Rezension über:

Pascale Bermon / Dominique Poirel: La cathédrale immortelle ?, Turnhout: Brepols 2023, 232 S., 23 Farb-, 7 s/w-Abb., ISBN 978-2-503-59966-3, EUR 40,00
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Rezension von:
Felix Clayton McClure
St Edmund Hall, University of Oxford
Redaktionelle Betreuung:
Ralf Lützelschwab
Empfohlene Zitierweise:
Felix Clayton McClure: Rezension von: Pascale Bermon / Dominique Poirel: La cathédrale immortelle ?, Turnhout: Brepols 2023, in: sehepunkte 23 (2023), Nr. 9 [15.09.2023], URL: https://www.sehepunkte.de
/2023/09/37816.html


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Pascale Bermon / Dominique Poirel: La cathédrale immortelle ?

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Nach dem katastrophalen Brand von Notre-Dame de Paris am 15. April 2019 wurde ein Kolloquium über die philosophischen, theologischen und historischen Fragen des bevorstehenden Wiederaufbaus geplant. Wegen der COVID-Pandemie wurde das Kolloquium auf unbestimmte Zeit verschoben, weshalb die Entscheidung getroffen wurde, die Beiträge bereits vorab in gedruckter Form zugänglich zu machen. Ergebnis ist ein eklektischer Band mit einem fachübergreifenden Inhalt und verschiedenen Schreibstilen, der dank einer klaren und logischen Struktur über einen bemerkenswert guten Lesefluss verfügt. Jeder seiner vier Abschnitte befasst sich mit einem anderen Aspekt des Wiederaufbaus. Der erste beschreibt die materielle und soziale Geschichte von Notre-Dame, der zweite fokussiert auf geistesgeschichtliche Aspekte. Der dritte befasst sich mit der Geschichte des Wiederaufbaus von Kirchengebäuden und der vierte mit der aktuellen Wiederherstellung von Notre-Dame. Im Buch geht es also nicht immer nur um die Pariser Kathedrale selbst, sondern auch um die Idee der europäischen Kathedrale im Allgemeinen, die von Notre-Dame schon immer symbolisch verkörpert wurde.

Der erste Abschnitt "Construire et animer la cathédrale au Moyen Âge" beginnt mit einer Erläuterung der Architekturgeschichte von Notre-Dame und den theologischen und praktischen Beweggründen der ursprünglichen Bauweise und späterer Ergänzungen der Kathedrale (Dany Sandron). Im folgenden Kapitel wird anhand des Werks Hugos von Saint-Victor die Bedeutung der Kirche als Gebäude (l'église) und als Institution (l'Église) für den Klerus des 12. Jahrhunderts untersucht (Andrea Pistoia). Es folgt ein Beitrag zu den musikalischen Innovationen der École der Notre-Dame, um den kulturellen Beitrag von Notre-Dame in Bezug zu breiteren kulturellen Tendenzen zu setzen (Sylvain Dieudonné). Das vierte Kapitel befasst sich mit den richtungsweisenden Predigten des Bischofs Maurice de Sully und gibt dadurch Einblick in den theologischen Hintergrund von Notre-Dame mit ihrer hohen Bedeutung für die europäische Kultur (Jean Longère).

Der zweite Abschnitt "L'idée de cathédrale" befasst sich zunächst allgemein mit der Idee der Kathedrale und mit ihrer geschichtlichen und kulturellen Unterscheidung von anderen Arten von Kirchen (Dominique Iogna-Prat). Das zweite Kapitel richtet den Blick auf die Behandlung von Notre-Dame in der Literatur und auf die Rolle von Kathedralen in einer Kultur, in der Religion zunehmend durch Literatur ersetzt wurde und wird (Laurent Avezou). Es folgt eine Analyse des Phänomens der brennenden Kathedrale aus kunstphilosophischem Blickwinkel (Maud Pouradier). Besonders hervorzuheben ist Pouradiers Bemerkung, dass sich in der Kathedrale eine Vielzahl philosophischer Themen bündle - Themen, die allesamt mit der Idee der Kathedrale verbunden sind.

