Rezension über:

Tobias Wunschik: Honeckers Zuchthaus. Brandenburg-Görden und der politische Strafvollzug der DDR 1949-1989 (= Analysen und Dokumente; Bd. 51), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2018, 1016 S., 29 s/w-Abb., 22 Tbl., ISBN 978-3-525-35124-6, EUR 70,00
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Rezension von:
Stefan Donth
Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen
Redaktionelle Betreuung:
Dierk Hoffmann / Hermann Wentker im Auftrag der Redaktion der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte
Empfohlene Zitierweise:
Stefan Donth: Rezension von: Tobias Wunschik: Honeckers Zuchthaus. Brandenburg-Görden und der politische Strafvollzug der DDR 1949-1989, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2018, in: sehepunkte 20 (2020), Nr. 2 [15.02.2020], URL: https://www.sehepunkte.de
/2020/02/32881.html


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Tobias Wunschik: Honeckers Zuchthaus

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Von den 81 Haftanstalten, die im Herbst 1981 dem DDR-Minister des Innern und Chef der Deutschen Volkspolizei unterstanden, hat Tobias Wunschik mit Brandenburg-Görden einen der vier größten Haftorte für seine Untersuchung der SED-Strafvollzugspolitik ausgewählt. Durch seine Archiv- und Literaturrecherchen sowie zahlreiche Erinnerungsberichte erschließt er die Strukturen und Funktionen des Haftwesens im "Arbeiter- und Bauern Staat" und kann viele neue Nuancen der politischen Haft herausarbeiten.

Mit den obersten Gefängnisverwaltungen der Länder, den Abteilungen Strafvollzug in den 1952 gebildeten Bezirken und den Haftanstalten konzentriert er sich auf die wichtigsten Akteure. Hervorzuheben sind seine Ausführungen zur Kontrolle und Steuerung der Strafvollzugspolitik durch die sowjetische Besatzungsmacht und die SED.

Zu den Herrschaftsinstrumenten der SED gehörte die Kaderpolitik: Bei der Rekrutierung des Personals zählten in erster Linie politische Zuverlässigkeit und weniger fachliche Kompetenz. So konnte Fritz Ackermann, der das Gefängnis Brandenburg-Görden von 1958 bis 1982 leitete, stolz berichten, er sei "durch Stalin und die Stalinsche Theorie erzogen worden" (198). Im Übrigen war nicht nur seine Dienstausübung, sondern auch die vieler anderer leitender Funktionäre durch Amtsmissbrauch und Korruption gekennzeichnet.

Der Strafvollzug in der SED-Diktatur unterschied zwischen politischer und "normaler" Kriminalität. Die politischen Gefangenen, deren "Vergehen" in den Augen der Machthaber schwerer wogen als die Verbrechen der kriminellen Straftäter, sollten nicht nur hart bestraft, sondern auch umerzogen werden. Zudem forderte der langjährige DDR-Innenminister Friedrich Dickel immer wieder, Härte gegenüber den politischen Häftlingen zu zeigen, die deshalb schlechter behandelt wurden als die Kriminellen. Drangsalierungen und Misshandlungen durch Personal und kriminelle Mithäftlinge sowie oft willkürlich verhängte Strafen wie Isolationshaft bei geringfügigen Verstößen gegen die Haftordnung bestimmten den Alltag der politischen Häftlinge. Zu den Praktiken der Repression gehörte, dass seit 1954 beide Häftlingsgruppen in den Zellen zusammengelegt wurden.

Wunschik setzt auf Ego-Dokumente politischer Häftlinge, wenn er die Härten des Haftbetriebs darstellt, bei denen die Besuchsregelungen, der Brief- und Paketverkehr, die Gefangenenseelsorge, die Ernährung und nicht zuletzt die unmenschlichen hygienischen Verhältnisse eine wesentliche Rolle spielten. Dieser Blick aus der Nähe eröffnet und konkretisiert Zusammenhänge, die sonst abstrakt geblieben wären, ohne sich in Detailversessenheit zu verlieren.

Zu den größten Missständen kam es auf dem Feld der medizinischen Versorgung. "Wegen mir können alle verrecken" (274) - das war keine leere Drohung Ackermanns. Häufig wies er die Einschränkung der ohnehin schlechten medizinischen Betreuung kranker Häftlinge an. Verletzungen der ärztlichen Schweigepflicht und der Bruch des Berufsgeheimnisses von Psychologen gehörten in Brandenburg-Görden zum Alltag.

