Rezension über:

Mario Klarer (ed.): Piracy and Captivity in the Mediterranean 1550-1810 (= Routledge Research in Early Modern History), London / New York: Routledge 2019, XIII + 281 S., ISBN 978-1-138-64027-6, GBP 36,99
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Mario Klarer (ed.): Mediterranean Slavery and World Literature. Captivity Genres from Cervantes to Rousseau (= Routledge Interdisciplinary Perspectives on Literature), London / New York: Routledge 2019, XIX + 318 S., ISBN 978-1-138-29123-2, GBP 120,00
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Rezension von:
Stephan Conermann
Universität Bonn
Redaktionelle Betreuung:
Peter Helmberger
Empfohlene Zitierweise:
Stephan Conermann: Zwei Sammelbände des Projekts 'European Slaves: Christians in African Pirate Encounters Barbary Coast Captivity Narratives (1550-1780)' (Rezension), in: sehepunkte 22 (2022), Nr. 3 [15.03.2022], URL: https://www.sehepunkte.de
/2022/03/36898.html


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Zwei Sammelbände des Projekts 'European Slaves: Christians in African Pirate Encounters Barbary Coast Captivity Narratives (1550-1780)'

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Aus dem von dem Österreichischen Wissenschaftsfond geförderten Projekt "European Slaves: Christians in African Pirate Encounters Barbary Coast Captivity Narratives (1550-1780)" (ESCAPE) sind unter anderem zwei Sammelbände hervorgegangen, die einander ergänzen. Widmet sich "Piracy and Captivity in the Mediterranean: 1550-1810" dem historischen Hintergrund der Sklaverei- und Gefangenschaftsberichten, so steht bei "Mediterranean Slavery and World Literature: Captivity Genres from Cervantes to Rousseau" die literaturwissenschaftliche Analyse solcher Texte im Mittelpunkt.

Der erste Band setzt ein mit Mario Klarers informativen Einführung in die Thematik. Der Handel mit Menschen war in der Frühen Neuzeit ein fester Bestandteil der Lebenswelt und der Handelspraktiken entlang beider Seiten des westlichen Mittelmeeres. Die Gefangenen wurden sowohl von den christlichen wie auch von den muslimischen Akteuren als Sklav*innen verkauft und in den Haushalten in verschiedenen Tätigkeiten oder auf den Schiffen als Ruderer eingesetzt. Grundsätzlich betrachtete man die meisten von ihnen als Geiseln, die man gegen Lösegeld loskaufen konnte. Die Gelder flossen auf europäischer Seite sowohl durch offizielle wie auch inoffizielle Kanäle. Der Trinitarier- und der Mercedarierorden hatten sich auf den Freikauf von Gefangenen in Nordafrika spezialisiert. Auf protestantischer Seite bildete man für diesen Zweck Sklavenkassen. Die muslimischen Herrschaftsverbände kümmerten sich ebenfalls in größerem Maßstab um die Rückholung ihrer Religionsgenoss*innen aus den christlichen Gebieten. Allerdings ist die Quellenlage sehr ungleich. Über die muslimischen Sklaven in den südlichen Gebieten Europas wissen wir so gut wie nichts, wohingegen uns Gefangenenberichte, Briefe und dokumentarisches Material und seit dem 18. Jahrhundert auch Zeitungsartikel einen guten Einblick in die Welt der nach Nordafrika verschleppten Europäer*innen liefern.

Auf die einleitenden Bemerkungen folgen 13 Beiträge, die sich auf die vier Themenbereiche "Arbeit und Recht", "Heimat und Hypridität", "Diplomatie und Befreiung" sowie "Opposition und Andersartigkeit" verteilen. (1) Labor and Law. Mario Klarer beginnt mit einer (literatur)historischen Einordnung von Balthasar Sturmers 1558 angefertigten Bericht über seine Zeit in Algier. Daniel Vitkus präsentiert danach anhand englischsprachiger captivity narratives einen Überblick über die Entstehung eines globalen Marktes für den Handel mit Menschen jenseits des Transatlantischen Sklavenhandels. Die neuen (proto-)kapitalistischen Rahmenbedingungen und der permanente Kriegszustand zwischen den Kolonialmächten auf den Weltmeeren begünstigten den rasanten Aufstieg der Piraterie im 16. und 17. Jahrhundert. Vor diesem Hintergrund entwickelte sich eine Nachfrage nach vermeintlich authentischen Gefangenschaftsberichten. Neben interessanten geographischen und ethnographischen Informationen wollten die Leser auch in Form spannender Abenteuer unterhalten werden. Wie diese Erwartungshaltungen bedient wurden, zeigt Vitkus sehr schön am Beispiel von Richard Hasletons 1595 erschienenen "Strange and Wonderful Things Happened to Richard Hasleton ... in His Ten Years' Travails in Many Foreign Countries" (London 1595).