Der dritte Abschnitt des Bandes "De la reconstruction à la restauration" behandelt die Wiederherstellung von Kathedralen von einem geschichtlichen Standpunkt aus. Ein Kapitel über Dombrände im Mittelalter (Patrick Demouy) befasst sich mit der Art und Weise, wie solche Katastrophen wahrgenommen und beschrieben wurden. Mit Arnaud Montoux nimmt ein katholischer Priester Stellung zu den theologischen Fragen des Kirchenbaus und der Kirchensanierung. Er ruft zur Vorsicht auf bei den Entscheidungen darüber, was renoviert oder ersetzt werden soll, um so die "amnésies collectives" einer historisch unterschiedslosen Wiederherstellung zu vermeiden. Der Abschnitt endet mit einer Darstellung der Werke und Theorien des legendären Denkmalschützers und Architekten Eugène Viollet-le-Duc, der die Praxis der Denkmalpflege erfunden hat, so wie sie heute verstanden wird (Jean-Michel Leniaud). Im Mittelpunkt steht die Spannung zwischen den Begriffen conservation, entretien und restauration sowie die Frage, was Authentizität bestimmt, und ob die künstlerische Anschauung des jeweiligen Konservators selbst eine Rolle im Wiederaufbau- bzw. Restaurierungsprozess spielen soll.

Der letzte Abschnitt "Restaurer la cathédrale aujourd'hui" führt praktische und akademische Standpunkte zum aktuellen Wiederaufbauprozess zusammen. Überall in diesem Abschnitt sind Anspielungen auf die Werke von Viollet-le-Duc zu finden. Die erste Beiträgerin zu diesem Abschnitt ist herausragend qualifiziert: Es handelt sich bei ihr um die im Kulturministerium für Notre-Dame zuständige Hauptkonservatorin (Marie-Hélène Didier). Sie stellt die Sanierung optimistisch dar, eher als Gelegenheit zur Neubewertung früherer Sanierungsversuche denn vor dem Hintergrund eines Verlusts von historischem Material. Ähnliche Ideen wiederholen sich im folgenden Kapitel, das von den Herausforderungen und Möglichkeiten der Sanierung mittelalterlicher Kirchengebäude handelt (Cécile Coulangeon). Coulangeon hebt die Notwendigkeit hervor, ein Gebäude mit gesteigerter religiöser Bedeutung greif- und verstehbar für die Öffentlichkeit zu machen. Schließlich kehrt das Buch zum Ausgangspunkt zurück mit einem Kapitel über die theologischen Herausforderungen des Wiederaufbaus von Notre-Dame, in dem sich die gleichen Herausforderungen wiederfinden, mit denen Maurice de Sully und seine Zeitgenossen konfrontiert waren (Gilles Drouin).

Die in mehrere Abschnitte gegliederte Struktur des Buches ergibt eine flüssige Lektüre. Manchmal überschneiden sich nachfolgende Kapitel etwas, indem sie die gleichen historischen Figuren oder Themenbereiche erwähnen. Dank der unterschiedlichen Perspektiven der Verfasser*innen, die von Professoren bis zu Priestern reichen, wird das Buch aber nie langweilig. Übergreifende Themen vereinigen auch die vier Abschnitte. Im Mittelpunkt steht das Thema einer unlösbaren Spannung, die sich durch das Aufeinandertreffen widersprüchlicher Ideen ergibt. Das ist keine Überraschung: Kunstphilosophisch gesehen ist die Idee eines zerstörten Domes selbst widersprüchlich (cf. Pouradiers Kapitel). Notre-Dame selbst ist sogar noch paradoxer: die Kathedrale ist gleichzeitig ein sagenumwobenes Denkmal und ein Gebäude mit einer praktischen gottesdienstlichen Funktion; ihr Brand verursachte einen großen kollektiven Aufschrei, trotz ihrer abnehmenden Bedeutung für die Allgemeinheit in religiöser Hinsicht. Die Sisyphusarbeit der aktuell mit dem Wiederaufbau betrauten Fachleute besteht darin, mit diesen Widersprüchen umzugehen.

Obwohl die eher abstrakt gehaltenen Artikel in der Mitte des Bandes etwas schwieriger zu rezipieren sind als der Rest der eher praktisch ausgerichteten Beiträge, wird stets so kontextualisiert, dass der Inhalt verstehbar bleibt. Insgesamt präsentieren sich die in dem vorliegenden Band vereinten Aufsätze geistreich. Sie sind gleichzeitig zugänglich und umfassend.

Felix Clayton McClure