Rezension über:

Victoria Shmidt (ed.): The Politics of Disability in Interwar and Socialist Czechoslovakia. Segregating in the Name of the Nation (= Heritage and Memory Studies), Amsterdam: Amsterdam University Press 2019, 252 S., ISBN 978-94-6372-001-4, EUR 99,00
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen

Rezension von:
Natali Stegmann
Institut für Geschichte, Universität Regensburg
Redaktionelle Betreuung:
Christoph Schutte
Empfohlene Zitierweise:
Natali Stegmann: Rezension von: Victoria Shmidt (ed.): The Politics of Disability in Interwar and Socialist Czechoslovakia. Segregating in the Name of the Nation, Amsterdam: Amsterdam University Press 2019, in: sehepunkte 21 (2021), Nr. 5 [15.05.2021], URL: https://www.sehepunkte.de
/2021/05/35790.html


Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.

Andere Journale:

Diese Rezension erscheint auch in der Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung.

Victoria Shmidt (ed.): The Politics of Disability in Interwar and Socialist Czechoslovakia

Textgröße: A A A

In der spätsozialistischen Tschechoslowakei wurden bekanntermaßen in einem beträchtlichen Ausmaß Romafrauen zur Abtreibung und/oder zur Sterilisation gedrängt, um diese Bevölkerungsgruppe an der vermeintlich übermäßigen Fortpflanzung zu hindern. Wie viele Frauen genau den auf der Grundlage einschlägiger Verordnungen geschaffenen Anreizen nachgaben, weiß niemand. Der vorliegenden Studie geht es darum, die politik- und wissenschaftshistorischen Ursachen hierfür zu klären. Das Werk ist von drei Autor*innen verfasst. Neben der Herausgeberin Victoria Shmidt, die an allen Teilen des Werks mitgewirkt hat, handelt es sich dabei um den Sonderschul- und Heilpädagogen Karel Pančocha und den Historiker Frank Henschel. Die Herausgeberin hat Sozialarbeit studiert, arbeitet aber seit 2011 an dem vorliegenden Projekt. Dies erklärt sich vor dem Hintergrund, dass Pädagog*innen und Sozialarbeiter*innen durch Beratungstätigkeit gegenüber den Roma zur Umsetzung einer Politik der negativen Geburtenkontrolle beziehungsweise Eugenik wesentlich beigetragen haben.

Somit handelt es sich also bei der vorliegenden Studie um den eher seltenen Fall eines wissenschaftlich fundierten und allein in wissenschaftlicher Absicht verfassten historischen Werkes, das vorrangig von Expert*innen nicht-geschichtswissenschaftlicher Disziplinen verfasst wurde und eben die Geschichte dieser Disziplinen thematisiert. Es wird dabei weder eine Aufarbeitung reklamiert noch die Geschichte eines Fachs erzählt. Vielmehr holen die Verfasser weit aus, um die Genese der oben geschilderten Praxis nachzuzeichnen. Das Werk reflektiert dabei den aktuellen Forschungstand sowohl methodisch als auch empirisch auf einem hohen wissenschaftlichen Niveau; dies gilt sowohl für die historiografischen Werke etwa von Michal Šimůnek zur Eugenik und oder von Zoltan Barany und von Eszter Varsa zu den Roma als auch für die pädagogische und sozialarbeiterische Fachliteratur. Als Quellen dienen darüber hinaus Fachzeitschriften und Veröffentlichungen des Gesundheitsministeriums.

Die zunehmend als störend dargestellte vermeintliche Divergenz der Roma wurde seit den 1970er und 1980er Jahren, so die grundlegende These, als die Folge eines erblichen Defekts betrachtet. Diese These stellt die Verbindung zum Umgang mit körperlicher und geistiger Behinderung dar. Davon ausgehend erschließt die Studie einen weiten Kontext, der Segregation, Aussonderung und Assimilation sowohl der Roma als auch Behinderter seit der Staatsgründung nachzeichnet und aufzeigt, wie die fraglichen Politiken jeweils im nationalen Diskurs verankert wurden. Es wird dabei eindrücklich nachvollzogen, wie die liberalen Traditionen der Zwischenkriegszeit einerseits sowie Versatzstücke nationalsozialistischer und sozialistischer Deutungen und Praxis andererseits verwoben und wie gleichzeitig internationale Diskurse in der Tschechoslowakei rezipiert wurden. Die Verfasser verweisen dabei auf Kontinuitäten und machen zugleich klar, dass die Tschechoslowakei nicht von internationalen Debatten abgeschnitten, sondern vielmehr deren Resonanzraum war, auch und gerade während des Staatssozialismus. Nicht zuletzt die Systemkonkurrenz während des Kalten Krieges schuf demnach eine Atmosphäre, in welcher erstens Behinderte und Roma abgesondert und diese Gruppen zweitens zunehmend gleichgesetzt wurden.

