Rezension über:

Wolfgang Benz: Sinti und Roma: Die unerwünschte Minderheit. Über das Vorurteil Antiziganismus, Berlin: Metropol 2014, 348 S., ISBN 978-3-86331-205-3, EUR 22,00
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Rezension von:
Ulrich F. Opfermann
Tönisvorst
Redaktionelle Betreuung:
Peter Helmberger
Empfohlene Zitierweise:
Ulrich F. Opfermann: Rezension von: Wolfgang Benz: Sinti und Roma: Die unerwünschte Minderheit. Über das Vorurteil Antiziganismus, Berlin: Metropol 2014, in: sehepunkte 15 (2015), Nr. 9 [15.09.2015], URL: https://www.sehepunkte.de
/2015/09/27560.html


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Wolfgang Benz: Sinti und Roma: Die unerwünschte Minderheit

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Wolfgang Benz stand viele Jahre an der Spitze des Zentrums für Antisemitismusforschung an der TU Berlin, er leitet inzwischen das Institut für Vorurteils- und Konfliktforschung in Berlin. Seit langem forscht und publiziert man dort auch zu den Beziehungen zwischen Roma-Minderheit und Mehrheitsbevölkerung. Gemeinsam mit Werner Bergmann veröffentlichte Benz 2014 die Ergebnisse eines umfangreichen Forschungsprojekts für die Antidiskriminierungsstelle des Bundes zu Bevölkerungseinstellungen gegenüber Roma. Parallel dazu erschien das hier zu besprechende Buch. Studie wie Buch belegen, dass die Forschung zu Geschichte und Gegenwart von Vorstellungen, ausgrenzenden Einstellungen, Haltungen und Praxen über und gegen Roma, wie sie inzwischen als "Antiziganismus" auf den Begriff gebracht sind, nach Jahren an einem Katzentisch der Wissenschaft und des öffentlichen Interesses Anerkennung gefunden haben.

Benz Buch erhebt den Anspruch einer umfassenden Bilanz gegenwärtigen Forscherwissens, eines "Kompendiums über Ressentiments". Es bündele die bestehenden "Erfahrungen aus der vergleichenden Vorurteilsforschung", stelle sie am Beispiel dar, schließe eine Lücke im weiten Feld der Vorurteilsforschung. Das unternimmt Benz in acht Aufsätzen und fünf Interviews, zwei davon mit führenden Sprechern der Minderheit, drei mit Vertretern kommunaler Verwaltung, "großer" Politik und einer unabhängigen Unterstützereinrichtung.

Textformen und Sprache zeigen an, dass ihm gelegen ist, Inhalte aus dem Forschungs- in den Alltagsdiskurs zu vermitteln. Das ist ja das, was ansteht, denn es lässt sich nach wie vor kaum sagen, dass das Thema Antiziganismus dort angekommen wäre. So bestätigen es die von ihm fortlaufend als Träger und Verstärker von Ressentiments herangezogenen Tagesmedien oder die statischen Zigeunerbilder im bildungsbürgerlichen Literaturkanon. Kritischen Abstand also hält Benz nicht nur gegenüber, wie er feststellt, in großer politischer Breite vorgetragenen populistischen Meinungsäußerungen, sondern gleichfalls zur "belletristisch gefilterten Perspektive". Es spiegele sich hier ein trendiges Interesse an der Minderheit, das auf eine falsche Harmonisierung aus sei.

Dass die Erbbiologie inzwischen keine tragende Rolle bei der Erklärung eines angeblich grundlegend anders gearteten fremden "Wesens" der Minderheit mehr spielt, beeindruckt Benz wenig. Nun erklärten die ebenso essentialistischen "Zuschreibungen der Kulturrassisten" die Minderheit. Die Kulturalisierung des "Zigeunerlebens" - sei es in dicken Bildbänden oder in literarischen Bildern, sei es in Fotoreportagen vom Leben auf dem Müllberg oder im hohen Ton bei Hermann Hesse oder Wolfgang Wondratschek - ergebe stets nur "Zerrbilder". Hier wie dort werde danach verfahren, spektakuläre nicht normkonforme Verhaltensweisen für typisch zu erklären und zu kollektiven Merkmalen zu erheben, die den Verhaltensweisen eines ebenso homogenen Persönlichkeitskollektivs der Mehrheit als Kontrastbild entgegengesetzt seien.

