Rezension über:

Reinhold Vetter: Polens diensteifriger General. Späte Einsichten des Kommunisten Wojciech Jaruzelski, Berlin: Berliner Wissenschafts-Verlag 2018, 410 S., ISBN 978-3-8305-3861-5, EUR 37,00
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Rezension von:
Jacob Nuhn
Institut für Geschichtswissenschaft, Universität Bremen
Redaktionelle Betreuung:
Christoph Schutte
Empfohlene Zitierweise:
Jacob Nuhn: Rezension von: Reinhold Vetter: Polens diensteifriger General. Späte Einsichten des Kommunisten Wojciech Jaruzelski, Berlin: Berliner Wissenschafts-Verlag 2018, in: sehepunkte 19 (2019), Nr. 11 [15.11.2019], URL: https://www.sehepunkte.de
/2019/11/33705.html


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Diese Rezension erscheint auch in der Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung.

Reinhold Vetter: Polens diensteifriger General

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Auch nach seinem Tod im Jahre 2014 bleibt Wojciech Jaruzelski eine der umstrittensten Personen der polnischen Zeitgeschichte. Er ist im kollektiven Gedächtnis fest verankert als derjenige, der 1981 für die gewaltsame Niederschlagung des "Karnevals" der Solidarność verantwortlich war. Gleichzeitig war es aber auch Jaruzelski, der 1989 den Weg für die friedliche Machtübergabe an die Opposition freimachte. Auch die Forschung hat sich mit dieser kontroversen Figur schwer getan - nicht selten sind die Publikationen zu Jaruzelski in die eine oder andere Richtung politisch gefärbt.

Reinhold Vetter, seit 1988 für die ARD, später für das Handelsblatt als Korrespondent in Warschau tätig und somit ein exzellenter Kenner der tiefgreifenden Umbrüche in Polen, hat nun die erste deutschsprachige wissenschaftliche Biografie zu Jaruzelski veröffentlicht und damit ein lange bestehendes Desiderat beseitigt. Wie schon für seine Biografien zu Bronisław Geremek (2014) und Lech Wałęsa (2010) hat er sich durch eine beeindruckende Menge an Sekundärliteratur und Quellen gearbeitet. Seine Darstellung bettet Jaruzelskis Biografie umfassend in die jeweiligen Probleme und Umstände der Zeit ein. Folglich orientieren sich auch die zwölf inhaltlichen Kapitel mehrheitlich an Zäsuren der polnischen Zeitgeschichte, die sich jedoch meist auch mit Zäsuren in Jaruzelskis Leben decken.

1923 als Sohn einer adligen Gutsbesitzerfamilie geboren, wuchs Jaruzelski mit traditionellen Werten (polnisch-patriotisch, katholisch) auf. Im Jahre 1941 wurde die Familie nach Sibirien deportiert. Der Vater starb im Lager; Sohn Wojciech musste Zwangsarbeit als Holzfäller leisten und meldete sich 1943 zur Berling-Armee, mit der er als Offizier an der Seite der Roten Armee bis Berlin vorrückte. Nach dem Krieg verblieb Jaruzelski in der Armee und machte dort eine steile - dank seiner Anpassungsfähigkeit und Zurückhaltung alle Brüche überstehende - Karriere: 1953 zum Oberst ernannt, wurde er 1956 zum jüngsten General der polnischen Armee, deren Kommando er 1965 im Generalstab übernahm, bevor er 1968 Verteidigungsminister wurde. Die Armee war für Jaruzelski, so Vetter überzeugend, eine Art Ersatzfamilie, die Halt und Orientierung bot; militärische Tugenden bestimmten zeitlebens Jaruzelskis eigene Haltung und auch seine Erwartungen an andere (374 f.).

