Rezension über:

Veerle Fraeters / Frank Willaert / Louis Peter Grijp (Hgg.): Hadewijch: Lieder. Originaltext, Kommentar, Übersetzung und Melodien, Berlin: de Gruyter 2016, 462 S., ISBN 978-3-05-005671-5, EUR 99,95
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Rezension von:
Joachim Werz
Eberhard Karls Universität, Tübingen
Redaktionelle Betreuung:
Ralf Lützelschwab
Empfohlene Zitierweise:
Joachim Werz: Rezension von: Veerle Fraeters / Frank Willaert / Louis Peter Grijp (Hgg.): Hadewijch: Lieder. Originaltext, Kommentar, Übersetzung und Melodien, Berlin: de Gruyter 2016, in: sehepunkte 18 (2018), Nr. 5 [15.05.2018], URL: https://www.sehepunkte.de
/2018/05/30507.html


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Veerle Fraeters / Frank Willaert / Louis Peter Grijp (Hgg.): Hadewijch: Lieder

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Im vorliegenden Band wird erstmals eine Gesamtausgabe der Lieder präsentiert, die von der Begine Hadewijch verfasst wurden. Die große Mystikerin aus den Niederlanden war nicht nur eine herausragende Gestalt der mittelalterlichen Literaturgeschichte, sondern ist von großer Bedeutung für die Geistes- und Christentumsgeschichte des mittelalterlichen Europa. Hadewijch kann zu den Vertreterinnen der mittelalterlichen Frauenmystik gerechnet werden, was ihr eine prominente Stellung neben Hildegard von Bingen, Mechthild von Magdeburg und Gertrud der Großen verschafft. Die drei Autoren Veerle Fraeters, Frank Willaert und Louis Peter Grijp, die an dem Buch gearbeitet haben, machen einen mittelalterlichen Quellenschatz der niederländischen Literaturgeschichte des 13. Jahrhunderts der interdisziplinären Forschung zugänglich. Das Werk wurde von Rita Schlusemann aus dem Niederländischen übersetzt.

Der Band ist in drei Teile untergliedert: Nach einer ausführlichen Einleitung (13-95) folgen die 45 Lieder (97-413) und sodann 19 Melodien zu einigen von ihnen (415-439). Am Ende erfolgt ein Kommentar zu Form und Melodie (440-457), dem sich ein Register anschließt, das sich auf die Einführung und den Kommentar bezieht und außerdem verschiedene biblische Stellen und Signaturen von Handschriften enthält (458-462).

Wer sich mit der Person oder dem Werk Hadewijchs auseinandersetzen oder ein spirituelles und theologisches Verständnis ihrer Lieder gewinnen möchte, der wird in der umfangreichen Einführung fündig werden. In einem ersten Schritt verorten die Herausgeber die Begine Hadewijch in ihrer mittelalterlichen Welt, in der theologischen Denkart ihrer Zeit, aber auch in der Minnemystik (15-26). Dies ist angesichts der Tatsache, dass über das Leben der Mystikerin so gut wie nichts bekannt ist, eine besondere Herausforderung. Bemerkenswert sind hierbei die klugen Beobachtungen zu Hadewijch, die von hoher theologischer und historischer Kenntnis zeugen, denn ohne die Zentrierung auf Christus und das hohe Ideal der Nachfolge Christi könnte weder Hadewijch als mulier religiosa noch ihr Werk in der notwendigen mystischen Tiefe erfasst werden. Ihr Œuvre umfasst Briefe in Prosa und Versen, Visionen und Lieder, die alle eine mystische Liebe zu Gott bezeugen.

Nach dieser biografischen und historischen Einordnung folgen Ausführungen über Hadewijchs Lieder, die sowohl die verschiedenen Handschriften vorstellen als auch Formen und Motive analysieren, die Erzeugnisse der registralen Poetik sind (27-47). Auf diese Weise soll ein besseres Verständnis der Lieder Hadewijchs ermöglicht werden. In seinen Ausführungen über die Rekonstruktion der Melodien verweist Louis Peter Grijp darauf, dass die Lieder von Hadewijch für den Gesang intendiert waren, was im Kontext der Gattung nicht als Selbstverständlichkeit angesehen werden dürfe (48-75). Das Vorgehen bei der Rekonstruktionsmethode beweist ein hohes Vermögen in der strophischen Heuristik, die die wichtigste Methode für die Wiederfindung der Melodien war. Hinweise zur Aufführungspraxis machen das primär historische Werk auch zu einem musikwissenschaftlichen Ratgeber. Am Ende der Einleitung erfolgen noch einige Anmerkungen zur Edition, zur deutschen Übersetzung und zum Stellkommentar (66-76), auf die eine kommentierte Bibliografie folgt (76-84), der sich dann das Primär- und Sekundärliteraturverzeichnis anschließt, das die entscheidende Forschungsliteratur zur Thematik enthält (85-95).

Die 45 Lieder Hadewijchs wurden hinsichtlich des Layouts in editorischer Qualität gesetzt, das heißt, dass der Originaltext auf der linken, die deutsche Übersetzung auf der rechten Seite zu finden ist, was eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Text ermöglicht; alle Lieder sind mit Strophen- und Zeilenzählung versehen; der ausführliche Kommentar folgt unter den jeweiligen Liedstrophen und geht einzeln auf diese ein, sodass jedes Lied inhaltlich detailliert kommentiert wird (97-413). Bedauernswert - angesichts des bereits investierten Zeitaufwands jedoch nachvollziehbar - ist die Tatsache, dass kein kritischer Kommentar erfolgte. Das Ergebnis ist ein in gewohnter Qualität des Verlagshauses DeGruyter präsentierter Band, der elegant und für die wissenschaftliche Auseinandersetzung geeignet die Quellen präsentiert.

Bei den 19 Liedern mit Melodien (415-439) wurde - vermutlich um die praktische Verwendung nicht zu beeinträchtigen - der Kommentar (441-457) erst nach dem Abdruck der Sätze gebündelt angehängt. In diesem wird dann darauf verwiesen, welche Lieder auf welche Melodie gesungen werden können. Die peniblen Untersuchungen von Versschemata, Strophenbau und Reimstrukturen wurden in passende Trouvère-Lieder transformiert, die im vorliegenden Band in moderne einstimmige Notation gesetzt und mit Hadewijchs Texten kombiniert wurden. Dabei handelt es sich um Rekonstruktionen, was dem Interessierten durchaus bewusst sein muss. An dieser Stelle sei auch darauf verwiesen, dass die 19 Lieder Hadewijchs über einen Link der Ruusbroec-Genootschap (https://www.uantwerpen.be/ruusbroecinstitute-hadewijch) angehört werden können. Sie wurden von Agnes de Graaff, Els Janssen und Els van Laethem gesungen, nachdem sie von Veerle Fraeters eine Einführung in Aussprache und Interpretation erhalten hatten. Ein in jeglicher Hinsicht durchdachtes, multimedial erfahrbares und wissenschaftlich fundiertes Projekt.

Den drei Autoren ist es gelungen, einen Meilenstein in der Hadewijch-Forschung zu setzen. Aufgrund ihrer detailreichen und überzeugenden Einführung, ihrer gründlichen Übersetzung der erschlossenen Quellen, des interdisziplinär verwendbaren Kommentars und der multimedialen Ausgabe kann nicht nur eine neue wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Werk Hadewijchs, sondern auch ein vertieftes Kennenlernen mittelalterlicher Mystik einsetzen. Der Arbeit bleibt eine breite Rezeption und interdisziplinäre Erforschung zu wünschen.

Joachim Werz