Benz wendet sich ausführlich der tsiganologischen Traditionslinie, also der ethnologisch orientierten "Zigeunerforschung", zu. Die Ethnologie führe in die Irre. Tsiganologie und Antiziganismusforschung stehen für ihn deshalb in einem scharfen Gegensatz, weil auch die Zigeunerforschung "soziale und kulturelle Probleme zwischen Mehrheitsgesellschaft und Minderheit" aus einem wesenhaften "Zigeunertum" erkläre. Das bedeute stets Exklusion der Roma. Nicht zufällig würden sie im tsiganologischen Sprachgebrauch wie eh und je mit dem stigmatisierenden Z-Wort belegt. Dagegen gehe die Antiziganismusforschung von den Konstrukteuren, Trägern und Vermittlern der Zigeunerbilder aus, also von der Mehrheitsgesellschaft. Benz kommt auf die Leipziger Tsiganologen-Schule unter Bernhard Streck und auf den Journalisten Rolf Bauerdick zu sprechen, die mit der Autorität ethnologischer oder journalistischer Zigeunerkenner gezielt die mühsamen Anstrengungen der Antiziganismusforschung konterkarieren. Das geht Benz mächtig über die Hutschnur und er wird ein bisschen polemisch, wenn er eine "bramarbasierende auftrumpfende Besserwisserei" am Werk sieht. Sein Ärger ist zu verstehen, denn tsiganologische Klischeepflege reißt nieder, was Benz und andere mühsam aufzubauen versuchen.

Benz zitiert aus der überreichen Fülle unsinniger, einfältiger, bösartiger Vorstellungen über die Minderheit, widerspricht, stellt klar, widerlegt, führt zurück auf Mythen, Gerüchte und Wanderlegenden, nennt Fakten. Zu dem, was er zur Sprache bringt, gehört, was über den engeren Fachdiskurs bislang kaum hinauskam. Da ist z. B. sein Hinweis auf das doch eigentlich sehr naheliegende Bestreben der wohl überwiegenden Mehrheit der in Deutschland lebenden Roma, sich wo immer möglich in ihrer "ethnischen" Eigenschaft unsichtbar zu machen, um der Stigmatisierung und ihren Folgen zu entgehen. Wenn sozialer Erfolg die Abwertungsbereitschaft reduziert oder stoppt, dann können Roma sich bekennen. Darüber berichtet im Interview Ricarda Erdmann vom Integrationsfachdienst der Arbeiterwohlfahrt Dortmund. Eine Gruppe dorthin migrierter rumänischer Roma falle auf, weil die Frauen sich stolz mit traditioneller Kleidung als Roma zeigen würden. Es handle sich um Ehefrauen von Fachkräften für die Baubranche, die "in Rumänien ... Achtung erfahren haben und das hier teilweise wohl auch erfahren".

In den zahlreichen Berichten über Roma in Dortmund ist davon nicht die Rede. Dort geht es um Prostitution und Arbeiterstrich. Von Roma? So wird gesagt. Woher weiß man es? Benz erinnert daran, dass es unmöglich ist, eine Aussage zum Anteil der Minderheit an der osteuropäischen Migrantenpopulation zu treffen außer, dass er nur klein sein kann. Benz kommt auf die geringen Anteile bereits der jeweiligen nationalen Gesamtgruppen osteuropäischer Zuwanderer zu sprechen. Der schrill beklagte "massenhafte Asylmissbrauch", der sich aus dem Osten Europas in die Sozialsysteme "einschleiche", sei als Roma-Migration kodiert. Benz verweist darauf, dass es bei Ungarn, Rumänen oder Bulgaren welcher "ethnischen" Kategorie auch immer stets um Binnenmigration innerhalb der EU geht. Alltagsrassismus ist das egal. Benz wendet sich dem Beispiel Ungarn zu. Er erklärt an konkreten Fällen, warum nicht nur sozioökonomische Gründe, sondern zugleich ein grassierender Rassismus Roma zum Auszug aus dem Land motivieren können.

