Rezension über:

Martin Mulsow (Hg.): Kriminelle - Freidenker - Alchemisten. Räume des Untergrunds in der Frühen Neuzeit, Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2014, 670 S., ISBN 978-3-412-20922-3, EUR 54,90
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Rezension von:
Claus Priesner
Ludwig-Maximilians-Universität München
Redaktionelle Betreuung:
Sebastian Becker
Empfohlene Zitierweise:
Claus Priesner: Rezension von: Martin Mulsow (Hg.): Kriminelle - Freidenker - Alchemisten. Räume des Untergrunds in der Frühen Neuzeit, Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2014, in: sehepunkte 16 (2016), Nr. 9 [15.09.2016], URL: https://www.sehepunkte.de
/2016/09/26557.html


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Martin Mulsow (Hg.): Kriminelle - Freidenker - Alchemisten

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Der Band ist in mehrere Abschnitte gegliedert, die jeweils inhaltlich zusammenpassende Beiträge vereinen. Behandelt werden die Themen "Religiöse Prätendenten und Dissidenten", "Handel, Korruption, Geheimnis", "Spionage, Bestechung und Geheimdiplomatie", "Magie und Alchemie", "Sexualität und Heterodoxie", "Geheimbünde", "Politisch-intellektuelle Radikalität" und "Akademische Clandestinität" und versammelt insgesamt 25 Beiträge, von denen an dieser Stelle nur eine Auswahl eingehender vorgestellt werden kann. In seiner kurzen Einleitung behandelt der Herausgeber die Begriffe des "Untergrunds" und des "Raumes" im Kontext des Buches, wobei auch der neue Ansatz der "Vergesellschaftung unter Anwesenden", den Rudolf Schlögel 2008 in die Debatte einbrachte, erläutert wird.

Die Reihe der "religiösen Prätendenten und Dissidenten" eröffnet Anselm Schubert. Sein Beitrag "Jenseits von Edom. Zur Messianität David Reubenis" ist ein Bericht zum Leben eines echten Außenseiters aus dem frühen 16. Jahrhundert, der vorgab, ein jüdischer Prinz aus dem verloren geglaubten Stamm Ruben zu sein, der im Inneren der arabischen Halbinsel lebe. Er befinde sich auf einer diplomatischen Mission, die den Zweck habe, die Moslems mit einem vereinten christlich-jüdischen Heer zu besiegen. Reubeni, der sich selbst nicht als Messias darstellte, stiftete beträchtliche diplomatische Unruhe und Unsicherheit. Am Ende wurde er auf Befehl Kaiser Karls V. verhaftet und starb 1538 in einem spanischen Inquisitionsgefängnis. Schubert geht in seinem Beitrag auch der Frage nach, wer und was David Reubeni eigentlich war.

Der Herausgeber Martin Mulsow ist mit einem längeren Beitrag zum "Fall Adam Neuser" vertreten. Zunächst Prediger in Heidelberg, lehnte Neuser den von Kurfürst Friedrich III. von der Pfalz verordneten Calvinismus ab, wurde zum religiösen Dissidenten und versuchte in Siebenbürgen Fuß zu fassen. Als dies scheiterte, kehrte er nach Heidelberg zurück, wurde inhaftiert und gelangte nach einer Flucht schließlich auf Umwegen nach Istanbul. Um einer möglichen Auslieferung zu entgehen und auch aus religiösen Erwägungen trat er zum Islam über. Die Beiträge von Łukasz Bieniasz ("Über Schmieglisten"), Daniel Eißner ("Pietismus") und Lionel Laborie ("A French Millenarian Network in Pietist Germany") beleuchten ebenfalls protestantische Dissidentengruppen und deren mehr oder minder geheime Netzwerke. Der innere thematische Zusammenhang der Aufsätze ermöglicht einerseits einen tieferen Einblick, klammert aber andererseits weite Bereiche religiösen Dissidententums aus.

Das zweite Themenfeld des Bandes enthält nur zwei Beiträge. Philipp Hoffmann-Rehnitz beschäftigt sich eingehend mit der Situation nichtzünftiger Schneider in Lübeck, die 1595 dem Rat der Hansestadt eine Bittschrift unterbreiteten, in der sie die Unterdrückung durch die Schneiderzunft anprangerten und um Hilfe baten. Dieses kuriose Verhalten, aus der Illegalität heraus Unterstützung des Rates gegen die legalen Gewerbetreibenden zu erbitten, legt die soziale und berufliche Situation des ökonomischen Untergrundes am Beginn der Neuzeit dar. Sehr stark numismatisch bestimmt ist Wolfgang Steguweits Aufsatz zur "Gothaer Münzprägung im späten 17. Jahrhundert". Zwar geht es grundsätzlich um eine landesherrlich verordnete heimliche Münzverschlechterung, aber numismatische Details stehen zu sehr im Vordergrund.

Ein klassischer Bereich des Untergrunds war damals bis heute das Feld der Politik. Spionage, Geheimdiplomatie und Bestechung waren offenbar schon immer unverzichtbare Werkzeuge der Politikgestaltung. Hermann Stockinger schildert "Die Geheimdiplomatie Prinz Eugens und die Ermordungspläne des Grafen-Pascha-Bonneval". Prinz Eugen von Savoyen war eine zentrale Gestalt in der habsburgischen Politik im späten 17. und frühen 18. Jahrhundert. Alexander von Bonneval (1675-1747) war zeitweise ein enger Vertrauter Eugens, ehe es zum Zerwürfnis kam und Bonneval ins Osmanische Reich fliehen musste, um Eugens Racheplänen zu entkommen. Alexander Schunka untersucht in seinem Aufsatz "Wein und falsche Freunde" eine bizarre Intrige, wonach die Habsburger im Verbund mit den sächsischen Wettinern den preußischen König entführen und ggf. ermorden wollten. Obwohl das Komplott erfunden war, belastete es die Beziehungen zwischen Preußen und Österreich. Zwei andere Ausätze dieses Abschnitts weisen erneut eine Verbindung von Religion und Politik auf.

