Rezension über:

Damaris Grimmsmann: Krieg mit dem Wort. Türkenpredigten des 16. Jahrhunderts im Alten Reich (= Arbeiten zur Kirchengeschichte; Bd. 131), Berlin: de Gruyter 2016, XIII + 317 S., ISBN 978-3-11-042785-1, EUR 109,95
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Rezension von:
Johannes Birgfeld
Universität des Saarlandes, Saarbrücken
Redaktionelle Betreuung:
Sebastian Becker
Empfohlene Zitierweise:
Johannes Birgfeld: Rezension von: Damaris Grimmsmann: Krieg mit dem Wort. Türkenpredigten des 16. Jahrhunderts im Alten Reich, Berlin: de Gruyter 2016, in: sehepunkte 16 (2016), Nr. 10 [15.10.2016], URL: https://www.sehepunkte.de
/2016/10/28143.html


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Damaris Grimmsmann: Krieg mit dem Wort

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Obgleich es an Forschung zur Türkenfrage in Mittelalter und Früher Neuzeit nicht mangele, so konstatiert die Verfasserin zutreffend im Vorwort ihrer 2014 an der Theologischen Fakultät der Georg-August-Universität Göttingen eingereichten Dissertation, "beschäftigt sich noch keine Studie mit der massenhaften Publikation von Türkenpredigten" (VII) im Verlauf des 16. Jahrhunderts. Insgesamt 299 den Türkenkriegen gewidmete und gedruckte Einzelpredigten von 38 Autoren (26 evangelisch, 12 katholisch) publiziert in 43 Druckschriften - meist Predigtsammlungen - konnte die Verfasserin ermitteln (6). Sie bilden das Corpus der Untersuchung, die drei Leitfragen folgt: "Wie deuteten die Autoren von Türkenpredigten im 16. Jahrhundert die Türken und den Islam theologisch? Welche Deutungsmuster tradierten sie und welche stellten sie stärker als andere Turcica-Autoren in den Vordergrund? Lassen sich hinsichtlich der Anzahl der Turcica, ihrer Inhalte und Semantiken spezifische konfessionelle Profile konstruieren?" (4)

Die Einleitung zur Studie bietet neben einem knappen Forschungsüberblick (12-20) bereits erste Erkenntnisse: So konnten etwa Drucke von Türkenpredigten reformierter Autoren nicht ermittelt werden (7-9). Und obgleich seit der Eroberung Konstantinopels 1453 die türkische Expansion im deutschsprachigen Raum bis zum Friedensschluss von Zsitvatorok 1606 konstant medial vermittelt und in allen Schichten mit großer Aufmerksamkeit begleitet wurde, sind drei Phasen auszumachen, in denen Predigten zur türkischen Bedrohung in besonders hoher Zahl gedruckt wurden: im Kontext der Belagerung Wiens 1529, in den Jahren nach der Eroberung der Ungarischen Festung Sziget 1566 und in den 1590er-Jahren während des sogenannten Langen Türkenkrieges 1593-1606 (6-7).

Die nähere Untersuchung der Türkenpredigten in den vier Hauptkapiteln der Arbeit führt systematisch von der Motivation über die Autoren zu den Predigten (evangelisch / katholisch). Produktiv ist die Suche nach den Anlässen der Türkenpredigten: Sie verweist auf die bisher nicht hinreichend in den Blick genommenen Reichstage, die immer neu den Kampf gegen den "Erbfeindt" (27) auch mit "geistlichen Waffen" verordneten und so den entscheidenden "Impuls" (22-23) zu den Predigten gaben. Solche Verordnungen aber, das betont die Studie überzeugend, dienten nicht allein dazu, die gesellschaftliche Akzeptanz von Türkensteuern und Kriegsopfern zu erhöhen: Sie bedeuteten einen systematisch manipulativen Eingriff der Obrigkeiten in die individuelle Frömmigkeit(spraxis) der Untertanen. Aus den Verordnungen wird darüber hinaus deutlich, dass die Predigten nur eine Waffe in einem größeren Arsenal geistlicher Waffen waren und im engen Zusammenhang mit ebenfalls obrigkeitlich verordneten Türkenläuten und Türkengebeten, -gottesdiensten, -prozessionen und Hausandachten standen und zu betrachten sind (Kapitel 2).

