Johann Chapoutot: Das Gesetz des Blutes. Von der NS-Weltanschauung zum Vernichtungskrieg, Mainz: Philipp von Zabern 2016, 475 S., ISBN 978-3-8053-4990-1, EUR 49,95
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Die subjektive Rationalität und die Motive von NS-Ideologen und -Tätern für heutige, von "den Werten des Universalismus und des politischen Liberalismus" (11) sozialisierte Leser nachvollziehbar zu machen - dies ist das zentrale Anliegen des an der Universität Paris-Sorbonne lehrenden Zeithistorikers Johann Chapoutot. Systematisch will er die "Normen, Gebote und Aufgaben" offenlegen, die "für den nationalsozialistischen Diskurs konstitutiv" (21) waren, stets der Prämisse folgend, dass NS-Täter die feste Überzeugung verband, immerzu "richtig gehandelt" (11) und eine "zwar unangenehme, aber notwendige Aufgabe" (13) erfüllt zu haben. Entschieden grenzt sich Chapoutot von der "bequem[en]" "Pseudo-Erklärung" ab, wonach die Protagonisten der NS-Ideologie schlicht "verrückt" (12) gewesen seien, wobei unklar bleibt, wer eine solche Auffassung noch ernsthaft vertreten würde. Ebenso wenig überzeugt Chapoutot die Erklärung des Nationalsozialismus durch einen deutschen "Sonderweg", da "[w]eder der Rassismus noch der Kolonialismus, weder der Antisemitismus noch der Sozialdarwinismus oder die Rassenhygiene [...] zwischen Rhein und Memel entstanden" (12) seien. Das ist nicht falsch - verkennt aber, dass es bei der Sonderwegsthese weniger um die Frage nach der Herkunft spezifischer Ideologeme geht, als um deren gesellschaftliche Verbreitung und Anschlussfähigkeit.
Indem er auf "normative Quellen" fokussiert, die den Zeitgenossen sagen sollten, was sie "zu tun hat[ten]", möchte Chapoutot das "Intelligible" (381) am Nationalsozialismus herausarbeiten und "gewissermaßen kartographisch die Gedankenwelt" erfassen, in der "die NS-Verbrechen erst ihren Platz und ihren Sinn" (15) erhielten. Diesem Unterfangen sei die bisherige Forschung nicht oder nur "fehlerhaft" (14) nachgegangen - eine provokante Behauptung, für die Chapoutot Belege schuldig bleibt. Auch das ist freilich "bequem" und schon ein flüchtiger Blick in das Literaturverzeichnis seiner Studie zeigt, dass in ihr die ältere Forschung allenfalls bruchstückhaft zur Kenntnis genommen wird. So hat sich Chapoutot beispielsweise nicht mit den für sein Anliegen einschlägigen Monografien Eberhard Jäckels, Frank-Lothar Krolls und Barbara Zehnpfennigs [1] auseinandergesetzt und auch den Biografien zentraler Ideengeber des Nationalsozialismus kaum Aufmerksamkeit geschenkt [2], obgleich auch in seiner Studie Hitler, Himmler, Goebbels und Rosenberg mit ihren Reden und Schriften großen Raum einnehmen. Entsprechend deplatziert und wenig überzeugend sind Chapoutots anonymisierte Seitenhiebe gegen die bisherige Forschung, welche die nationalsozialistischen Schriften bislang "gemeinhin als nicht beachtenswerte hohle Phrasendrescherei betrachtet" und als "bloße Logorrhoe" abgetan habe (23).
So lückenhaft und unsystematisch Chapoutot die vorhandene Forschung rezipiert hat, so eindrucksvoll ist die Fülle des von ihm ausgewerteten Quellenmaterials - bestehend aus rund 1200 Büchern und Zeitschriftenartikeln sowie etwa 50 Filmen, wobei letztere allerdings nur vereinzelt in die Analyse einbezogen werden. Mit beachtlicher Akribie hat sich Chapoutot bemüht, "alles zu ermitteln, was [ab 1933] zur Frage der normativen Neubegründung im 'neuen Deutschland'" (23) erschien. Er hat dabei auch viele Veröffentlichungen von NS-Autoren der zweiten und dritten Reihe untersucht und zueinander in Beziehung gesetzt, einschließlich zahlreicher Promotions- und Habilitationsschriften vor allem der Rechts- und Geschichtswissenschaften, aber auch der Medizin, Biologie und Geografie. Dies ist fraglos eine verdienstvolle Leistung, die unser Wissen zur NS-Weltanschauung um manche genuin neue Facette bereichert (wenn auch nicht annähernd in dem in der Einleitung suggerierten Umfang) und im Ganzen empirisch stark verdichtet (obschon auf Kosten bisweilen äußerst deskriptiver Textpassagen, vgl. bes. 194-204, 353-358).
