Rezension über:

Christoph Haack: Die Krieger der Karolinger. Kriegsdienste als Prozesse gemeinschaftlicher Organisation um 800 (= Ergänzungsbände zum Reallexikon der Germanischen Altertumskunde; Bd. 115), Berlin: de Gruyter 2020, X + 273 S., ISBN 978-3-11-062614-8, EUR 109,95
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Rezension von:
Volker Scior
Historisches Institut, Friedrich-Schiller-Universität, Jena
Redaktionelle Betreuung:
Jürgen Dendorfer
Empfohlene Zitierweise:
Volker Scior: Rezension von: Christoph Haack: Die Krieger der Karolinger. Kriegsdienste als Prozesse gemeinschaftlicher Organisation um 800, Berlin: de Gruyter 2020, in: sehepunkte 21 (2021), Nr. 10 [15.10.2021], URL: https://www.sehepunkte.de
/2021/10/34474.html


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Christoph Haack: Die Krieger der Karolinger

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Das Lehnswesen als zentrales Unterscheidungsmerkmal des Mittelalters gegenüber anderen Epochen anzusehen, gehört zwar immer noch zum Standardwissen in Schulbüchern, ist jedoch nach dem aktuellen state of the art der Frühmittelalterforschung so nicht mehr haltbar. Seit Susan Reynolds bahnbrechendem Buch 'Fiefs and Vassals' aus dem Jahr 1994 haben diverse Studien belegt, dass es sich bei der Vorstellung vom Lehnswesen als zentralem sozialen, politischen und wirtschaftlichen Strukturelement des Mittelalters eher um eine Konstruktion späterer Zeiten handelt. Dass Kriege für das Karolingerreich eine wichtige Rolle spielten, ist dagegen unumstritten. Die Tübinger Dissertation Christoph Haacks knüpft an Forschungen zum Lehnswesen und zur Militärgeschichte an, indem sie nach der Organisation und Struktur der karolingischen Armee zur Zeit Karls des Großen und Ludwigs des Frommen fragt. Das engere militärhistorische Thema ordnet sie kenntnisreich und souverän in größere verfassungs- und kulturwissenschaftliche Fragestellungen ein. Vor allem dies macht die Studie, die durchweg stringent, meist in knappem, forschem, zuweilen fast zu selbstbewusstem Stil formuliert ist, lesenswert.

Nach der Einleitung (1-9) folgt die Arbeit einem streng durchgehaltenen Aufbau, dessen Klarheit sich in Thesenbildung und Argumentation widerspiegelt. Werden zunächst drei in der deutsch- und englischsprachigen Forschung vertretene Ansätze zur Erklärung der Organisationsstruktur der karolingischen Armee erläutert - (a) das Lehnswesen, (b) die allgemeine Heerespflicht bzw. Wehrpflicht sowie (c) das 'warband' bzw. die Privatarmee oder Beutekrieger - (16-68), so macht sich der Verfasser im folgenden Abschnitt daran, diese als Konstruktionen unterschiedlicher Forschungsperspektiven zu entlarven (69-110), um anschließend wiederum eigene Modelle zu errichten (111-210) und daraus dann fünf Thesen abzuleiten (211-228).

Die drei genannten Modelle enthüllt Haack als Konstrukte, indem er die entsprechende Forschungsliteratur als perspektivgebundene Interpretation ihrer jeweiligen Zeit ansieht. Kaum miteinander verknüpft, entstanden so die Ansichten, das karolingische Heer sei entweder (ausschließlich) durch die Beziehung zwischen Lehnsherr und Vasall zustande gekommen oder durch eine Wehrpflicht der Freien oder durch auf Gefolgschaft gegenüber einem 'warlord' beruhende Privatarmeen. Militärgeschichtlich im engeren Sinn schließt sich hier die Frage an, ob man es bei der Armee der Karolinger mit einem großen Massenaufgebot, also einem Volksheer, oder mit kleinen Scharen spezialisierter Reiter, also einer Art mittelalterlichem Berufsheer, zu tun hat. Dass die Frage der Zusammensetzung des Heeres überhaupt so unterschiedlich gesehen wird, hängt damit zusammen, dass man die ohnehin nur sehr wenigen zeitgenössischen Texte zum Thema betrachtet hat, indem man von ganz unterschiedlichen Blickwinkeln auf die Herrschaftsstrukturen der Karolinger ausging. Von manchen als eher privat, von anderen als eher öffentlich angesehen, ist hier ein Dualismus konstruiert worden, den der Verfasser zurecht nicht teilt. Die Literaturbasis dieses stringenten Kapitels lässt manch neueren Titel über die karolingischen Herrschafts- und Kommunikationsbedingungen vermissen, und manchmal beschleicht einen der Eindruck, dass Haack, obwohl seine Beobachtungen richtig sind, die drei Modelle auch deshalb so stark voneinander unterscheidet, damit er sich danach selbst leichter davon absetzen kann. Die anschließend folgende Dekonstruktion der bisherigen Ansätze führt letztlich zur Ansicht, dass die Vasallen eben keine Berufskrieger waren, sondern dass sie vom König für ganz unterschiedliche Dienste eingesetzt wurden. Zwar habe eine von personalen Bindungen und Freiwilligkeit losgelöste allgemeine Heerespflicht bestanden, jedoch lasse sich anhand der Kapitularien erkennen, dass diese nicht die gesamte Armee erfasste, sondern dass vielmehr die Gefolgschaft gegenüber dem Herrscher als 'warlord' ebenfalls eine Rolle gespielt habe.