Eine statistisch erhellende Darstellung der Ausbildung und sozialen Stellung der Türkenprediger (80-85) belegt erstens eine einheitliche hohe akademische Bildung (Studium), zweitens eine überraschend breite geografische Streuung, zeigt aber drittens, dass "[w]ährend evangelischerseits die eher unbekannten Pfarrer und Prediger die Türkenpredigten repräsentieren, [...] von den katholischen Geistlichen vorrangig die 'prominenten' Prediger ihre Auslegungen in den Druck" gaben (84-85). Knappe Biogramme zu allen Predigern hat die Verfasserin sinnvoll in den Anhang verlagert (255-276), der auch die Transkription von zwei Handschriften bietet (277-284). So beginnt aber tatsächlich bereits im dritten, eigentlich den Autoren gewidmeten Kapitel die genauere und bis zum Schluss der Studie anhaltende Analyse der Türkenpredigten selbst.

Die Verfasserin legt dabei die besondere Wirkmacht der frühen Türkendeutungen Luthers und seiner Wittenberger Mitstreiter offen ebenso wie den Umstand, dass nur in evangelischen Predigten ein signifikantes Bemühen zu erkennen ist, im Rückgriff auf Bibel, prophetische Quellen, den Koran, Reiseberichte, Chroniken oder Kosmografien Sachwissen über den Islam und die Türken zu vermitteln. Katholischer- wie evangelischerseits fungieren vor allem Texte des Alten Testaments als Predigttexte, doch in den evangelischen erfolgt eine Konzentration auf wenige besonders häufig gewählte Passagen (87-94, 141-145). In beiden Konfessionen entstehen Türkenpredigten häufiger in Regionen nahe der türkischen Expansion. Je lässt sich eine Entwicklung in Methodik und Aufbau der Predigten beobachten, die allgemeinen Trends der Predigtentwicklung entspricht. Beiderseits werden Predigten als Muster sowie Anleitungsschriften gedruckt und genutzt (120-140, 201-210), katholische und evangelische Türkenpredigten sind gleichermaßen "Plattform für kontoverstheologische Auseinandersetzungen bzw. für polemische Diffamierungen des konfessionellen Gegners" (252). Signifikante Unterschiede ergeben sich in der vorgetragenen Deutung der Türkenbedrohung: ist man sich einig, darin eine Geißel und Zuchtrute Gottes auszumachen zur Bestrafung sündigen Verhaltens, "akzentuierten die katholischen Autoren die Türkengefahr", anders als die Mehrheit der evangelischen Türkenprediger unter dem Eindruck Luthers, "nicht apokalyptisch" (248). Und während "die evangelischen Prediger die Forderung ihrer territorialen Obrigkeiten nach Rückhalt für den Türkenkrieg in der Bevölkerung [...] mittels der Zwei-Regimente-Lehre umzusetzen suchten, setzten die katholischen Geistlichen auf den Patriotismus jedes Einzelnen" (241).

Das Forschungsfeld, in dem sich die Studie bewegt, verdient in der Tat vermehrte Aufmerksamkeit - nicht nur im 16. Jahrhundert oder nur im Bereich der Kirchengeschichte, sondern ebenso in den Literatur- und Geschichtswissenschaften: Schließlich wurde und wird der Einsatz "geistlicher Waffen" im militärischen Konflikt mit großer Kontinuität betrieben. Die von der Verfasserin hervorgehobenen, durch Anordnungen zum geistlichen Kampf in Kraft gesetzten obrigkeitlichen Eingriffe in die Glaubenspraxis der Untertanen etwa dienten dem Ziel der Disziplinierung und Manipulation der Untertanen, indem sie die größte sich regelmäßig konstituierende Form der Öffentlichkeit den eigenen Interessen unterwarfen. Die Folgen dieser Manipulation gerade auch in langfristiger Perspektive für alltägliche wie politische und literarische Rhetorik und Imagologie, ebenso wie für gesellschaftliche und politische Haltungen sind bis dato kaum hinreichend in den Blick der Forschung geraten.

