Rezension über:

Jeffrey T. Zalar: Reading and Rebellion in Catholic Germany, 1770-1914 (= Publications of the German Historical Institute), Cambridge: Cambridge University Press 2019, XIII + 386 S., eine s/w-Abb., ISBN 978-1-108-47290-6, USD 105,00
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen

Rezension von:
Olaf Blaschke
Historisches Seminar, Westfälische Wilhelms-Universität, Münster
Redaktionelle Betreuung:
Nils Freytag
Empfohlene Zitierweise:
Olaf Blaschke: Rezension von: Jeffrey T. Zalar: Reading and Rebellion in Catholic Germany, 1770-1914, Cambridge: Cambridge University Press 2019, in: sehepunkte 20 (2020), Nr. 3 [15.03.2020], URL: https://www.sehepunkte.de
/2020/03/33170.html


Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.

Jeffrey T. Zalar: Reading and Rebellion in Catholic Germany, 1770-1914

Textgröße: A A A

Auf den ersten Blick nicht erkennbar, handelt es sich um eine Untersuchung des 1845 gegründeten Borromäusvereins, der die deutschen Katholiken mit passender Literatur versorgte. Zalars Buch geht zurück auf seine Dissertation an der Georgetown University 2002: Knowledge and Nationalism in Imperial Germany: A Cultural History of the Association of Saint Charles Borromeo, 1890-1914. Nun sind 17 Jahre Überarbeitungszeit bis zur Buchpublikation selbst im angloamerikanischen Raum unüblich, und fraglos holt das Buch, wie schon zwei, drei vorab publizierte Aufsätze des Accociate Professors für Geschichte an der University of Cincinnaty, thematisch und zeitlich weiter aus als eine bloße Vereinsgeschichte. [1]

Die Analyse der katholischen Lesekultur, konzentriert auf Rheinland und Westfalen, wo der Borromäusverein am mitgliederstärksten war, attackiert zwei angeblich vorwiegende "Mythen": Techniken kirchlicher Zensur wie der päpstliche Index verbotener Bücher seien derart erfolgreich umgesetzt worden, dass die Gläubigen sich ihnen anstandslos unterworfen hätten. Die katholische Minderheit (im Kaiserreich ein Drittel) habe unter klerikaler Kontrolle gestanden und daher, anders als andere lesekundige Europäer, bloß einfachste religiöse Schriften konsumiert, "eingefroren in rudimentäre Lektürepraktiken". Gerahmt werde diese Sonderwegsthese deutschen katholischen Lesens durch die Meistererzählung vom katholischen Milieu, das sich zum Schutz gegen die Moderne als Einheit "in einer insularen Subkultur" gebildet habe (4-9). Um diesen Mythen auf den Grund zu gehen, müsse man von dem, was Priester schrieben und wünschten, wegkommen, hin zu den Lesenden und ihrer Gedankenwelt.

Die ersten beiden Kapitel konstruieren zwei diverse konfessionelle Leseregime im späten 18. Jahrhundert. Während der Leserevolution (18-51) trennte sich die bürgerlich-protestantische Geschmackselite von einer rückständigen katholischen Lesewelt. Ihr "Kulturprogramm" setzte sich mit abschätziger Arroganz sowohl von einem katholischen "Pietätsprogramm" ab, als auch von der wahllosen "Lesewut" unterer Schichten, denen das Ideal der Bildung vorgehalten wurde. Auch der katholische Klerus (52-96) fürchteten die "Lesesucht" des Volkes. Vergeblich versuchte er, der grassierenden extensiven Lektüre durch Disziplinierungsmaßnahmen beizukommen. Vorlesen unter priesterlicher Aufsicht im Dienste der Tugend war erlaubt, nicht aber zur Zerstreuung. Dennoch wurden verbotene und protestantische Bücher in katholischen Haushalten entdeckt. Sogar Priester und Mönche lasen heimlich, was ihnen gefiel. Dem größten Buchmarkt Europas war schwer zu widerstehen. Das Lesen geriet außer Kontrolle (78, 88).

Die Überschrift "Lesen läuft amok" 1815-1845 (97-139) kündigt an, dass zwar weiterhin fromme Literatur - Gebetbücher, Katechismen, Heiligenviten, weniger die Bibel - das Leseprofil der Katholiken prägte (120). Indes entfernte die zunehmende private Lektüre sie von kirchlichen Regularien, zumal wenn Trivialliteratur dazu kam. Überdies wandten sich katholische Bürger Lesegesellschaften zu.