Durch seine Analyse der sozialen Struktur der Häftlinge, ihrer Delikte und der verhängten Strafen, die er mit dem großen Ganzen der Strafvollzugspolitik der SED in Beziehung setzt, gelingt Wunschik eine zentrale Perspektiverweiterung der Mikrogeschichte. Geringfügige Erleichterungen für die politischen Häftlinge brachte erst die internationale Aufmerksamkeit, die die DDR spätestens seit dem Beginn des Freikaufs politischer Häftlinge durch die Bundesregierung Anfang der 1960er Jahre zu beachten hatte.

Besonderen Raum widmet Wunschik dem vielfältigen widerständigen Verhalten der Inhaftierten: Viele Häftlinge stellten Ausreiseanträge, weil sie in den Westen wollten. Zahlreiche Meinungsäußerungen und die Verweigerung der als schikanös empfundenen Zwangsarbeit sowie Hungerstreiks, mit denen sich viele gegen die unmenschlichen Haftbedingungen auflehnten, belegen den ungebrochenen Willen der politischen Häftlinge. Einigen gelang es sogar, eine illegale Zeitung herzustellen. Nur mit Mühe vermochte es das MfS, eine Widerstandsgruppe zu zerschlagen, der es gelungen war, Kontakte in den Westen bis ins Bundeskanzleramt aufzubauen.

Das MfS verfügte in der Haftanstalt Brandenburg-Görden über ein System der Überwachung, Kontrolle und Steuerung, das der Geheimpolizei eine "Art Oberaufsicht" über den Strafvollzug und die politischen Häftlinge verschaffte. Dazu unterhielt die Staatssicherheit ein Netz von Zuträgern unter den Gefangenen und den Aufsehern. Auch in zahlreiche Schlüsselpositionen der Gefängnisverwaltung gelangten Inoffizielle Mitarbeiter oder Offiziere im besonderen Einsatz des MfS. Hinzu kamen noch Inoffizielle Kriminalpolizeiliche Mitarbeiter, die die Häftlinge bespitzelten.

Mit seiner differenzierten Analyse des Gefängnispersonals belegt Wunschik, dass es dem MfS bis in die 1980er Jahre hinein schwerfiel, sich gegen machtbewusst auftretende Volkspolizeioffiziere durchzusetzen. Doch letztlich zogen Justiz, Volkspolizei und MfS an einem Strang, indem sie die Vorgaben der SED erfüllten. Hierzu gehörte auch die stillschweigende Übereinkunft, den zahlreichen Missständen nicht nachzugehen: So unterdrückte das MfS in engem Zusammenwirken mit der Staatsanwaltschaft Haftbeschwerden - schließlich ging es der Geheimpolizei nicht darum, die Haftbedingungen zu verbessern, sondern die Reputation der SED-Diktatur im westlichen Ausland zu schützen.

Die Strafvollzugspraxis der DDR sollte international möglichst wenig Angriffsfläche bieten. Das betraf in besonderer Weise den Umgang mit Suiziden. Nach aktuellem Forschungsstand nahmen sich zwischen 1953 bis 1989 in den Gefängnissen der Volkspolizei etwa 500 Häftlinge das Leben. Es gehörte zu den Aufgaben des MfS, nicht nur diese Selbstmorde, sondern auch das Ausmaß der Misshandlungen politischer Häftlinge zu vertuschen. So hieß es 1987: Die im Stasi-Jargon verharmlosend als "Vorkommnisse" bezeichneten Gewaltexzesse "sind aber von besonderer Auswirkung, wenn sie vom Klassengegner ebenso wie schwere Arbeitsunfälle und Suizide zur Diskriminierung unserer Arbeit und zur Verleumdung der Staats- und Rechtsordnung der DDR genutzt werden können" (307).

Wunschiks Publikation zählt zu den besten Beiträgen, die bisher zur Geschichte der Repression in der SED-Diktatur vorgelegt wurden. Seine anschauliche Arbeit löst ihren Anspruch, alle Aspekte des politischen Strafvollzugs in der DDR zu erklären, in vorbildlicher Weise ein: Ausgehend vom Gefängnis Brandenburg-Görden werden unsere Kenntnisse der Entscheidungsprozesse zur Inhaftierung politischer Gegner der SED bis auf die zentrale Ebene hinauf wesentlich erweitert. Wunschiks Forschungen bilden eine unverzichtbare Grundlage für die weitere Aufarbeitung des Unrechts der politischen Haft in der DDR.

Stefan Donth