Drei "kategorische Imperative" (25) untergliedern als zentrale Pfeiler nationalsozialistischer Normativität Chapoutots Studie: Erstens der Imperativ des "Zeugens" - namentlich möglichst zahlreicher, in ihrer biologischen Substanz hochwertiger und "rassereiner" Kinder. Zweitens der Imperativ des existenziellen "Kampfes" zwischen den Völkern bzw. "Rassen", der sich aus Sicht des Nationalsozialismus als etwas "Naturnotwendige[s] [...] nicht unterdrücken" ließ und daher bejaht werden sollte; keine menschengemachten Regeln des Völkerrechts sollten diesen Kampf bestimmen, sondern allein die Frage, was dem eigenen rassisch-biologischen Kollektiv zugutekam. Drittens der Imperativ des "Herrschens", insbesondere über den kriegerisch eroberten und kolonisierten osteuropäischen Raum. Hier kreierten zahlreiche NS-Texte "neue Normen, [...] die eine [deutsche] Herrschaft in alle Ewigkeit garantieren" (25) sollten. Auf allen drei Feldern geht Chapoutot von einer sehr großen "Übereinstimmung zwischen 'Diskurs' und 'Praxis'" (377) aus, ohne aber einem reinen, "naiven Intentionalismus" (380) das Wort reden zu wollen. Systematisch geht die Studie der Frage nach dem komplexen Verhältnis zwischen "Diskurs" und Herrschaftswirklichkeit des "Dritten Reichs" indes nicht nach.
Durch seine intensive Quellenexegese kann Chapoutot anschaulich aufzeigen, dass praktisch alle untersuchten Autoren die feste Überzeugung verband, aus einer dezidierten Notlage heraus und damit aus Notwehr gehandelt zu haben. Die tief empfundene und subjektiv evidente Notlage eines vor allem seit 1918 "zutiefst verletzten, traumatisierten Landes", das "vor seinem biologischen Dahinschwinden" zu stehen schien und sich eines angeblich erdrückenden Einflusses des Judentums zu erwehren hatte, stand am Ausgang vieler Rationalisierungen des verbrecherischen Handelns von NS-Tätern. Es erschien so in einem Licht existenzieller "Alternativlosigkeit" (382). Plastisch zeigt Chapoutot, wie sehr in den Augen vieler Nationalsozialisten bei weniger konsequenten und radikalen (Gegen-)Maßnahmen der Fortbestand des deutschen Volkes bzw. der "nordischen Rasse" unmittelbar infrage gestellt war.
Sprachlich und stilistisch gewöhnungsbedürftig an Chapoutots Studie ist die regelmäßige Verwendung des historischen Präsens bei gleichzeitigem Verzicht auf den Konjunktiv. So beginnt etwa Kapitel 5 mit der lapidaren Feststellung: "Ein Konzentrationslager ist eine Anstalt zur Aufbewahrung von volks- und staatsfeindlichen Personen, die aus Sicherheitsgründen sowie zu Zwecken der Umerziehung und Vorbeugung interniert werden" (184), während das Unternehmen Barbarossa als ein "überlebensnotwendiger Akt der Verteidigung und des Schutzes eines gefährdeten deutschen Volkstums" (354) firmiert. Hinzu kommen vereinzelt verwirrende Formulierungen, etwa wenn von Hitlers vermeintlichem Glauben an eine "gelungene germanische Photosynthese [sic!] in Griechenland und Rom" (345) die Rede ist, was allerdings auch der Übersetzung geschuldet sein mag. Ein peinlicher Übersetzungsfehler liegt sicherlich vor, wenn in der Einleitung auf Michael Wildts vielbeachtete Habilitationsschrift [3] unter der falschen Titelangabe "Generation des Absoluten" (17) verwiesen wird. Auffällig ist zudem eine gewisse Tendenz zu wenig hintergründiger Ironie und Polemik, etwa wenn Chapoutot von dem "nie um eine geniale Idee verlegene[n] Himmler" (98) spricht, Reichspressechef Otto Dietrich als "Philosoph Otto" (88) adressiert und die pervertierten Rationalisierungen der NS-Zwangssterilisation sarkastisch mit den Worten "Es lebe das wahre Mitleid!" (137) kommentiert.
