bei Bedarf an "unabhängige Fachleute" delegierten?

Um Antworten darauf zu finden, müsste freilich nicht nur tiefer in der deutschen Parlamentsgeschichte während des Kaiserreichs, sondern auch in der Geschichte des - seit Jahren zunehmend erforschten - protestantisch-konservativen Milieus und vor allem der Deutschnationalen gegraben werden. Diese befanden sich für Mergel auf dem besten Weg zu einer systemtragenden Tory-Partei, deren "stille Republikanisierung" eigentlich am meisten von ihren politischen Gegnern, vor allem von der SPD, gebremst worden sei. Richtig an Mergels Betonung der Chancen der Zwanzigerjahre ist zweifelsohne: Die deutsche Rechte hätte - wie etwa die französische - mittel- und langfristig in das parlamentarische System integriert werden können; und Weimar hätte nicht scheitern müssen, wenn die Weltwirtschaftskrise ausgeblieben wäre, zumindest aber, wenn ein anderer Reichspräsident amtiert hätte oder wenn wenigstens der Reichstag 1930 beziehungsweise 1932 nicht aufgelöst worden wäre. Natürlich ist Mergel auch Recht zu geben, dass das konservative Deutschland keineswegs konstitutionell unfähig war zur Demokratie - die glückliche Entwicklung der Bundesrepublik nach 1945 zeigt dies deutlich genug -, aber die Überlast der politisch-inhaltlichen Probleme nach 1918 in der unter prekärsten Umständen geborenen und auf äußerst wackeligen Füßen stehenden Republik hat eine günstigere Entwicklung von Anfang an und bis 1933 unendlich erschwert.

Selbst bei denjenigen Deutschnationalen, die Mergel mit gutem Grund zu den Gemäßigten rechnet, bei den süd- und westdeutschen Agrarkonservativen, hingen Ende der 1920er-Jahre noch die Kaiserbilder an der Wand und wurden oft genug die Juden für die strukturelle Agrarkrise mitverantwortlich gemacht - auch wenn Antisemitismus in den Reihen der DNVP-Reichstagsfraktion, folgt man der Studie, praktisch keinen Platz mehr hatte. Hugenbergs Machtergreifung innerhalb der DNVP resultierte zudem keineswegs erst aus der "Verengung der Verteilungsspielräume mit der Weltwirtschaftskrise"; seine Wahl zum DNVP-Vorsitzenden ein ganzes Jahr vor (!) dem Schwarzen Freitag in New York im Oktober 1929 hatte vielmehr wesentlich damit zu tun, dass trotz noch so stiller Republikanisierung der DNVP für weite Teile der Partei die erneute Übernahme der Reichskanzlerschaft durch einen Sozialdemokraten in der Großen Koalition 1928 ein ganz und gar unerträglicher Vorgang war, ja nachgerade einen Schock auslöste.

Das Hauptverdienst der Studie Mergels wird forschungsgeschichtlich hoffentlich darin liegen, die lange im Schattenwinkel der Fachöffentlichkeit gestandene Geschichte der DNVP noch einmal gründlicher zu betrachten. Schule machen sollte ein von politischen Inhalten allzu sehr abstrahierender kulturalistischer Ansatz in der Zeitgeschichte aber auch deshalb nicht, weil er auf die bis heute zentrale Frage der Weimar-Historiographie so gut wie jede Antwort schuldig bleibt: Weshalb es dem Nationalsozialismus unter den Bedingungen der parlamentarischen Republik gelingen konnte, zur Massenbewegung zu werden und 1933 die Macht zu übernehmen?

Manfred Kittel