Rezension über:

Wolfram Drews / Christian Scholl (Hgg.): Transkulturelle Verflechtungsprozesse in der Vormoderne (= Das Mittelalter. Beihefte; Bd. 3), Berlin: de Gruyter 2016, XXIII + 287 S., ISBN 978-3-11-044548-0, EUR 89,95
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Rezension von:
Tilmann Trausch
Bonn
Redaktionelle Betreuung:
Stephan Conermann
Empfohlene Zitierweise:
Tilmann Trausch: Rezension von: Wolfram Drews / Christian Scholl (Hgg.): Transkulturelle Verflechtungsprozesse in der Vormoderne, Berlin: de Gruyter 2016, in: sehepunkte 17 (2017), Nr. 5 [15.05.2017], URL: https://www.sehepunkte.de
/2017/05/30500.html


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Forum:
Diese Rezension ist Teil des Forums "Vormoderne Transkulturalitätsforschung" in Ausgabe 17 (2017), Nr. 5

Wolfram Drews / Christian Scholl (Hgg.): Transkulturelle Verflechtungsprozesse in der Vormoderne

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Der vorliegende Sammelband präsentiert die Ergebnisse einer internationalen Tagung zum Thema Processes of Entanglement. Agents, Junctures, Interpretations and Conceptualizations of Mutual Interaction in the Premodern Period. Im Mittelpunkt stehen wechselseitige Austauschprozesse der Vormoderne. Methodisch orientiert sich der Band weniger an der Kulturtransferforschung als an der histoire croisée. Der erkenntnisleitende Begriff ist die Verflechtung (entanglement). Unter Verflechtung verstehen die Herausgeber einen nicht zielgerichteten, wechselseitigen und zeitlich begrenzten Prozess, der zu einer rekontextualisierenden (d.h. kreativen, seitens des Rezipienten umdeutenden Art der) Übernahme von Vorstellungen, Praktiken und materiellen Gütern führt und als dessen Folge zumindest vorübergehend Einheiten höherer Komplexität entstehen (XVI).

Der Schwerpunkt der Untersuchung(en) liegt auf der Frage, unter welchen Voraussetzungen es zu Verflechtungen zwischen unterschiedlichen Kulturen, Regionen und sozialen Gruppen kam und worin sich diese zeigen. Der Blick richtet sich dabei sowohl auf Trägergruppen von Verflechtungsprozessen als auch auf Objekte, die als Bedeutungsträger solche Prozesse konstituieren. Den Untersuchungsgegenstand bilden bislang als eher peripher erachtete Räume und Gruppen, die die Herausgeber jedoch als in der Tat oft höchst verwoben ansehen. Um sich diesen anzunähern, nehmen sie unter anderem Anleihen aus der Forschung im Zuge des spatial turn. Das Ziel ist, Verflechtungen anhand von Fallstudien aus verschiedenen Disziplinen empirisch zu untersuchen, um das für die Moderne entwickelte Konzept der Verflechtungsgeschichte für die Epochen des Mittelalters und der frühen Neuzeit nutzbar zu machen. Zudem soll der Band einen Beitrag zur vergleichenden Analyse der kulturellen Grundlagen von Interaktionen sowie der Bedingungen ihres Erfolgs oder Scheiterns leisten. Der Band setzt sich aus Einleitung (Wolfram Drews und Christian Scholl, VII-XXIII) sowie elf Beiträgen in deutscher oder englischer Sprache zusammen, die wiederum drei Unterkategorien zugeordnet sind: 1) Transkulturelle Wahrnehmungsprozesse und Diskurse; 2) Transkulturelle Verflechtungsprozesse in der materiellen Kultur; 3) Konzeptuelle Überlegungen.