Auch in Sachen Quellenkritik sind Mängel zu konstatieren, insbesondere im Hinblick auf Zeugnisse über Hitler. Besonders schwer wiegt, dass Chapoutot sich mehrfach auf Hermann Rauschnings fiktive, seit Jahrzehnten als völlig unzuverlässig entlarvte "Gespräche mit Hitler" stützt (vgl. 166, 176-179) und damit einen Fehler wiederholt, der schon an seiner Studie "Der Nationalsozialismus und die Antike" (2014) zu Recht bemängelt wurde. [4] Zu beklagen ist ferner, dass Chapoutot seine Quellen im Text in aller Regel nicht genau datiert, so als sei es belanglos, ob ein Text 1934 oder 1943 erschien. Erst der mühsame Umweg über Anmerkungsapparat und Bibliografie ermöglicht hier eine präzise zeitliche Einordnung. Viele der weniger bekannten Autoren führt Chapoutot überdies nicht biografisch ein, mit der Folge, dass oft unklar bleibt, ob es sich um (relativ) bedeutsame oder völlig randständige Figuren handelt. Hinzu kommt das sehr bedauerliche Fehlen eines Personenregisters. Angesichts der kaum überschaubaren Zahl an Autoren ist es damit schwer, deren jeweilige Relevanz für die Argumentation Chapoutots nachzuvollziehen.
Insgesamt erweitert Chapoutots Studie unsere Kenntnisse zur NS-Ideologie nicht signifikant. Zu oft fassen die Kapitel nur altbekannte Aspekte zusammen, etwa wenn seitenlang der geläufige Sachverhalt ausgebreitet wird, dass sich die NS-Ideologen (in langer völkischer Tradition) diametral von der Französischen Revolution und den "Ideen von 1789" abgrenzten und wüst gegen Liberalismus und Universalismus agitierten (76-91). Zwar schildert Chapoutot diese und andere hinlänglich bekannten Aspekte oftmals anhand bislang weitgehend oder völlig unbekannter Autoren, deren zutiefst epigonales Denken bringt es aber mit sich, dass ihre Texte meist nur aufgreifen (oder leicht vorhersehbar weiterspinnen), was den vorbildgebenden Schriften berühmter Parteigrößen zu entnehmen ist.
Anmerkungen:
[1] Vgl. Eberhard Jäckel: Hitlers Weltanschauung. Entwurf einer Herrschaft, Stuttgart 41991; Frank-Lothar Kroll: Utopie als Ideologie. Geschichtsdenken und politisches Handeln im Dritten Reich, Paderborn 1998; Barbara Zehnpfennig: Hitlers Mein Kampf. Eine Interpretation, München 32006.
[2] Unbeachtet bleiben insbesondere die zum Zeitpunkt der französischen Originalausgabe (2014) vorliegenden biografischen Werke Peter Longerichs zu Heinrich Himmler (2008) und Joseph Goebbels (2011), Ernst Pipers Biografie zu Alfred Rosenberg (2005), die Goebbels-Biografien von Helmut Heiber (1962), Ralf Georg Reuth (1990) und Toby Thacker (2009) sowie sämtliche "klassischen" Hitler-Biografien von Allan Bullock (1952) über Joachim Fest (1973) bis hin zu Ian Kershaw (1998-2000).
[3] Michael Wildt: Generation des Unbedingten. Das Führungskorps des Reichssicherheitshauptamtes, Hamburg 2002.
[4] Vgl. die Kritik Martina Pesditscheks in: http://ifb.bsz-bw.de/bsz402042824rez-1.pdf.
Thomas Vordermayer