Das Buch gliedert sich in drei chronologisch aufeinanderfolgende Teile, welche die oben dargestellten Stränge jeweils in mehreren Kapiteln zusammenfügen. Der erste Teil befasst sich mit der Zwischenkriegszeit. Volksgesundheit sei, so die Verfasser, zu einer nationalen säkularen Religion erhoben worden, wobei zu diesem Zeitpunkt Integration (und nicht Segregation) die wissenschaftliche und politische Leitidee war. Dies galt insbesondere Behinderten gegenüber, die durch Arbeit vollständige Mitglieder der Gesellschaft werden sollten. Roma dagegen galten insbesondere in der slowakischen Peripherie (der Karpato-Ukraine) als ein Problem, weil sie sich schwer assimilieren ließen. Die nicht-assimilierte Romabevölkerung wurde zunehmend kriminalisiert und im Kontext des Hygiene-Diskurses als Bedrohung für den "Volkskörper" dargestellt. Anhand der Tätigkeit des Anthropologen František Štampach zeigt das Kapitel weiterhin auf, wie der tschechoslowakische mit dem gesamteuropäischen eugenischen Diskurs korrespondierte.

Mit dem Einfluss der nationalsozialistischen sowie der sowjetischen Politik befasst sich der zweite Teil. So wird dargestellt, wie tschechische Experten während des Protektorats eugenische Politik zu begründen und umzusetzen halfen und wie diese auch nach dem Zweiten Weltkrieg weiterwirkten. Zugleich wurde unmittelbar nach dem Krieg unter dem Einfluss der Sowjetunion eine am Lyssenkoismus (dem sowjetischen Gegenmodell zum Darwinismus) orientierte Politik umgesetzt, welche der Idee folgte, durch Lernen und Nachahmung könnten Verbesserungen bewirkt und weitergegeben werden. Der sozialistische Staat beförderte eine Absonderung behinderter Kinder, die nicht nur separat unterrichtet, sondern sehr häufig auch in Heimen untergebracht wurden und dort zu sozialistischen Bürgern erzogen werden sollten. Zugleich gab es eine Tendenz, die Roma als "Volksgruppe" mit entsprechenden Eigenarten (Sprache, Sitten) anzuerkennen.

Teil drei zeigt dann auf, wie in den 1970er und 1980er Jahren soziokulturelle Eigenarten der Roma zunehmend pathologisiert und Romaeltern die Fähigkeit zur richtigen Erziehung abgesprochen wurde, woraufhin Romakinder wie behinderte Kinder zunehmend segregiert wurden. Dies geschah - die These wirkt zunächst überraschend, wird aber überzeugend ausgeführt - auch unter dem Einfluss von Exilanten, die den sozialistischen Staat als unfähig anprangerten, dem "Romaproblem" angemessen zu begegnen. Dies habe nämlich zu einer Rückkehr zu älteren Politikstilen geführt. Überwachung, Segregation und schließlich negative Geburtenkontrolle werden in der Studie als strukturelle Gewalt verstanden. Diese strukturelle Gewalt wurzelte, dies wäre die Quintessenz des Werkes, deshalb in der Tschechoslowakei besonders tief, weil dort liberale, nationalsozialistische, sozialistische und schließlich "westliche" Einflüsse in destruktiver Weise ineinandergriffen.

Die Stärke der Studie liegt darin, dass sie Phänomene zusammendenkt, die in der Regel getrennt betrachtet werden. Indem sie die Politik gegenüber Behinderten und gegenüber Roma wie zwei Folien übereinander schiebt und darüber hinaus die Gleichzeitigkeit unterschiedlicher Einflüsse in den Blick nimmt, gelingt ihr eine überzeugende Darlegung, die auch jenseits der engeren Fragestellung wichtige Erkenntnisse zur Sonderschulerziehung, zur Politik gegenüber den Roma und zum eugenischen Diskurs bietet. Das Wagnis aus der Sozialwissenschaft heraus eine historische Studie zu verfassen, hat sich gelohnt; herausgekommen ist ein gut recherchiertes und empfehlenswertes Werk!

Natali Stegmann