Der Ansatz des Bandes sei an fünf Beiträgen exemplarisch vorgestellt. Roland Scheel untersucht in seinem Beitrag Byzanz und Nordeuropa zwischen Kontakt, Verflechtung und Rezeption (3-34) zwei unterschiedlich gelagerte, aber doch zusammenhängende Verflechtungen. Zum einen zwischen den Reichen der heutigen Staaten Dänemark, Norwegen und Island und dem byzantinischen Reich, die er jeweils vergleichend untersucht und deren Schlüsselphase er im späteren 12. und frühen 13. Jahrhundert verortet. Die andere Verflechtung wurde von der modernen Forschung selbst konstruiert, zwischen archäologischen Funden aus dem Skandinavien des 8. und 9. Jahrhunderts und historiografischen sowie epischen Texten des 12. Jahrhunderts. Ausgehend von letzteren wurde lange ein byzantinischer Einfluss auf Skandinavien bereits ab dem 8. Jahrhundert behauptet, der sich durch die zeitgenössischen materiellen Quellen jedoch kaum belegen lässt. Diese zweite Verflechtung ist weit über die Skandinavistik hinaus von Interesse. Scheel hinterfragt den Forschungsnarrativ zum bereits frühen byzantinischen Einfluss und stellt letzteren in Frage. Solche Narrative dominieren auch in anderen und gerade den "kleinen" und (rein quantitativ) schlecht beforschten Fächern weiterhin das Feld. Fallbeispiele dafür, wie diese Forschungsnarrative zu hinterfragen sind, sollten somit stets willkommen sein.

Kristin Skottki geht es in ihrem Beitrag Kolonialismus avant la lettre? Zur umstrittenen Bedeutung der lateinischen Kreuzfahrerherrschaften in der Levante (63-88) nicht um historische Verflechtungsprozesse, sondern alleine um einen akademischen: Um die Diskussion zu den Kreuzfahrerstaaten in der Levante und den Kolonialismus-Begriff. Waren die Kreuzfahrer Kolonialisten? Nach einem Überblick über die Geschichte der Debatte sowie die modernen politischen Implikationen des Themas prüft Skottki anhand einer für die Moderne getroffenen Kolonialismus-Definition, ob sich die dort genannten Punkte in den Kreuzfahrerstaaten wiederfinden. Sie kommt zu dem Schluss, dass sich das moderne Kolonialismus-Konzept nur bedingt für die Kreuzfahrerherrschaften der Levante fruchtbar machen lässt. Dessen ungeachtet wirbt sie dafür, von dem an solcher Stelle oft zu hörenden Vorwurf abzulassen, Abstraktionen in Form von 'ismus'-Konzepten seien ahistorisch oder anachronistisch. "[...] aber was ist dadurch gewonnen?" (84) Im Gegenteil solle mittels neuer Forschungskonzepte und Fragestellungen immer wieder an bereits bearbeitete Themen herangegangen werden, da dies immer wieder neues Potential biete. Dem kann man sich nur anschließen.

Antje Flüchter untersucht in ihrem Beitrag Diplomatic Ceremonial and Greeting Practice at the Mughal Court (89-120) diplomatische Verflechtungen vor dem Hintergrund ungleicher Machtbeziehungen. Wie erfasst ein englischer Diplomat, der zwischen den wirtschaftlichen Interessen seines Monarchen und dessen Ehre manövrieren muss, das, was er am Mogulhof des frühen 17. Jahrhunderts sieht? Wie übersetzt er es in eine Sprache, die er versteht? Und wie schreibt er es nieder, ohne sich angreifbar zu machen? Flüchter fragt zum einen danach, wie die zeremoniellen und geschäftlichen Funktionen der zeitgenössischen Diplomatie gegeneinander abgewogen wurden. Zum anderen untersucht sie, welche Aspekte von Vernetzung und transkultureller Phänomene von den Zeitgenossen beschrieben werden konnten und welche nicht. Neben historischen Verflechtungen behandelt sie somit ebenso die Verflechtung zwischen Geschichte und Text beziehungsweise Genre.