Dass die vorliegende Arbeit diesen Forschungsinteressen nicht auch nachgehen konnte, liegt auf der Hand. So stellen sich im Anschluss an die Arbeit viele Fragen, die noch unbeantwortet geblieben sind. Wie etwa unterscheiden sich die Türkenpredigten von den Darstellungen der Türken in Briefen, Tagebüchern und Neuen Zeitungen? Inwieweit sind die im deutschsprachigen Raum entstandenen Türkenpredigten Teil einer auch in anderen europäischen Ländern beobachtbaren Entwicklung? In welchem Umfang entstehen im 16. Jahrhundert auch Predigten und Gebete zu militärischen Siegen und Niederlagen jenseits des Türkenkonflikts? Wenn die Verfasserin von einer "massenhaften" (VII et al.) Produktion von Türkenpredigten spricht, in welcher Relation stehen die Druckauflagen der Türkenpredigten konkret zu denen anderer Schriften zu den Türkenkriegen und denen zu anderen aufmerksamkeitsbindenden Ereignissen der Zeit? [1] Lassen sich Unterschiede in der Rhetorik bei Predigten aus Anlass von Siegen und Niederlagen beobachten? Inwieweit lassen sich in Untergattungen wie Heer- und Siegespredigt eigene Gattungstraditionen ausmachen? Bieten Predigten auf Basis neutestamentarischer Predigttexte abweichende argumentative Strategien gegenüber dem Feind? Welches Sachwissen nichttheologischer Art findet Eingang in die Predigten? Lässt sich genauer ermitteln, wie die Verordnungen zum Einsatz geistlicher Waffen gegen die Türken auf den Reichstagen zu Stande kamen, welche Kräfte treibend waren?

Zu bedauern ist, dass die Studie darauf verzichtet hat, einzelne Gebete oder Predigten im Detail zu untersuchen, sie also nicht nur strukturell in ihrem Aufbau, sondern in den Nuancen der Wortwahl, der Argumentation, der Feind-Imagos, der lokalen Bezugnahmen, der Widmung etc. genau und ausführlich zu untersuchen, um auch den Einzeltext weniger als Exempel für eine generelle Entwicklung, sondern als Dokument einer konkreten historischen Situation vorzustellen und ernst zu nehmen, auf die er spezifisch und einzigartig Einfluss zu nehmen versucht.

Dagegen liegt das besondere Verdienst der Verfasserin darin, ein umfangreiches Corpus an Türkenpredigten zusammengetragen zu haben und dieses mit Blick auf den Bildungsstand seiner Autoren, seine territoriale Verbreitung, die homiletischen Entwicklungen und konfessionellen Differenzen sowohl über statistische Erhebungen wie über viele - vor allem in den Fußnoten präsentierte - Zitate exemplarisch vorgestellt und aufgeschlossen zu haben. Zu wünschen ist, dass die vielen Anschlussmöglichkeiten, die diese Studie mit ihrer grundlegenden Eröffnung des Forschungsfeldes bietet, in Zukunft aufgegriffen werden, um ein noch differenziertes Bild von den Türkenpredigten und dem Einsatz geistlicher Waffen im 16. Jahrhundert und darüber hinaus zu gewinnen.


Anmerkung:

[1] Ulrich Löffler: Lissabons Fall - Europas Schrecken. Die Deutung des Erdbebens von Lissabon im deutschsprachigen Protestantismus des 18. Jahrhunderts (= Arbeiten zur Kirchengeschichte; Bd. 70), Berlin / New York 1999, etwa konnte mittels genauer Buchmarktrecherchen eindrucksvoll belegen, dass die tatsächliche Präsenz des Erdbebens von Lissabon (1755) in gedruckten Schriften, entgegen verbreiteter Wahrnehmungen "bald durch den unmittelbaren Schrecken des Siebenjährigen Krieges eingeholt und abgelöst wurde", so dass sich die "Spanne der intensiven Auseinandersetzung mit dem Erdbeben [...] letztlich nur über die Jahre 1756 und 1757" erstreckte (626).

Johannes Birgfeld