Aus dieser forschungsgeschichtlich gewonnenen Perspektive schöpft Haack nun im quantitativ größten, fast die Hälfte seiner Arbeit umfassenden Teil seine eigene Perspektive in fundierter Auseinandersetzung mit zeitgenössischen Texten unterschiedlicher Gattungen. Aus Kapitularien schließt er auf eine persönliche, hierarchische Nahbeziehung zwischen senior und homo, die er jedoch nicht mehr generell als Lehnsherr und -mann ansieht, sondern, im Anschluss an althistorische Forschungen, als Patron-Klient-Relation in verschiedensten Zusammenhängen auch außerhalb des Lehnsrechts. Die Briefe des Gelehrten Einhard dienen dem Nachweis, dass das Beziehungsgeflecht eines senior inmitten hierarchisch über-, gleich- oder untergeordneter Personen vielschichtig und von seinen militärischen Beziehungsgeflechten nicht zu trennen war. Urbare und Polyptycha aus dem Bereich klösterlicher Grundherrschaften zieht Haack als militärhistorisch verwertbare Texte heran, weil die dort enthaltenen Angaben zum Besitz und zu den Verpflichtungen der Kirche bzw. der klösterlichen Amtsträger halfen, den Kriegsdienst zu systematisieren. Weitere Ausführungen richten sich auf den Fall des exemplarisch als karolingerzeitlicher Krieger vorgestellten Johannes "des Spaniers" und seiner gesellschaftlichen wie militärischen Vernetzungen unter Karl dem Großen und Ludwig dem Frommen, auf die Vorbereitungen für einen Feldzug Kaiser Lothars I. nach Korsika im Jahr 825 sowie auf das Kapitel über den Kriegsdienst im sogenannten Wormser Corpus von 829, als unter den beiden Kaisern Ludwig dem Frommen und Lothar I. versucht wurde, die Organisation der Kriegsdienste, auch die Anzahl der benötigten Truppen, vorab zu berechnen, um Krisen und militärischen Bedrohungen gegenüber gewappnet zu sein.

Haack kommt zu dem Fazit, dass sämtliche Arten gemeinschaftlicher Aktionen, auch die Kriegsdienste, über personale Netze gestaltet wurden. An die liberi homines der Kapitularien richtete sich die Erwartung des Herrschers, gemeinschaftliche Aufgaben zu übernehmen, unter denen eben auch Kriegsdienste waren. Entsprechend erteilt Haack denn auch bisherigen Erklärungsmodellen eine Absage: Weder aus Vasallen noch hochspezialisierten Reiterkriegern noch Armeen eines 'warlords' allein rekrutierte sich die karolingische Armee. Schon gar nicht habe der (nicht nachweisbare) fränkische Panzerreiter die Vorform des späteren Ritters gebildet. Während diese Ergebnisse für sich genommen nicht neu sind, überzeugt die Einordnung in die größeren Zusammenhänge, die der Verfasser sehr klar formuliert. Es gab weder eine karolingische Berufsarmee noch eine durchgreifende Hierarchie, die lediglich auf Befehl und Gehorsam gegründet hätte. Vielmehr beruhten der Aufbau und die Organisation des Heeres auf hierarchischen Patron-Klient-Beziehungen, die immer wieder hergestellt werden mussten. Haack rechnet daher eher mit zahlenmäßig größeren karolingischen Heeresverbänden, allerdings gibt es aufgrund der schlechten Quellenlage zu diesem Aspekt keinerlei Sicherheit. Stellt man erstens die teilweise etwas vergröbernde Darstellung älterer Studien in Rechnung, aus der die manchmal etwas zu selbstbewusst vorgetragenen Ansichten resultieren, berücksichtigt man zweitens, dass sich der Untersuchungszeitraum auf die Regierungszeiten Karls des Großen und Ludwigs des Frommen beschränkt, während die karolingische Zeit davor und danach nicht oder nur am Rande thematisiert wird, dann bleibt doch unter dem Strich positiv zu konstatieren, dass die Dissertation ihr militärhistorisches Thema forschungsgeschichtlich einordnet und eigene Denkansätze präsentiert, die zukünftige Diskussionen in jedem Fall bereichern werden.

Volker Scior