Amy Remensnyder behandelt in ihrem Beitrag The Entangling and Disentangling of Islam and Christianity in the Churches of Castile and Aragon (11th-16th Centuries) (123-40) die Integration von (ehemaligen) Moscheen in Kirchen in Spanien. Sie stellt die historischen Integrationspraktiken zwischen den beiden Extremen der Übernahme und Adaption der Kultstätten sowie deren Zerstörung dar. Remensnyder untersucht sowohl die Unterschiede zwischen christlicher und muslimischer Wahrnehmung als auch innerchristliche zwischen der lokalen und der royalen Ebene. Zudem stellt sie einen entscheidenden Unterschied zwischen der mittelalterlichen und der modernen Perspektive heraus: die mittelalterliche betone die Entflechtung, die moderne hingegen die Verflechtung. Zwar seien beide Perspektiven wichtig, um eine Verflechtungsgeschichte zu schreiben, Remensnyder warnt jedoch davor, unsere heutige Sicht auf Diversität allzu unreflektiert auf das Mittelalter zu übertragen. Nur, weil wir vieles als Verflechtung begreifen und diese heute in aller Regel positiv konnotiert ist, müssen die Zeitgenossen dies nicht ebenfalls getan haben. An sich selbstverständlich, scheint dies bisweilen doch vergessen zu werden.

Am Ende des Bandes stehen zwei Beiträge zu konzeptionellen Überlegungen. Zwar wirken diese bisweilen nicht so motiviert wie die Fallstudien (etwa, weil der Vortragscharakter für die Publikation erklärtermaßen kaum verändert worden ist, 240), allerdings bieten beide viel Wissenswertes zum Thema, insbesondere für den noch nicht umfassend vorgebildeten Leser. Margit Mersch versteht ihren Beitrag Transkulturalität, Verflechtung, Hybridisierung - 'neue' epistemologische Modelle in der Mittelalterforschung (239-51) als vorläufige Versuchsanordnung zur Entwicklung neuer Instrumente für eine heuristische Annäherung an die Komplexität gesellschaftlicher und auch in der Vormoderne häufig transkultureller Prozesse. Bipolare Konzepte interner gesellschaftlicher Entwicklung und externer Beeinflussung (Transfer), einschließlich der auf ihnen aufbauenden Konzepte wie Akkulturation, hält sie dafür für ungeeignet. Mit ihnen lasse sich die Komplexität und Dynamik nicht erfassen und adäquat beschreiben. Nach einer Diskussion verschiedener Ansätze plädiert Mersch dafür, zu neuen Formen und Narrativen der Geschichtsschreibung zu kommen um Modelle und Begriffe zu finden, die Transkulturalität in ihrer Komplexität erfassen und beschreiben können. Hierzu schlägt sie etwa das von Gilles Deleuze und Félix Guattari entwickelte Rhizom-Modell vor. Dieses sei geeignet sich der Multidimensionalität und Multidirektionalität komplexer historisch gewachsener Konditionen gesellschaftlicher Hybridität anzunähern. Ausgehend von der Unbestimmtheit und Offenheit, die komplexe gesellschaftliche Beziehungen kennzeichnen, plädiert Mersch abschließend dafür, die Suche nach engen Definitionen aufzugeben und statt dessen der Vagheit in der wissenschaftlichen Darstellung und Interpretation als Instrument eine Chance zu geben. Auf diese Weise ließen sich möglicherweise Multiplizitäten, andere Zusammenhänge oder gar neue Fragen erkennen, wo bislang stets nach mehr oder weniger festen Identitäten gesucht worden ist. Abschließend fasst Sita Steckel die Ergebnisse der Tagung sowie der Beiträge zusammen (252-75) und stellt nachgehende Gedanken an. Diese betreffen die Rolle historischer Großerzählungen, die Anwendbarkeit neuer Modelle zur Erfassung komplexer historischer Konstellationen sowie deren - wiederum narrative - handhabbare Darstellbarkeit.

Dass nicht alle Facetten des Themas beleuchtet werden, liegt ebenso in der Natur des Sammelbandes wie die Tatsache, dass sich nicht alle Beiträge gleichermaßen eng am Rahmenthema orientieren und ihre Fallbeispiele nach jeweils eigenen Parametern analysieren. Nichts davon ist den Herausgebern anzulasten. Deren Wunsch ist es, das Erkenntnispotential angedeutet zu haben, dass sich aus der Anwendung verflechtungsgeschichtlicher Fragestellungen auf vormoderne Gesellschaften ergibt. Dieser Wunsch darf als erfüllt betrachtet werden.

Tilmann Trausch