Rezension über:

Stephan Conermann / Gül Şen (eds.): Slaves and Slave Agency in the Ottoman Empire (= Ottoman Studies / Osmanistische Studien; Bd. 7), Göttingen: V&R unipress 2020, 448 S., ISBN 978-3-8471-1037-8, EUR 60,00
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Rezension von:
Markus Koller
Fakultät für Geschichtswissenschaft, Ruhr-Universität Bochum
Redaktionelle Betreuung:
Sebastian Becker
Empfohlene Zitierweise:
Markus Koller: Rezension von: Stephan Conermann / Gül Şen (eds.): Slaves and Slave Agency in the Ottoman Empire, Göttingen: V&R unipress 2020, in: sehepunkte 21 (2021), Nr. 11 [15.11.2021], URL: https://www.sehepunkte.de
/2021/11/34485.html


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Stephan Conermann / Gül Şen (eds.): Slaves and Slave Agency in the Ottoman Empire

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Derzeit sind Formen der Unfreiheit wie die Sklaverei nicht nur ein Thema wissenschaftlicher Forschung, sondern vielmehr haben diese Phänomene in nicht wenigen Teilen der Welt immer noch eine gesellschaftliche und politische Wirkmächtigkeit. Allerdings ist es keineswegs immer einfach, den Begriff "Sklaverei" bzw. "Sklave/Sklavin" präzise und mit einem gewissen Anspruch auf Allgemeingültigkeit zu definieren. Die HerausgeberInnen des vorliegenden Sammelbandes haben sich aus sehr nachvollziehbaren Gründen dafür entschieden, von Formen starker asymetrischer Abhängigkeit zu sprechen, [...] to avoid the dichotomy of slavery and freedom, and to explain (and explore) what lies between these two binaries." (12). Die Publikation fügt sich somit konzeptionell in methodisch-theoretische Ansätze ein, die im Kontext des Bonner Exzellenzclusters "Beyond Slavery and Freedom" und des ebenfalls in Bonn angesiedelten Center for Dependency and Slavery Studies bereits seit längerer Zeit diskutiert werden. In der letztgenannten Institution fand vom 28.-30. Juni 2018 eine Tagung zum Thema "New Perspectives on Slavery: The Ottoman Empire" statt, deren Beiträge den vorliegenden Sammelband bilden. Die Aufsätze verfolgen eine zentrale Fragestellung, die sich dann auch in der sehr guten Konzeption des Sammelbandes widerspiegelt. Im Kern gehen sie der Frage nach, welche "Interagency" Sklavinnen und Sklaven im Rahmen der gegebenen sozialen, ökonomischen und rechtlichen Gegebenheiten ausüben konnten. Die Leitfrage wird schließlich noch durch einen einleitenden Aufsatz in die Debatten eingebunden, die in der Historiographie zur Sklaverei verhandelt wurden und aktuell werden. Diese Grundlage gewährleistet schließlich einen großen Erkenntnisgewinn nicht nur für OsmanistInnen, sondern auch für interessierte LeserInnen aus anderen historischen Disziplinen.

Wer sich der "Interagency" von "unfreien Personen" im Osmanischen Reich zuwendet, steht zunächst vor der Frage, welche Schriftquellen eine Annäherung an diesen Aspekt der Sklaverei erlauben. Zahlreiche Studien haben sich diesbezüglich bisher mit den Erinnerungen oder Aussagen (u.a. vor der spanischen Inquisition) von Sklaven beschäftigt, die in ihre christlichen Herkunftsländer zurückgekehrt waren. Dieser Quellenfundus spielt allerdings in den Beiträgen nur eine untergeordnete Rolle. Die meisten Aufsätze konzentrieren sich auf Verwaltungsquellen, von denen sich insbesondere Gerichtsprotokolle oder auch Beschwerdeschriften als sehr aussagekräftig erweisen. Auf deren Grundlage kann beispielsweise gezeigt werden, wie Freigelassene auch Jahre oder Jahrzehnte nach ihrer Freilassung immer wieder ihren Status nachweisen mussten oder eben auch konnten. Ein eigenes Gericht innerhalb des Palastes behandelte beispielsweise Beschwerden von ehemaligen Sklavinnen, die nunmehr in anderen Teilen des Reiches lebten, aber zum Teil immer noch Anspruch auf Versorgungsleistungen hatten. Einzelne Aufsätze beinhalten auch umfangreiche Datensätze, die durch die Auswertung osmanischer Dokumente gewonnen werden konnten, etwa die Namen von Sklavenhändlern in Istanbul oder biographische Angaben über Sklavinnen und Sklaven, die sich aus osmanischen Zensusangaben in Palästina ergeben.

Eine analytische Einschätzung der "Interagency" im Herrschaftsbereich der Sultane bedarf auch immer eines Vergleichs mit anderen frühneuzeitlichen Großreichen. Die Imperienforschung hat hierzu bereits zahlreiche Untersuchungen vorgelegt, deren wichtigste Ansätze im einleitenden Historiographiebericht thematisiert werden. Der vorliegende Sammelband richtet seinen Blick zunächst auf die Bedingungen im Reich der Moguln auf dem indischen Subkontinent, wo - im Vergleich zum Osmanischen Reich - bedeutend weniger themenbezogene Verwaltungsquellen zur Verfügung stehen. Das weitgehende Fehlen von Gerichtsdokumenten sei hier beispielhaft erwähnt. So bleiben vor allem literarische Quellen oder die Bestände europäischer Handelskompanien. In diesem vergleichenden Beitrag werden auch unterschiedliche Typologien von "Sklaven" angesprochen, gerade in Bezug auf das osmanische kul-System. Der Beitrag zum russischen Zarenreich richtet den Fokus auch auf die Frage, welche theologisch-ethische Dimension der Freikauf von Gefangenen oder der Umgang mit Gefangenen/"Sklaven" auch im politischen Diskurs vorwiegend des 16. Jahrhunderts einnahm. Diese Fragestellung würde sich sicherlich für weitere diskursanalytische Vergleichsstudien anbieten. Zu den Regionen, die im Sklavenhandel mit dem Osmanischen Reich eine zentrale Rolle spielten, gehörte die Krim. Es ist daher umso erstaunlicher, dass - zumindest innerhalb der Osmanistik - nur sehr wenige Informationen über die sozialen Strukturen in Bezug auf Sklaverei vorliegen. Der entsprechende Beitrag im Sammelband zeigt auf, wie die Abtretung von Sklaven und Sklavinnen auch als Nachweis von Loyalität gegenüber dem Khan der Krim als Oberherrn abchasischer Beys zu lesen ist. Aber gerade dieses Thema unterstreicht die Notwendigkeit, die Fragestellung des Sammelbandes noch viel intensiver in interdisziplinären Kontexten zu diskutieren.

Insgesamt ist die vorliegende Publikation ein wichtiger Beitrag zur Erforschung der Sklaverei im Osmanischen Reich. Er trägt wesentlich dazu bei, die oftmals stark empirischen Publikationen mit aktuellen methodisch-theoretischen Debatten nicht nur innerhalb der Geschichtswissenschaften zu verbinden. Es bleibt dem Rezensenten nur zu hoffen, dass künftig noch intensiver imperienvergleichende Ansätze in dieses Forschungsfeld einfließen.

Markus Koller