Walter Reich befasst sich in einem sehr interessanten Beitrag mit den rechtlichen Rahmenbedingungen: Aus europäischer Sicht waren die nordafrikanischen Gegner ihren europäischen Kontrahenten in der alltäglichen Praxis juristisch gesehen gleichgestellt. Dies galt auf jeden Fall, solange der Feind - wie etwa lange Zeit das Osmanische Reich - ebenbürtig war. Lokal war man stets bereit, pragmatisch zu handeln. Diese Sichtweise änderte sich schlagartig, als auf der anderen Seite Schwächen deutlich wurden. Auf einer normativ-konzeptionellen Ebene wurde vor diesem Hintergrund spätestens seit dem 18. Jahrhundert ein universalistischer Diskurs, der von der universellen Rationalität des (aufklärerisch interpretierten) Naturrechts ausging, zur Rechtfertigung der europäischen Vorherrschaft in den Überseegebieten genutzt. Europa setzte man mit Ordnung und Zivilisation gleich, die osmanische Welt und Nordafrika mit Anarchie und Barbarei. Ein kurzer Beitrag von Peter Mark, der sich mit dem Bericht von António de Saldanha, der sich an der Wende zum 17. Jahrhundert 14 Jahre lang als Geisel in Marrakesch aufhalten musste, auseinandersetzt, beschließt diesen ersten Teil des Sammelbandes.

(2) Home and Hybridity. In diesem Teil geht es um die mentalen Brüche, die eine Gefangennahme und Versklavung natürlicherweise bei den Persönlichkeiten der Betroffenen hinterlässt. Die Erfahrungen müssen verarbeitet werden und neue Identitäten entwickeln sich, die häufig genug sowohl in der einen wie auch in der anderen Kultur zuhause sind. Unter Auswertung zahlreicher autobiographischer sowie fiktionaler Texte, die seit den 1790er Jahren von in Nordafrika in Gefangenschaft geratenen Amerikaner*innen verfasst wurden, beschreibt Anna Diamantouli dieses Phänomen am Beispiel von zum Islam konvertierten Personen. Die Identitätskrisen der Rückkehrer hat dann auch der Beitrag von Robert Spindler zum Gegenstand. Wie Freilassung und Loskauf funktionierten, erfahren wir von Christine E. Sears. Sie verfolgt die Odyssee des amerikanischen Capt. James Riley und seiner Crew, die 1815 mit ihrem Schiff an der westafrikanischen Küste strandeten.

(3) Um das große Thema "Diplomacy and Deliverance" dreht sich der nächste Abschnitt. Robert Relisch stellt uns Michael Heberer vor, der 1585 in osmanische Kriegsgefangenschaft geriet. Drei Jahre verbrachte er als Sklave auf einer Galeere. Nach seiner Freilassung und Rückkehr nach Deutschland unternahm er eine Reihe von Reisen. Von diesen und seinen Erlebnissen im Osmanischen Reich berichtet er in seiner 1610 in Heidelberg erschienen "Aegyptiaca Servitvs: Das ist/ Warhafte Beschreibung einer Dreyjährigen Dienstbarkeit/ So zu Alexandrien in Egypten ihren Anfang/ vnd zu Constantinopel ihr Endschafft genommen: Mit zwo angehenckten Reisen/ die er nach seiner Dienstbarkeit/ in Vier Königreich/ Böhem/ Polen/ Schweden/ Dennemarckt ... vollbracht / Gott zu Ehren/ und dem Nechsten zur Nachrichtung/ in Drey unterschiedene Bücher außgetheilet/ und mit etlichen Kupfferstücken in Druck verfertiget Durch Michael Heberer von Bretten". Stehen bei Khalil Bekkaoui Gesandtschaftsbesuche und der damit verbundene Austausch von Waren (einschließlich Menschen) im Mittelpunkt, so arbeitet Andrea Pelizza die Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen der in Brügge angesiedelte "Broederschap der Alderheylighste Dryvuldigheyt" und der Venezianische "Confraterità della Santissima Trinità" heraus, die beide mit dem Loskauf von (katholischen) Sklaven aus muslimischen Ländern befasst waren.