Zunächst als Soldat, später als einflussreicher Militär war Jaruzelski an mehreren zentralen, gewaltsamen Aktivitäten zur Durchsetzung und Aufrechterhaltung des realsozialistischen Regimes beteiligt: der Bekämpfung des polnischen Untergrunds und der Umsiedlung der ukrainischen Bevölkerung aus Südostpolen in den Jahren 1944-1948; der - obwohl selbst, so Vetter, wohl kein Antisemit (25; 200 ff.) - Entfernung jüdischstämmiger Offiziere aus der Armee 1968; ebenso, schon als Verteidigungsminister, an der Niederschlagung der Studierendenproteste im März und der Invasion in der Tschechoslowakei im August 1968. Als 1970 Władysław Gomułka den Schießbefehl gegen die streikenden Arbeiter/innen in den Städten an der Ostseeküste erteilte, widersprach Jaruzelski auf der entscheidenden Sitzung der Parteiführung zumindest nicht (221 f., 372).

In der Ära Gierek machte Jaruzelski neben seiner militärischen auch eine steile politische Karriere; in der Zeit der Solidarność-Proteste stieg er an die Spitze der Partei auf und verantwortete die Einführung des Kriegsrechts im Dezember 1981. Jaruzelski hat diese Entscheidung zeitlebens als notwendige Verhinderung einer sowjetischen Invasion verteidigt, was Vetter in Frage stellt, der hier der Einschätzung von Andrzej Paczkowski und Jerzy Holzer folgt, eine im Frühjahr 1981 noch mögliche Invasion sei von Moskau verworfen worden. Sein Fazit zu dieser nach wie vor zentralen Frage für die Bewertung von Jaruzelski: "Die Hauptschuld am Scheitern des gewaltigen gesellschaftlichen Aufbruchs der Jahre 1980-1981 trifft sicher die Führung um Jaruzelski, für die der unbedingte Machterhalt im Vordergrund stand, auch wenn man ihr die Sorge um das politische und wirtschaftliche Leben des Landes nicht ganz absprechen kann. Sie hatte nicht das politische Format, das notwendig gewesen wäre, um mit den Führern der [...] Solidarität eine echte nationale Verständigung zu suchen [....]. Anders als im Falle des "Prager Frühlings" hätte Moskau kaum Chancen gehabt, einen solchen Sonderweg zu verhindern" (372). Von 1988 bis zu seiner Abwahl 1990 sei er der ersten nicht-kommunistischen Regierung unter Tadeusz Mazowiecki ein "loyaler Präsident" gewesen (358-367).

Diese Loyalität, die aus einer verinnerlichten Staatstreue und militärischen Tugenden herrührte, ist für Vetter der zentrale Schlüssel zum Verständnis von Jaruzelskis Biografie. Er wurde in den späten 1940er Jahren zum überzeugten Kommunisten; darüber stand aber immer das Funktionieren des Staates als Richtschnur seines Handelns.

Vetters Darstellung überzeugt, sie ist gut lesbar und dank der umfangreichen Einführungen in die polnische Zeitgeschichte auch für ein breites Publikum zugänglich. Letzteres erweist sich allerdings auch hin und wieder als Manko: Vor allem in der zweiten Hälfte des Buchs nimmt Jaruzelski selbst wenig Raum ein. Hier wäre, gerade angesichts von Vetters intensivem Quellenstudium, mehr Nähe (in der Darstellung, nicht der Interpretation) zum Protagonisten wünschenswert gewesen. Auch hätte den zahlreichen publizistischen und wissenschaftlichen Kontroversen um Jaruzelski, die Vetter am Rande einflicht, gut ein eigenes Kapitel eingeräumt werden können. Insgesamt wäre dem Band ein sorgfältigeres Lektorat zu wünschen gewesen. Dies gilt nicht nur für die zahlreichen Druck- und Satzfehler, sondern auch für so manche unscharfe Formulierung. Dies tut der generell guten Lesbarkeit des Buches aber keinen Abbruch. Das angestrebte breite Publikum ist ihm ausdrücklich zu wünschen.

Jacob Nuhn