Als Gegenmaßnahme (140-183) gründeten kirchentreue Bürger um August Reichensperger und Max Freiherr von Loë sowie Priester mit begeisterter Unterstützung des Kölner Erzbischofs 1845 den Verein vom heiligen Karl Borromäus mit Sitz in Bonn. Mitglieder konnten unter Anrechnung ihres Jahresbeitrages pro Jahr ein Buch aus dem Katalog mit Titeln katholischer Verlage auswählen, meist aber Erbauliches. Ferner wurden in jeder Diözese in den Pfarreien Büchereien eingerichtet. Obwohl schon 1846 fast 10.000 Mitglieder aus allen Schichten (die Bourgeoisie hielt sich zurück) verzeichnet werden konnten und die Kirche wohl "der Verwirklichung des katholischen Leserideals so nahe wie niemals zuvor und danach kam", blieb das Projekt ein Misserfolg: Der Verein erfasste 1870 mit 54.013 Mitgliedern nur einen Bruchteil aller Katholiken. Sein Wirkungsradius darf nicht überschätzt werden. In den Jahrzehnten bis 1880 verfehlte er sein Ziel klerikaler Leserlenkung.

Das katholische Bildungsdefizit (184-224) führte spätestens in den 1880er Jahren zur Forderung nach einer Aufholjagd. Sie korrespondierte mit dem Bedürfnis nach moderner, anspruchsvoller Lektüre unter Katholiken. Der Borromäusverein konnte das nicht bedienen.

Das sechste Kapitel (225-269) entfaltet die Kernthese des Buches: Bald bestimmten nicht mehr Kleriker über die Lektüre der Laien. Diese rebellierte gegen katholische Büchereien, so dass sich erstere anpassen mussten. Weiterhin pflegten Katholiken ihre religiösen Bücher, teils als vererbte lebenslange Begleiter, aber sie besaßen sie zuhause. In den Büchereien erwarteten sie vergeblich Zerstreuung und aktuelles Wissen. Die Mitgliederzahl sank auf 49.071 (1890). Die vernachlässigten Büchereien vegetierten mit ihrem altbackenen Bestand religiöser Erbauungsbücher dahin. Seit 1895 reformierten sich einige Filialen. Als 1903 der Priester Hermann Herz die Vereinsleitung übernahm, begann ein zweiter Frühling. Weltliche Literatur, auch protestantische, wurde eingekauft und beworben. Das Ziel aber blieb: die Gläubigen zur Lektüre religiöser, instruktiver und guter Literatur anzuhalten, jetzt aber auf der Höhe des Zeitgeistes, Glaube und Vernunft miteinander vereinend. Die von den Laien in dieser Richtung manövrierten Bischöfe unterstützten die Reform (268).

Der Erfolg der Laien, die Büchereien zu haben, die sie wollten, war beachtlich (Kap. 7, 270-309). Schon 1903 war die Mitgliederzahl auf 106.170 gestiegen, 1914 gar auf 261.815 - in den Diözesen Köln, Paderborn, Trier und Münster 2,17 bis 2,43% der Gemeindemitglieder. Die Büchereien, vor dem Weltkrieg immerhin über 4600, zogen aus den Pfarrhäusern in eigene Räumlichkeiten oder Gebäude um. Die als Vereins- und Milieumanager ohnehin überarbeiteten Priester wurden bei der Büchereiarbeit oft durch von ihnen angeleitete Laien, darunter Lehrerinnen, ersetzt. Die Ausleihstatistiken entsprachen etwa hinsichtlich schöner Literatur denen anderer öffentlicher Büchereien.

Untermauert wird der Befund im letzten Kapitel (310-359) über das private Leseverhalten: eine Mischung von religiöser Literatur mit solcher, die der Bildung als Selbstkultivierung oder der Unterhaltung diente. Schuljungen schmuggelten, während ihre Väter Hintertreppenromane lasen, Abenteuerliteratur nach Hause, ein Lehrer in der Diözese Münster konnte Tausende von Exemplaren konfiszieren.