Menschen verlassen seit der Wende ihre osteuropäische Heimat. Sie hoffen, im gelobten europäischen Westen besser leben zu können, denn zur Transformation der östlichen Verhältnisse gehörten infolge nachhaltiger Struktureingriffe Massenentlassungen, ein dürftiges Sozialsystem und die Schließung von Bildungszugängen für Angehörige der unteren Sozialgruppen, kurz, wachsende Ungleichheit. Verlierer der Wende waren nicht nur, aber doch viele Roma. Aus vielleicht ärmlichen Verhältnissen fielen sie ins definitive Elend. Slums ("Ghettos") entstanden. Freigesetzt bieten Roma, soweit sie nicht in Resignation und Apathie versunken sind, sondern die Kraft zur Auswanderung haben, nun in einer weiten europäischen Freihandelszone ihre Arbeitskraft zu günstigen Konditionen dort an, wo Käufer vielleicht zu finden sein könnten. So wirkten eben, merkt Benz sarkastisch an, "die Gesetze der Marktwirtschaft."

Benz erinnert seine Leser daran, dass Migration ein vergessenes Element sehr vieler mitteleuropäischer mehrheitsgesellschaftlicher Familienbiografien darstellt. Sein etwas abgelegenes, aber eindrucksvolles Beispiel sind die Zehntausende von "Armutszuwanderern" aus dem Osten, nämlich den deutschen Staaten, die zwischen 1830 und 1870 in Paris auftauchten. Diese Ärmsten der Armen - Müllräumer, Lumpensammler, Erdarbeiter - lebten und bewegten sich in einer Parallelgesellschaft, sozial, sprachlich, kulturell in völliger Exklusion. Abgeschoben wurden sie immerhin nicht. Der Beginn des deutsch-französischen Kriegs führte sie zurück oder weiter. Motiv, Anlass und Notwendigkeit solcher und anderer Migrationsbewegungen seien im kollektiven Bewusstsein nicht abgespeichert. Sie verbesserten das Verständnis für heutige Vorgänge nicht.

Benz übersieht hier etwas. Wenn eine Migrationserzählung den Bedürfnissen der herrschenden Politik entsprach, dann formulierte und pflegte die sie, gab ihr Raum und Wertschätzung in der kollektiven Erinnerung, instrumentalisierte sie als geschichtspolitische Ressource. Dafür stehen Topoi wie "Ostkolonisation", "Deutsch-Südwest" oder "Flucht und Vertreibung" der 1950er Jahre. Gemeinsam ist ihnen, die völkisch-nationale Definition von "deutsch". In- oder ausländische Volksfremde waren darin nicht eingeschlossen. Eine weitere ebenfalls nicht untergegangene, tatsächlich bis heute populäre Geschichtserzählung gibt es übrigens, die seit langem Migration aus dem Blick von unten thematisiert. Auch sie wird mit heutigen Migrationsbewegungen nicht verknüpft. Es ist die frühneuzeitliche Geschichte von den Bremer Stadtmusikanten ("Etwas Besseres als den Tod finden wir überall"). Sie entstand in der oralen Kultur der mitteleuropäischen Armutsgesellschaften. Sie fügt sich in kein ethnologisches oder nationales Konzept. Sie ist älter als diese Sichtweisen.

Der langen Tradition der Feindseligkeit gegen Roma "aus Folklore, Literatur, 'Zigeunerforschung' und Alltagsdiskurs" seien, so Benz' Fazit, "Aufklärung und Bildung, Information und Dialog" entgegenzusetzen. Sein Buch ist dazu in jeder Hinsicht ein wertvoller Beitrag. Im Inhalt bietet es einen gelungenen Überblick über die Vielfalt der Themen im Forschungsfeld "Antiziganismus", die in einer für den Leser angenehmen Sprache abgearbeitet werden. Es ist ihm eine breite Rezeption zu wünschen.

Ulrich F. Opfermann