(4) Oppositions and Otherness. Diana de Armas Wilson macht uns mit einem der interessantesten Kapitäne aus dem 16. Jahrhundert bekannt, nämlich mit dem Korsaren, Machthaber von Algier und osmanischen Admiral Khayr al-Din Barbarossa (gest. 1546). Obgleich mannigfaltige relevante Quellen auf uns gekommen sind, liegt noch keine wirklich überzeugende Monographie über ihn vor. Ebensowenig erforscht ist bedauerlicherweise die schon allein wegen ihres Umfanges, aber auch hinsichtlich ihres Inhaltes einzigartige "Histoire chronologique du royaume de Tripoly de Barbarie" (2 Bde. 1685. Bibliothèque nationale, Fonds français 12199-21220). In ihrem Artikel kann Gillian Weiss nachweisen, dass der Text wohl von dem französischen Crypto-Hugenottischen Chirurg Pierre Girard stammt, der 13 Jahre in Gefangenschaft in Tripolis verbrachte. Erst in dem letzten Beitrag des Sammelbandes kommt die muslimische Sicht zur Sprache. Das kann, wie gesagt, damit erklärt werden, dass wir nur ganz wenige arabische autobiographische Texte haben, die die Sichtweise der nach Europa verschleppten Gefangenen wiedergeben könnten. Nabil Matar nennt dafür drei Gründe: Zum einen fehlt auf islamischer Seite das Motiv der Gefangenschaft als ein für begangene Sünden auferlegtes Leiden. Zum anderen konnte in der islamischen Welt die Figur des "Gefangenen" nicht so in die Öffentlichkeit hinein transportiert werden wie in der von der katholischen Kirche kontrollierten Welt. Und schließlich existierten keine ständigen Vertretungen muslimischer Repräsentanten in europäischen Hafenstädten, die permanent als Zwischenhändler bei dem Freikauf von Sklav*innen fungieren konnten. Anhand von zwei Beispielen zeigt Matar, dass arabische Berichte oft nur als Einschübe in größeren Werken zu finden sind. Deren Autoren ließen sich mündlich von den Erlebnissen erzählen und formten dann daraus die entsprechenden Abschnitte in ihren Chroniken.

Der Sammelband bietet viele faszinierende Einblicke in ein sehr spannendes Themenfeld und liefert erste Interpretationen eines bisher erst sporadisch untersuchten Materials. Die Beiträge sind zum Teil sehr kurz, man hätte sich bisweilen tiefergehende Analysen gewünscht.

Das gilt auch für den zweiten Sammelband, in dessen Mittelpunkt europäische literarische und andere mediale Imaginationen von Seeräuberei, Sklaverei, Gefangenschaft, Muslim*innen sowie von islamischen Gesellschaften und ihren Alltagspraktiken stehen. Sehr interessant sind die drei ersten Beiträge, die sich mit dem Genre an sich befassen. Mario Klarer argumentiert anhand der von Rudolf von Ems um 1200 niedergeschriebenen Erzählung "Der guote Gêrhart" plausibel, dass es falsch ist, immer von einer Entwicklung von authentischen Berichten hin zu einer rein fiktionalen Textform auszugehen. Alle Elemente, die eine gute "Robinsonade" ausmachen, seien bereits in diesem frühen Text angelegt. Marcus Hartner und Joachim Östlund geben uns dann am Beispiel von englischen und schwedischen captive narratives informative Einsichten in gattungsspezifische Dynamiken und narrative Strategien. Wie geschickt einzelne Autoren in Hinblick auf die Literarisierung des Themas in ihren Werken vorgingen, offenbaren Michael Ross', Stefanie Frickes und Magnus Ressels Untersuchungen zu ausgewählten Texten von Miguel de Cervantes (gest. 1616 - Los baños de Argel, 1615 und El trato de Argel, 1580), Lope de Vega (gest. 1635 - Los cautivos de Argel, 1599), Penelope Aubin (gest. wohl 1738 - The Noble Slaves, 1722), Elizabeth Marsh (gest. 1785 - The Female Captive, 1769) und Annette von Droste-Hülshoff (gest. 1848, Die Judenbuche, 1842). Mit den zum Teil sehr verworrenen Publikationsgeschichten von Gefangenschaftsberichten und den intertextuellen Bezügen innerhalb dieser Gattung befassen sich Lisa Kattenberg und Robert Spindler in ihren Beiträgen "The Free Slave: Morality, Neostoicism, and Publishing Strategy in Emanuel d'Aranda's Algiers and It's Slavery (1640-82) bzw. "The Robinsonade as a Literary Avatar of Early Nineteenth-Century Barbary Captivity Narration").

