Rezension über:

Tino Shahin : Fragmente der Historiker. Nikolaos von Damaskus (= Bibliothek der griechischen Literatur; Bd. 84), Stuttgart: Anton Hiersemann 2018, VIII + 127 S., ISBN 978-3-7772-1804-5, EUR 158,00
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Rezension von:
Hans-Ulrich Wiemer
Friedrich-Alexander-Universität, Erlangen-Nürnberg
Redaktionelle Betreuung:
Matthias Haake
Empfohlene Zitierweise:
Hans-Ulrich Wiemer: Rezension von: Tino Shahin : Fragmente der Historiker. Nikolaos von Damaskus, Stuttgart: Anton Hiersemann 2018, in: sehepunkte 20 (2020), Nr. 4 [15.04.2020], URL: https://www.sehepunkte.de
/2020/04/32759.html


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Tino Shahin : Fragmente der Historiker. Nikolaos von Damaskus

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Nikolaos von Damaskos ist vielleicht die schillerndste Figur unter den griechischen Intellektuellen der augusteischen Zeit. Nikolaos verstand sich als Damazener, Grieche und Philosoph aus der Schule des Aristoteles. Er stand über viele Jahre im Dienst des jüdischen Königs Herodes, an dessen Hof er zwischen 14 bis 4 v. Chr. eine prominente Rolle spielte, war aber auch mit Augustus befreundet. Er reiste nach Italien, um Herodes bei Augustus zu verteidigen, und war tief verstrickt in die Intrigen, die zur Hinrichtung mehrerer Söhne des Königs führten. Auf seinen Wunsch verfasste er eine Universalgeschichte in 144 Büchern, die mit den Reichen des Alten Orients einsetzte und mit einer äußerst ausführlichen Darstellung des Herodes endete. Abgesehen von den ersten sieben Büchern ist das Meiste im Original verloren, doch scheint Josephos die Darstellung des Herodes in den "Jüdischen Altertümern" als Hauptquelle benutzt zu haben, obwohl er erklärt, dass Nikolaos die Wahrheit häufig zugunsten seines Herrn verdreht habe. Nikolaos selbst beteuerte in einer Art Autobiographie seine Wahrhaftigkeit und Uneigennützigkeit. Er verfasste daneben aber auch ethnographische, botanische und philosophische Schriften - eine Darstellung der Philosophie des Aristoteles ist in syrischer Übersetzung auszugsweise erhalten -, sowie Komödien und Tragödien, die vollständig verschwunden sind. Hinzu kommt eine Biografie des Augustus, aus der die Konstantinische Exzerptensammlung Bruchstücke erhalten hat, die indessen nur bis November 44 v.Chr. reichen. Wann die Augustus-Vita geschrieben wurde, ist seit langem umstritten: F. Jacoby datierte sie zwischen 25/20 v. Chr., als die "Autobiographie" des Augustus gerade erschienen war, R. Laqueur dagegen in die Zeit nach dem Tod des Herodes, wenn nicht des Augustus, als Nikolaos in Rom gelebt habe. Beide Ansätze werden im Grundsatz nach wie vor vertreten, während der Vorschlag, die Abfassung mit der Rom-Reise des Nikolaos im Jahre 8 v. Chr. zu verbinden, nicht aufgegriffen wurde.

In den letzten Jahrzehnten ist für die Erschließung dieses facettenreichen Œuvres (FGrHist 90) einiges getan worden. Die Kommentare zu botanischen Schriften des Aristoteles liegen jetzt in einer kritischen Ausgabe der alten Übersetzungen vor. Die Augustus-Vita wurde 1983 von B. Scardigli ins Italienische, 1984 von J. Bellemore und 2016 von M. Toher ins Englische, 2003 von J. Malitz ins Deutsche und 2011 von E. Parmentier und F. P. Barone ins Französische übersetzt; den Übersetzungen von Scardigli und Toher sind ausführliche und gründliche Kommentare beigegeben. Die übrigen Werke des Nikolaos sind bislang viel weniger erschlossen. Die 2011 veröffentlichte Gesamtausgabe der griechischen Fragmente von Parmentier und Barone war bislang konkurrenzlos: Sie enthält neben dem griechischen Text (nach der Ausgabe Jacobys) und einer zuverlässigen Übersetzung ins Französische auch eine profunde Einleitung und nützliche Anmerkungen erklärender Art. Die hier anzuzeigende deutsche Übersetzung in der "Bibliothek der griechischen Literatur", die auf einer Bonner Dissertation beruht, scheint daher auf den ersten Blick eine Lücke zu schließen. Diese Hoffnung wird jedoch enttäuscht. Die kurze Einleitung bleibt an der Oberfläche, die wenigen Anmerkungen bieten kaum Hilfe für das Verständnis der ohne Kontext überlieferten Fragmente. Die Vita Augusti wurde zudem gar nicht aufgenommen. Vor allem aber ist die Übersetzung nicht nur ungelenk und oftmals schwer verständlich, sondern an nicht wenigen Stellen ungenau oder geradezu falsch. Es ist weder möglich noch sinnvoll, hier Beispiele dafür anzuführen, zumal Benedikt Eckhardt dies an anderer Stelle bereits getan hat (BMCR 2018.11.55). Wer in Seminaren oder Vorlesungen Nikolaos-Fragmente in deutscher Übersetzung präsentieren möchte, sollte sich darum nicht auf diesen Band verlassen, sondern stets den griechischen Text vergleichen; in vielen Fällen sind Verbesserungen möglich oder nötig. Angesichts des stolzen Preises kann die Anschaffung nicht empfohlen werden.

Hans-Ulrich Wiemer