Zalar bekräftigt, wie falsch es wäre, zu sagen, dass "die Laien immer machten was ihnen gesagt wurde", wie es "die akademische Literatur" behaupte (225f.). Sie ließen sich nicht klerikal steuern, sondern wollten sich der allgemeinen deutschen Bildungs- und Lesekultur anpassen. Warum aber erbaten Katholiken bis ins 20. Jahrhundert hinein noch Dispens beim Ordinariat, um etwa Brehms (darwinistisches) Tierleben zu lesen, obwohl sich die klerikale Kontrolle doch längst entspannt hatte? Ein gewisser Respekt vor Hochwürden schien überlebt zu haben und passt nicht ganz zu Zalars Entmythologisierungsversuch, der das Bild in der Literatur ohnehin klischeehaft überzeichnet, wonach Katholiken stets "willfährige Instrumente des Milieukatholizismus" gewesen seien, von einem "erzkonservativen, einheitlichen Klerus dominiert" (208). Mit dem Anrennen gegen den "myth of the clergy's literary Black Terror" (17) - wer hat das je behauptet? - wäre Zalar schon vor 17 Jahren offene Türen eingerannt. Schon zu seiner Promotionszeit war klar, dass in den 1890er Jahren eine Entklerikalisierung und "'Entkolonialisierung' der Laienwelt" erfolgte [2]; bereits 1984 hatte Wilfried Loth die Erosionserscheinungen des Milieus im späten Kaiserreich erkannt [3]. An Steffi Hummel, die 2005 die Modernisierung und Professionalisierung des Borromäusvereins in den 1890er Jahren zeigte, bemängelt Zalar, sie untersuche nur die klerikale Führung (226). [4]

Generell wirft er der Literatur vor, sie stütze sich allein auf An- und Absichten der Bischöfe und Priester, die für ihre Laien eine geschlossene, kontrollierte und enge religiöse Buchkultur vorsahen (9-11, 173.) - daher die Mythen der Effektivität der Zensur, des Klerus und der Milieubindung. Die Lesenden kämen nur als passive, manipulierte Masse vor. Ihre Haltungen sollen jedoch nicht unterstellt, sondern untersucht werden, um zu erfahren, "wie das riesige Kollektiv katholischer Deutscher über die Welt dachte" (11f.). In der Tat kommt Zalar ihnen mit Hilfe von Katalogen, Abonnentenzahlen, Ausleihstatistiken in Büchereien und Pfarrberichten insofern näher, als er sagen kann, welche Bücher zirkulierten.

Doch das vollmundige Versprechen, "diese Arbeit legt die Stimmen der gewöhnlichen Katholiken als Leser frei" (71), sie sei eine empirische "Geschichte von unten" (227) und betreibe eine "radikale Deklerikalisierung der Quellenbasis" (363), ist maßlos überzogen und wird nicht eingelöst. Statt der "Stimme des Volkes" selber zu lauschen (363) und sich "die Hände dreckig zu machen, indem in den Tiefen populärer Rezeption gegraben wird" (365), tauchen die Laien auch in diesem Werk stets nur in der Wahrnehmung besorgter Priester auf, die klagen, ihre Warnungen vor "verderblicher Literatur" würden in den Wind geschlagen (vgl. 126-132, 163-169). Die Laien sprechen nicht selber. Und nicht alles, was Priester beobachteten, muss als zutreffend referiert werden, etwa wenn sie sich wie Herz über die "Judenpresse" (260) ausließen.

Misslich ist, dass ein Literaturverzeichnis fehlt. In jedem Fall jedoch wird man auch diese wichtige, auf etliche Diözesan- und Gemeindearchive gestützte Studie über die Leserschaft im Borromäusverein verwenden müssen, um sich vor der Vorstellung eines allzu geschlossenen katholischen Milieus unter einem dominanten Klerus zu wappnen. Beim Leseverhalten habe es diese Grenzen kaum gegeben. Auch Katholiken waren neugierig, wollten sich der Zeit anpassen und keine Gegenkultur im Wilhelminischen Kaiserreich aufbauen, sondern eine "integrierte Subkultur" (237).


Anmerkungen:

[1] Jeffrey T. Zalar: The Process of Confessional Inculturation. Catholic Reading in the 'Long Nineteenth Century', in: Protestants, Catholics and Jews in Germany 1800-1914, hg. Von Helmut Walser Smith, Oxford 2001, S.121-152; ders.: Knowledge is Power. The Borromäusverein and Catholic Reading Habits in Imperial Germany, in: Catholic Historical Review 86 (2000), 20-46.

[2] Olaf Blaschke: Die Kolonialisierung der Laienwelt. Priester als Milieumanager und die Kanäle klerikaler Kuratel, in: Religion im Kaiserreich. Milieus, Mentalitäten, Krisen, hg. Von dems. / Frank-Michael Kuhlemann, Gütersloh 1996; 93-135, hier 135.

[3] Wilfried Loth: Katholiken im Kaiserreich. Der politische Katholizismus in der Krise des wilhelminischen Deutschlands, Düsseldorf 1984.

[4] Steffi Hummel: Der Borromäusverein 1845-1920. Katholische Volksbildung und Büchereiarbeit zwischen Anpassung und Bewahrung, Köln 2005.

Olaf Blaschke