Ein weites Feld stellt die Rezeption des Themas in nicht-textlichen Medien dar. Natürlich kommt einem sofort Wolfgang Amadeus Mozarts (gest. 1791) Singspiel Die Entführung aus dem Serail mit dem Libretto von Johann Gottlieb Stephanie (gest. 1800) in den Kopf. Im Rahmen des Sammelbandes liefert Kurt Palm eine interessante Interpretation der Oper. Ein anderes Medium sind die bildlichen Darstellungen der beiden Kupferstecher Andreas Matthäus Wolffgang (gest. 1736) und Johann Georg Wolffgang (gest. 1744), die im Zuge ihres Zwangsaufenthaltes in Algier entstanden sind. Hanspeter Ruhe ordnet sie in das damals beliebte Genre des Kostüm- oder Trachtenbuches ein. Wie unterschiedlich die Erinnerung zweier Personen an ein und dasselbe Ereignis sein können, führt uns Lotfi Ben Rejeb in seinem Artikel vor Augen. 1806 publizierte der Offizier Jonathan Cowdery einen autobiographischen Bericht über seine Erlebnisse während seiner Gefangenschaft in Tripoli. Nachdem sein Kriegsschiff Philadelphia während des Amerikanisch-Tripolitanischen Krieges (1801-1805) aufgebracht worden war, wurde er zusammen mit der Besatzung 20 Monate in der Stadt inhaftiert. Allerdings trennte man die Offiziere von dem Rest der Mannschaft. Sein Text spiegelt somit die Sicht eines aufgrund seines Ranges privilegierten Gefangenen. Eine ganz andere Darstellung präsentiert uns der gemeine Seemann William Ray in seinem 1808 vorgelegten "Slavery, or, The American Tars in Tripoli". Der Vergleich ist sehr erhellend und literatur- und kulturwissenschaftlich spannend.

Die letzten drei Artikel drehen sich nicht mehr um Narrationen über Gefangenschaft, sondern fokussieren auf politisch-philosophische Diskurse. Jeremy D. Popkin entwirft auf der Basis einer gründlichen Lektüre des eher unbekannten "Émile et Sophie, ou les Solitaires" eine neue Perspektive auf Jean-Jacques Rousseaus (gest. 1778) Verhältnis zur Sklaverei. Samuel Sewalls (gest. 1730) "The Selling of Joseph" aus dem Jahr 1700, mit dem sich Carsten Junker auseinandersetzt, gilt als einer der ersten Texte des amerikanischen Abolitionismus. "Robinson Crusoe" (1719) kennt jeder, aber was wissen wir über Daniel Defoe? In seinem Aufsatz "Defoe, Salvery, and Barbary" stellt George A. Starr den berühmten Roman in den Kontext des Defoeschen Œuvre, um die Position des Autors zur Frage der Versklavung von Menschen zu bestimmen. "What Defoe proposes," so Starr, "is not really an anti-Muslim or anti-slavery campaign, but an anti-piracy operation. To Barbary piracy his chief objection is not moral, religious, or racial, but commercial. Because transporting and employing slaves from Africa is crucial to England's trade, and thus to what Defoe regards as the nation's most vital interest, he forthrightly defends it. Because piracy based in North Africa hurts trade, and thus jeopardizes England's most vital interest, he wholeheartedly attacks it." (288)

Die beiden hier besprochenen Bände gehören, wie erwähnt, zusammen. Sie bieten dem Leser/der Leserin ein breites Panorama von inhaltlichen und analytischen Zugängen zu dem übergeordneten Projektthema "European Slaves: Christians in African Pirate Encounters Barbary Coast Captivity Narratives (1550-1780)." Zählt man die Promotion von Robert Spindler, den Katalog zur Ausstellung anlässlich der 350-Jahrfeier der Universität Innsbruck und die ebenfalls von Mario Klarer herausgegebene Anthologie mit relevanten Primärtexten dazu, so sind die Ergebnisse, die aus dem Verbundvorhaben hervorgegangen sind, wirklich eindrucksvoll.

Stephan Conermann