In der Sektion "Magie und Alchemie" beschreibt Daniel Jütte den "Markt für Magie und Geheimnisse" in Form eines sozialen Bereichs, in dem sich die ansonsten getrennten Kulturen der Juden und Christen in den Städten der Frühen Neuzeit überschnitten. Bezüge zu religiösen Motiven der in den einzelnen Abhandlungen vorgestellten Personen durchziehen geradezu leitmotivisch das ganze Buch, was die zentrale Rolle der Religion im frühneuzeitlichen Denken unterstreicht. Dies ist auch der Fall bei dem längeren Beitrag von Dietrich Klein über Johann Konrad Dippel und Domenico Caetano ("Zwei Wege zum Gold"). Der Verfasser ist selbst Theologe, wie auch der eine seiner Protagonisten (Dippel), was seine Sichtweise auf die Biografien Dippels und Caetanos (den Klein nicht ganz korrekt stets "Caietano" schreibt) bestimmt. Während Dippel - dem Klein die Entdeckung des "Berliner Blaus" anno 1706 als Tatsache zuschreibt, obwohl dies vermutlich nicht zutrifft - zeitlebens in erster Linie Theologe war, liegen von Caetano keine derartigen Zeugnisse vor, sieht man von einigen Wandmalereien in der Burg Grünwald bei München ab, die Caetano während seiner Gefangenschaft dort angefertigt hat. Klein diskutiert die Bilder und deren Bedeutung, ohne indes einen inhaltlichen Konnex zwischen Dippel und Caetano konstruieren zu können. Weshalb sein Beitrag mit "Zwei Wege zum Gold" überschrieben ist, bleibt folglich unklar. Überhaupt scheinen dem Rezensenten die Aspekte von "Magie und Alchemie" nur oberflächlich gestreift.

Der prinzipiell hochinteressante Bereich "Sexualität und Heterodoxie" wird nur mit einem Beitrag abgehandelt, der zudem noch auf einen eng begrenzten Spezialfall bezogen ist. (Jean-Pierre Cavaillé, Atheismus und Homosexualität im Schatten der Römischen Kurie. Jean-Jacques Buochard in Italien). Hier wird ein ebenso brisantes wie wenig erforschtes Gebiet kaum adäquat behandelt. Diese Kritik gilt auch für den folgenden Abschnitt über "Geheimbünde". Dass die für die gesamte spätere Entwicklung bis hin zu den politischen Parteien des 19. und 20. Jahrhunderts wesentliche "Fraternitas Rosae Crucis" (Rosenkreuzer) überhaupt nicht behandelt wird, erscheint dem Rezensenten unbegreiflich. Gleiches gilt für den Bund der Gold- und Rosenkreuzer. Die Freimaurer, zweifellos die für die Frühe Neuzeit bis in die Gegenwart historisch und kulturell bedeutendste dieser Gruppen, werden ebenfalls nicht behandelt. In zwei von drei Beiträgen werden hingegen die Illuminaten diskutiert.

Abschließend sei noch ein Beitrag aus dem Abschnitt "Politisch-intellektuelle Radikalität" kurz vorgestellt. Johannes Bronisch setzt sich darin mit einem Autor auseinander, der sicher eine Randfigur war, aber eher ein Querkopf als ein Querdenker - Johann Conrad Franz von Hatzfeld. Bronisch macht selbst auf die Tatsache aufmerksam, dass Hatzfeld außer einer radikalen Ablehnung der bestehenden Verhältnisse wenig Neues entwickelt hat. Er dient aber als Beispiel für ein untergründiges Beziehungsgeflecht, das den Philosophen Christian Wolff dazu brachte, sich in drei mehr oder minder ausführlichen Rezensionen kritisch mit Hatzfelds Werk zu befassen. Insofern passt der Aufsatz durchaus zum Gesamtthema des Buches. Seine über den Einzelfall hinausreichende Signifikanz bleibt indes verschwommen.

Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass Martin Mulsow ein umfangreiches und in vielen Einzelbeiträgen auch interessantes und fundiertes Werk herausgegeben hat, das aber den Anspruch, "Räume des Untergrunds in der Frühen Neuzeit" abzubilden, nur eingeschränkt einlöst. Alchemie, Naturmagie und Schwarze Magie allgemein und auf heidnisch-schamanischen Vorstellungen fußendes deviantes Verhalten (man denke an Carlo Ginzburgs Benandanti) sowie der komplette Bereich des sogenannten "Aberglaubens" werden nicht behandelt. Stattdessen spielen religiöse Abweichler innerhalb des protestantischen Glaubensspektrums eine überproportionale Rolle, die ihrer Bedeutung im kulturhistorischen Gesamtkontext des Themas nicht entspricht. Den selbstverständlich immer nur eng begrenzten Vorgaben eines Sammelbandes unterworfen kann und muss man als Herausgeber vielleicht so vorgehen, sollte dann aber einen anderen Titel für sein Werk wählen.

Claus Priesner